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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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‘Es kafkat und brodelt und werfelt und kischt …’ 11<br />

einander, das dann aber nach der Revolution von 1848 allmählich zu einem<br />

Gegeneinander führte: zur tschechischen Selbstbehauptung gegen die Dominanz<br />

des Deutschen. Zu den Deutschen zählten die Tschechen auch die deutsch<br />

sprechenden Juden, so dass antideutsche Kämpfe durchweg mit antijüdischen<br />

verbunden waren. Die Ausschreitungen gegen deutsch-jüdische Geschäfte in<br />

Prag nach der Badeni-Krise 1897 waren ein traumatisches Erlebnis aller Prager<br />

Juden der Generation von Max Brod, Franz Kafka und Egon Erwin Kisch, die<br />

auf einmal als Heranwachsende spürten, wie brüchig der Boden war, auf dem sie<br />

standen. Erst das österreichische Militär machte den Ausschreitungen ein Ende.<br />

Die Prager deutschen Schriftsteller erlebten also in Prag den Antisemitismus<br />

vor allem als tschechischen, nicht als deutschen, es sei denn, er wurde von den<br />

aus den Sudeten kommenden deutschen Studenten eingeschleppt, die sich in der<br />

Regel mit den tschechischen Studenten prügelten, nachdem 1882 die Universität<br />

in eine deutsche und eine tschechische geteilt worden war. Diese Studenten<br />

beherrschten die deutsche Vereinigung „Concordia“, so dass die deutschen Juden<br />

Prags sich in der ‘Lese- und Redehalle’ trafen, wo auch Max Brod und Franz<br />

Kafka sich kennen lernten.<br />

Viele Juden, die tschechisch sprachen, schlossen sich trotz alledem der<br />

tschechischen nationalen Bewegung an und schickten ihre Kinder auf die neu<br />

entstandenen Gymnasien, so dass hier die Grundlage für den erheblichen Anteil<br />

der Juden an der aufblühenden tschechischen Literatur gelegt wurde. Mehr als<br />

ein Dutzend jüdischer Autoren haben die tschechische Literatur bereichert, die<br />

– wie die Prager deutsche – nach <strong>19</strong>00 eine Blütezeit erlebte, und unter ihnen<br />

sind große Schriftsteller, die sich mit den Prager deutschen durchaus messen<br />

können – die Ausnahme bildet wieder Franz Kafka. Ich nenne: Julius Zeyer,<br />

Richard Weiner, Ivan Olbracht, František Langer, Karel Poláček, Jiří Weil, Jiří<br />

Orten, Egon Hostovský, Ota Pavel, Ludvík Aškenazy, Arnošt Lustig, Ivan Klíma<br />

– in der „Tschechischen Bibliothek“ in deutscher Sprache der DVA, einer Initiative<br />

der Robert Bosch Stiftung, kann man die meisten dieser Autoren kennen<br />

lernen. Freilich haben sie, bis die Nazis kamen, sich nicht als jüdische, sondern<br />

als tschechische Autoren empfunden, und die Tschechen sortieren ihre Autoren<br />

auch heute nicht nach jüdisch und tschechisch. Sie fragen nicht danach. Und das<br />

ist ja ein schönes Zeichen.<br />

Dass die Prager deutschen Schriftsteller auf ihr Judentum gewissermaßen<br />

zurückgeworfen wurden, lag nicht nur an der bisweilen aufgeheizten Situation in<br />

der Stadt. Es lag auch daran, dass sie Teil einer bröckelnden Minderheit waren,

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