Ernährung in der Schule - Universität Paderborn
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Fachwissenschaftliche Analyse von <strong>Ernährung</strong>sthemen <strong>in</strong> Schulbüchern<br />
Univ.-Prof. Dr. Helmut Heseker, <strong>Universität</strong> Pa<strong>der</strong>born<br />
E<strong>in</strong>leitung<br />
Da Lehrer und Lehrer<strong>in</strong>nen häufig nicht über die für die Unterrichtung von <strong>Ernährung</strong>sthemen<br />
notwendige ernährungswissenschaftliche Qualifikation verfügen, s<strong>in</strong>d sie <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em Maße<br />
auf fachlich richtige, qualitativ hochwertige Schulbücher angewiesen.<br />
Schulbücher haben e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e wichtige Multiplikatorenfunktion und weisen an<strong>der</strong>erseits<br />
e<strong>in</strong>e lange Lebensdauer auf. Daher wird von Schulbüchern verlangt, dass<br />
• aus <strong>der</strong> Wissensfülle e<strong>in</strong>es Faches e<strong>in</strong>e lehrplanbezogene Themenauswahl getroffen wurde.<br />
• die ausgewählten und dargestellten Inhalte den aktuellen Stand <strong>der</strong> jeweiligen Wissenschaftsdiszipl<strong>in</strong><br />
korrekt wi<strong>der</strong>spiegeln (Wissenschaftsorientiertheit).<br />
• die oft komplexen wissenschaftlichen Zusammenhänge didaktisch reduziert s<strong>in</strong>d.<br />
• neue methodisch-didaktische Aspekte berücksichtigen.<br />
Die Realisierung <strong>der</strong> o.g. Anfor<strong>der</strong>ungen wird durch äußere Rahmenbed<strong>in</strong>gungen zunehmend<br />
erschwert. So hat sich <strong>der</strong> Wissenszuwachs im letzten Jahrhun<strong>der</strong>t zunehmend beschleunigt,<br />
so dass z.B. <strong>in</strong> den Naturwissenschaften e<strong>in</strong>e Verdoppelung des Wissens <strong>in</strong> immer kürzeren<br />
Abständen stattf<strong>in</strong>det. Die <strong>Ernährung</strong>swissenschaft ist als relativ junge Diszipl<strong>in</strong> von dieser Progression<br />
<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em Masse betroffen. <strong>Ernährung</strong>sfaktoren werden zunehmend mit <strong>der</strong> Pathogenese<br />
chronischer Erkrankungen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse<br />
<strong>der</strong> <strong>Ernährung</strong>swissenschaft und <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> führen nicht nur zu e<strong>in</strong>em besseren Verständnis<br />
<strong>der</strong> Zusammenhänge und damit zu wirksamen Präventionsmöglichkeiten, son<strong>der</strong>n<br />
gelegentlich auch zur Wi<strong>der</strong>legung von lange Zeit für richtig erachteten Hypothesen.<br />
Dies führt z.B. auch dazu, dass Empfehlungen für die tägliche Nährstoffzufuhr und daraus abgeleitete<br />
<strong>Ernährung</strong>richtl<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> regelmäßigen Abständen überprüft und gegebenenfalls revidiert<br />
werden müssen (DGE et al., 2000). H<strong>in</strong>zu kommt, dass - an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> exakten naturwissenschaftlichen<br />
Diszipl<strong>in</strong>en - <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Ernährung</strong>swissenschaft valide Untersuchungsergebnisse<br />
auf Grund <strong>der</strong> großen Variabilität und <strong>der</strong> multifaktoriellen Bee<strong>in</strong>flussung viel schwieriger zu<br />
