22.11.2013 Aufrufe

Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

Colloquia Germanica Stetinensia Nr 19

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

„Die gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung“ … 101<br />

[...] das perfekte Neutrum. Die Tötung erfolgte zwar in aller Öffentlichkeit,<br />

dennoch war ich erstaunt, dass sein plötzliches Verschwinden so rasch bemerkt<br />

wurde. 21<br />

Der Roman ist eine Lebensbeichte als Sprachkunstwerk in einer stupenden<br />

Mischung aus zynischen Apercus, Selbstdarstellung und einer egozentrischen<br />

Lebensphilosophie, des Spiels, die ihre Vorbilder nicht verleugnet. Er ist eine Art<br />

westdeutscher Erfolgsgeschichte: Wörle als kindlicher Verführer der väterlichen<br />

Arbeiterinnen, als Organisator eines florierenden Briefmarkenhandels in der<br />

Schule, als junger Anwalt in der Kleinstadt, als Graue Eminenz der Westberliner<br />

Politik, als begnadet-perfekter Billardspieler. Je erfolgreicher er ist, umso groteskere<br />

Herausforderungen sucht er. Alle Spielzüge plant er im Billardzimmer<br />

seines Sylter Ferienhauses.<br />

Heins Grundeinfall: Das Leben als pures Spiel mit immer höherem Einsatz.<br />

Die Sucht nach dem immer Neuen, die durch Erfüllung nicht befriedigt, sondern<br />

nur auf neue Objekte gelenkt wird, taugt zur Metapher für den Alltag einer durch<br />

alternative Ideologien nicht länger gebändigten Industriegesellschaft. Die Wörlesche<br />

Lebenschronik gerät passagenweise zur modellhaften Chronik der letzten<br />

50 Jahre. Der Ich-Erzähler ist mit kaum noch identifizierbaren Bruchstücken seiner<br />

eigenen Biographie ausgestattet. Er hat die Technik der Rollenprosa perfektioniert.<br />

Wo bei Claudia im Fremden Freund und Spodeck in Horns Ende noch<br />

zwischen den irritierend-kompromisslosen Figuren-Standpunkten die Moral des<br />

Autors hervorblitzte, passt hier das Zyniker-Kostüm wie maßgeschneidert. Erinnerungen<br />

und Ausblicke reduzieren sich auf den Überdruss am Bekannten und<br />

die Angst vor der Wiederholung. Hoffnung oder gar Utopie kommen nicht mehr<br />

vor; die Dimension der Geschichte ist weggebrochen.<br />

Mit der immer wiederholten These, seine Figuren seien Warn- oder Provokationsfiguren,<br />

will Hein nichts zu tun haben. Im Napoleonspiel könnte es<br />

um einen Vergleich zwischen ‘offener’ und ‘geschlossener’ Gesellschaft gehen<br />

und was das für den einzelnen bedeuten könnte. Man muss in einer ‘offenen<br />

Gesellschaft’ mit ihren Freiheiten nicht unbedingt glücklicher sein als in einer<br />

‘geschlossenen’ (und hier stimme ich mit Hein nicht überein). Die DDR als<br />

‘geschlossene’ Gesellschaft mit den vielen einzuhaltenden Spielregeln war so<br />

etwas wie ein großer Abenteuerspielplatz. Die gegebenen Verhältnisse provo-<br />

21<br />

Christoph Hein: Das Napoleonspiel. Ein Roman. Berlin, Weimar <strong>19</strong>93, S. 134.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!