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Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

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„Die gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung“ … 103<br />

Wenn wir einen Verlust erleiden, hilft es zu sagen: Wir haben nicht verloren, sondern<br />

wir sind Opfer. Ein Opfer ist etwas Heroisches. 25<br />

Es ist sehr hilfreich, wenn Wörle so ein Wort wie ‘Solidarität’, ‘Barmherzigkeit’<br />

oder ‘Gemeinschaftssinn’ gänzlich fehlt. „Gnade dem, der Mitleid hat!“ 26 Wörle<br />

akzeptiert nicht die Grenzen der Freiheit, das menschliche Leben als Wert. Ich<br />

bin so frei, jemanden auch zu erschlagen. Asozialität und Freiheit haben miteinander<br />

zu tun. Der Gebrauch von Freiheit schließt den Missbrauch immer mit ein.<br />

Wörle handelt aus Langeweile, zu erklären aus dem deformierten Zustand der<br />

Zivilisation.<br />

„Alles, was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüsste nichts, was<br />

mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut“ 27 , war Claudias Devise. „Die<br />

gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung.“ Wem es gelingt, sich damit abzufinden,<br />

dem geht es gut in dieser Zivilisation. Aber der dafür in Gestalt emotionaler<br />

Selbstverstümmelung zu zahlende individuelle Preis ist ungeheuer hoch.<br />

Ein vorzügliches Lebensarrangement hat sich auch der Ingenieur Willenbrock<br />

in dem gleichnamigen Nachwenderoman zurechtgelegt. In der Gegenwart<br />

hat er es geschafft, die Vergangenheit geht ihn nichts mehr an. Und doch gibt es<br />

etwas, was den ausgeglichenen Techniker Willenbrock aus dem Gleichgewicht<br />

bringt: die Diebstähle auf seinem Autohof, die Einbrüche in sein Haus. Nicht<br />

die Angriffe auf sein Eigentum erschüttern ihn. Was ihm aus den Fugen gerät,<br />

ist das Vertrauen in eine Grundübereinkunft, die zu den historischen Errungenschaften<br />

der Zivilisation gehört: dass der einzelne, der ein Unrecht erlitten hat,<br />

die Garantie erhält, dass der Staat den Rechtsbruch ahndet, dadurch die Interessen<br />

der Geschädigten vertritt und die verletzte Ordnung wiederherstellt. In<br />

der Modellierung seiner Figur Willenbrock macht Hein einen gesellschaftlich<br />

schwer greifbaren Prozess sichtbar, der über viele Zwischenschritte zur Aufkündigung<br />

dieser zivilisatorischen Grundübereinkunft führt. Nichts hat Willenbrock<br />

prädestiniert, eines Tages zum Anhänger gewalttätiger Vergeltung zu werden.<br />

Er legt sich eine fabrikneue Smith & Wesson (300 DM) zu, und die entwickelt<br />

ein merkwürdiges Eigenleben, je länger er sie herumträgt. Hein zeichnet das<br />

Bild eines Erosionsprozesses, der die zivilisatorische Errungenschaft Rechtsordnung<br />

im Zeichen allseits geschürter Kriminalitätshysterie zu erfassen beginnt.<br />

25<br />

Ebd., S. 159.<br />

26<br />

Gespräch mit Christoph Hein. In: Hammer (Hg.): Chronist ohne Botschaft, S. 29.<br />

27<br />

Hein: Der fremde Freund, S. 212.

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