erzielen s<strong>in</strong>d und e<strong>in</strong>er Absicherung durch zusätzliche Studien bedürfen. E<strong>in</strong>zelbefunde s<strong>in</strong>d oft<br />
wenig aussagekräftig. Gelegentlich s<strong>in</strong>d Befunde sogar wi<strong>der</strong>sprüchlich o<strong>der</strong> alte Aussagen<br />
werden als Dogmen entlarvt.<br />
Beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> ernährungsepidemiologischen Untersuchungen werden neue Hypothesen z.B.<br />
über die präventive Bedeutung e<strong>in</strong>es Nahrungs<strong>in</strong>haltsstoffes generiert, die sich allerd<strong>in</strong>gs zunächst<br />
nur auf korrelative Zusammenhänge stützen. Bevor <strong>der</strong>artige Beobachtungen bei <strong>der</strong><br />
Formulierung e<strong>in</strong>er <strong>Ernährung</strong>sempfehlung berücksichtigt werden dürfen, ist zunächst die Kausalität<br />
im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Evidence-based-medic<strong>in</strong>e durch weitere, aussagekräftige Studien zu belegen.<br />
Wirkmechanismen s<strong>in</strong>d mit Hilfe <strong>der</strong> Biochemie und <strong>der</strong> Molekularbiologie aufzuklären und<br />
die Wirksamkeit ist <strong>in</strong> gut kontrollierten kl<strong>in</strong>ischen Studien zu belegen. Schulbücher und an<strong>der</strong>e<br />
Unterrichtsmaterialien haben es aus den genannten Gründen beson<strong>der</strong>s schwer, mit <strong>der</strong> aufgezeigten<br />
Entwicklung h<strong>in</strong>reichend Schritt zu halten, um nicht als veraltet, überholt und unvollständig<br />
zu gelten. Daher wird auch von den Schulbuchautoren/<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong> hohes Maß an fachwissenschaftlicher<br />
und fachdidaktischer Kompetenz verlangt.<br />
Material und Methoden<br />
In <strong>der</strong> vorliegenden Analyse wurden Bücher <strong>der</strong> Unterrichtsfächer bzw. Lernbereiche Sachunterricht,<br />
Biologie, Hauswirtschaft, Arbeitslehre, <strong>Ernährung</strong>slehre, Gesundheitserziehung berücksichtigt.<br />
Diese wurden überwiegend mit Hilfe <strong>der</strong> von den e<strong>in</strong>zelnen Bundeslän<strong>der</strong>n bzw. Bezirksregierungen<br />
für die verschiedenen Schultypen genehmigten Schulbuchlisten bzw. -katalogen<br />
ermittelt. Es werden <strong>in</strong>sgesamt die aktuellen Auflagen von 388 Schulbüchern und vergleichend<br />
88 ältere Schulbücher analysiert.
Ergebnisse <strong>der</strong> Schulbuchanalyse<br />
Die fachwissenschaftlichen Analyse zeigte sich, dass <strong>Ernährung</strong>sthemen <strong>in</strong> Schulbüchern erschreckend<br />
häufig fehlerhaft dargestellt werden. Schwerwiegende <strong>in</strong>haltliche Mängel bestehen<br />
vor allem bei <strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong> Ursachen ernährungsabhängiger Krankheiten. Weiter f<strong>in</strong>den<br />
sich <strong>in</strong> großer Zahl kle<strong>in</strong>ere Mängel wie z.B. Verwendung von veraltetem Datenmaterial, ungenaue,<br />
irreführende o<strong>der</strong> stark e<strong>in</strong>seitige Angaben. E<strong>in</strong>e Auswertung <strong>der</strong> zahlreichen falschen,<br />
irreführenden o<strong>der</strong> stark e<strong>in</strong>seitigen Darstellungen läßt e<strong>in</strong>ige Fehlerschwerpunkte erkennen.<br />
Erstaunlicherweise s<strong>in</strong>d die Darstellungen über Vitam<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>s fehlerträchtig. In den untersuchten<br />
Schulbüchern fanden sich 156 Behauptungen bzw. Darstellungen über Vitam<strong>in</strong>e, die<br />
aus fachwissenschaftlicher nicht korrekt s<strong>in</strong>d. Bei <strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong> Verbreitung, Ursachen<br />
und Folgen ernährungsabhängiger Krankheiten s<strong>in</strong>d den Schulbuchautoren/<strong>in</strong>nen ebenfalls<br />
zahlreiche Fehler unterlaufen.<br />
Beson<strong>der</strong>s gravierend s<strong>in</strong>d fehlerhafte Darstellungen wie:<br />
• „Fast-Food führt zu Gesundheitsstörungen“, [ Es gibt ke<strong>in</strong>e wissenschaftlichen Studien,<br />
<strong>in</strong> denen diese Hypothese bestätigt wurde.]<br />
• „Zuckerkonsum führt zu Pilz<strong>in</strong>fektionen im Darm“ [ E<strong>in</strong> kausaler Zusammenhang zwischen<br />
Zuckerkonsum und Pilz<strong>in</strong>fektionen konnte <strong>in</strong> wissenschaftlichen Studien nicht belegt werden.]<br />
• „Diabetes mellitus wird durch Zuckerkonsum ausgelöst“, [ Diabetes mellitus wird nicht<br />
durch Zuckerkonsum ausgelöst.]<br />
• „hohe Prote<strong>in</strong>zufuhr führt zu Gicht“ [Am<strong>in</strong>osäuren werden nicht <strong>in</strong> Pur<strong>in</strong>e und Harnsäure<br />
umgebaut und führen auch nicht zu Gicht o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Stoffwechselerkrankungen.<br />
Auch besteht ke<strong>in</strong>e kausale Beziehung zwischen <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Prote<strong>in</strong>zufuhr und dem<br />
Gichtrisiko.]<br />
• „Zucker ist e<strong>in</strong> Vitam<strong>in</strong>räuber“ [Diese Behauptung ist aus biochemischer Sicht falsch.<br />
Bei <strong>der</strong> Verstoffwechselung von Saccharose und an<strong>der</strong>en Kohlenhydraten werden die Vitam<strong>in</strong>e<br />
nicht verbraucht. Der Begriff „Räuber“ ist irreführend.]<br />
• „Zu viel tr<strong>in</strong>ken ist ungesund und belastet.“ [ E<strong>in</strong>e hohe Flüssigkeitsaufnahme führt zu<br />
ke<strong>in</strong>erlei Gesundheitsschäden und belastet auch nicht.]<br />
Fehlerhafte Angaben über e<strong>in</strong>zelne Lebensmittel o<strong>der</strong> über Nährstoffangaben s<strong>in</strong>d teilweise auf<br />
die Verwendung veralteten Datenmaterials zurückzuführen. Als E<strong>in</strong>zellebensmittel ist <strong>der</strong> Zucker<br />
beson<strong>der</strong>s häufig (n=54) von fehlerhafte Darstellungen betroffen.<br />
Insgesamt ist festzustellen, dass viele <strong>der</strong> populären <strong>Ernährung</strong>sirrtümer offenbar über Schulbücher<br />
verbreitet werden. Fehlerhafte Darstellungen <strong>in</strong> dieser Quantität und Qualität waren bei<br />
<strong>der</strong> Skizzierung des Projekts nicht erwartet worden. Die vorliegende Analyse läßt e<strong>in</strong>en dr<strong>in</strong>genden<br />
Handlungsbedarf erkennen.<br />
Auswertung <strong>der</strong> Literaturverzeichnisse<br />
Literaturverzeichnisse deuten – soweit überhaupt vorhanden – auf wichtige Gründe für das große<br />
Ausmaß fehlerhafter Darstellungen h<strong>in</strong>. So ist bei e<strong>in</strong>er Auswertung <strong>der</strong> verwendeten Literaturquellen<br />
festzustellen, dass<br />
• die Literaturquellen fast immer veraltet s<strong>in</strong>d. Auch <strong>in</strong> aktuellen Neuauflagen f<strong>in</strong>den sich häufig<br />
ke<strong>in</strong>e Literaturstellen, die nach 1990 publiziert wurden. In e<strong>in</strong>igen Büchern wurden zwar<br />
neue Auflagen zitiert. E<strong>in</strong>e systematische Überarbeitung veralteter Zahlen und Fakten hat<br />
aber offenbar nicht stattgefunden.<br />
• sehr häufig ausschließlich Sekundär- und Tertiärliteratur zitiert wird. Nicht selten werden<br />
umfangreichere, allerd<strong>in</strong>gs fehlerbehaftete Schulbücher als Quellen angeführt.<br />
• selbst populärwissenschaftliche Bücher ohne seriösen wissenschaftlichen Anspruch als<br />
Literaturquelle dienen.<br />
• die fachwissenschaftliche Primärliteratur und Übersichtsartikel, die den State-of-the-Art wi<strong>der</strong>spiegeln,<br />
nicht berücksichtigt werden.<br />
2
3<br />
Schlußfolgerungen<br />
Empfehlungen für die Schulbuchautoren<br />
Durchführung folgen<strong>der</strong> qualitätssichernde Maßnahmen:<br />
• nur durch wissenschaftliche Studien belegte Fakten darstellen; wissenschaftliche Analyse<br />
<strong>der</strong> dargestellten Zusammenhänge.<br />
• Berücksichtigung <strong>der</strong> aktuellen Primärliteratur.<br />
• bei Sekundärliteratur: nur die neuesten Auflagen <strong>der</strong> nationalen und <strong>in</strong>ternationalen Standardwerke<br />
verwenden.<br />
• als Literaturquellen werden häufig an<strong>der</strong>e Schulbücher verwendet, die häufig fehlerhaft s<strong>in</strong>d.<br />
• ke<strong>in</strong>e Tertiärliteratur, wie z.B. an<strong>der</strong>e Schulbücher o<strong>der</strong> sonstige Bücher aus dem nichtwissenschaftlichen<br />
Bereich (z.B. Bücher von Pollmer) verwenden.<br />
• Fort- und Weiterbildungsangebote nutzen.<br />
• ggfs. zusätzliche Experten konsultieren.<br />
• Neuauflagen nur zustimmen, wenn dies mit e<strong>in</strong>er Überarbeitung verbunden ist.<br />
Empfehlungen für Schulbuchverlage<br />
• verantwortungsvolles, qualifiziertes fachwissenschaftiches Lektorat e<strong>in</strong>setzen.<br />
• Rezension <strong>der</strong> Manuskripte gegebenenfalls durch externe Experten.<br />
• Neuauflagen nur, wenn dies mit e<strong>in</strong>er wirklichen Überarbeitung verbunden ist.<br />
• neben e<strong>in</strong>er mediz<strong>in</strong>ischen ist auch e<strong>in</strong>e ernährungswissenschaftliche Fachberatung erfor<strong>der</strong>lich.<br />
Empfehlung an die <strong>Ernährung</strong>swissenschaft<br />
• Def<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong>es Katalogs (Kerncurriculum) mit wichtigen <strong>Ernährung</strong>s- und Gesundheitsthemen<br />
für den Unterricht.<br />
• Def<strong>in</strong>ition von Standards; Darstellung dieser Standards im Internet.<br />
• Spezielle Fort- und Weiterbildungsangebote für Lehrer/<strong>in</strong>nen anbieten, wie dies seit Jahren<br />
für Journalisten praktiziert wird.<br />
Empfehlungen für die politisch Verantwortlichen<br />
• spezielle Fort- und Weiterbildungsangebote für Schulbuchautoren/<strong>in</strong>nen <strong>in</strong>itiieren und unterstützen<br />
(z.B. durch DGE, BzgA, AID).<br />
• stärke Kontrolle <strong>der</strong> Fachaufsicht bei <strong>der</strong> Zulassung von Schulbüchern <strong>in</strong> den Bundeslän<strong>der</strong>n,<br />
ggfs. unter H<strong>in</strong>zuziehung von Experten.<br />
• <strong>der</strong> rasche Wissensfortschritt erfor<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e schnellere Erneuerung <strong>der</strong> Schulbücher <strong>in</strong> den<br />
<strong>Schule</strong>n.