POLARKREIS - FAZ.net
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D-45958 Januar 2013 Nr. 124 1,40 Euro www.hochschulanzeiger.de Die Meilen-Maschine Wie Studenten das Auto von morgen erfinden➻ 38 CAMPUS HINTERM POLARKREIS Wer an der nördlichsten Uni der Welt in Tromsø studiert, will nicht mehr weg. Wir verraten, warum ➻ 8 Absolute Beginner „Hallo, ich bin neu hier.“ Fünf Ge schichten über die ersten Monate im Job ➻ 32 ROCKSTARS FÜR MINUTEN Die unglaubliche Geschichte der Musiksendung „Balcony TV“ ➻ 20 In Kooperation mit
- Seite 2 und 3: www.faz.net Dahinter steckt immer e
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D-45958 Januar 2013 Nr. 124 1,40 Euro www.hochschulanzeiger.de<br />
Die Meilen-Maschine<br />
Wie Studenten das Auto<br />
von morgen erfinden➻ 38<br />
CAMPUS HINTERM<br />
<strong>POLARKREIS</strong><br />
Wer an der nördlichsten Uni der Welt in<br />
Tromsø studiert, will nicht mehr weg.<br />
Wir verraten, warum ➻ 8<br />
Absolute Beginner<br />
„Hallo, ich bin neu hier.“ Fünf Ge schichten<br />
über die ersten Monate im Job ➻ 32<br />
ROCKSTARS FÜR MINUTEN<br />
Die unglaubliche Geschichte der<br />
Musiksendung „Balcony TV“ ➻ 20<br />
In Kooperation mit
www.faz.<strong>net</strong><br />
Dahinter steckt<br />
immer ein kluger Kopf.<br />
Helmut Schmidt
FOTOS: CORBIS (COVER), NATALIE BOTHUR (EDITORIAL), PLAINPICTURE; ILLUSTRATION: SYLVIA NEUNER<br />
IMPRESSUM<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
haben Sie viele Vorsätze der letzten Silvesternacht schon<br />
wieder gebrochen? Nicht so schlimm – denn das Jahr ist noch<br />
jung, und jetzt ist ein guter Zeitpunkt, einen Neuanfang zu wa-<br />
gen. Wir haben mit Studierenden gesprochen, die seit Kurzem<br />
keine mehr sind: mit Jobanfängern, die uns nach den ersten<br />
Monaten verraten haben, wie sich das Arbeitsleben für sie anfühlt.<br />
Die dunklen Wintertage sind aber auch ein guter Zeit-<br />
punkt zum Feiern. Unsere Autorin Constanze Kindel schreibt<br />
in ihrer Reportage ab Seite 26 über Professoren, die in Clubs<br />
auflegen und dabei mindestens so viel Spaß haben wie ihre Studierenden<br />
auf der Tanzfläche. Kindel traf während ihrer Recherche<br />
unter anderem einen Dozenten aus Schweden, der Stu-<br />
dierende zum Feiern in seine Berliner Wohnung einlud. 200<br />
Leute kamen. Die Polizei auch. Und zwar mit Mannschaftswa-<br />
gen. Der Vermieter dachte gar, es gäbe ein Geiseldrama. In<br />
Schweden ist man eben ein lockeres Verhältnis zwischen Stu-<br />
dierenden und Lehrenden gewohnt. Hoch im Norden spielt<br />
auch unsere Reportage aus Tromsø. Acht Wochen lang geht in<br />
der Stadt mit der nördlichsten Uni der Welt die Sonne gar nicht<br />
auf. Die Einheimischen sagen über ihr extremes Klima: „Acht<br />
Monate Winter. Vier Monate schlechte Skiverhältnisse.“ Das<br />
ist doch mal eine lässige Haltung. Wir freuen uns auf ein super<br />
Jahr – und hoffen, Sie auch. Willkommen in 2013!<br />
ANDREAS TAZL<br />
EDITORIAL<br />
PS: Wir freuen uns übrigens sehr über Ihr Feedback. Hat<br />
Ihnen etwas besonders gut gefallen, oder gibt es ein Thema,<br />
über das Sie gern mehr erfahren wollen? Dann schreiben Sie<br />
uns: redaktion@hochschulanzeiger.de<br />
16 Was wäre, wenn wir Geld bekämen, ohne<br />
dafür zu arbeiten? Ein afrikanisches Dorf testet<br />
das bedingungslose Grundeinkommen.<br />
20 Mach mal lauter: Warum die Zukunft des<br />
Musikfernsehens auf einem Hamburger Balkon beginnt.<br />
„Hier können auch Bachelor-<br />
Studierende eine Woche lang auf ein<br />
Forschungsschiff. Davon kann man<br />
in Deutschland nur träumen.“<br />
8 Benjamin Merkel, 24, studiert in Tromsø Biologie.<br />
Dort gibt es Temperaturen wie im Kühlschrank und<br />
Studien bedingungen wie im Himmel.<br />
VERLAG: Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Hellerhofstraße 2–4, 60327 Frankfurt; zugleich ladungsfähige Anschrift für die im Impressum genannten Verantwortlichen und Vertretungsberech tigten GESCHÄFTSFÜHRUNG:<br />
Tobias Trevisan (Sprecher), Dr. Roland Gerschermann REDAK TIONSLEITER: Andreas Tazl, V. i. S. d. P. TEXTCHEF: York Pijahn VERANTWORTLICH FÜR ANZEIGEN: Andreas Formen (Verlagsgeschäftsführer) AU-<br />
TOREN: Uta Bangert, Franziska Bulban, Serge Debrebant, Michaela Gerganoff, Daniel Haas, Jenny Hoch, Daniel Kastner, Constanze Kindel, Gunthild Kupitz, Nadine Lischick, Gabriele Meister, Sarah Mously, York Pijahn, Cornelia<br />
Stolze, Aileen Tiedemann BILDREDAKTION: Kay Wolters FOTO GRAFEN: Natalie Bothur, Frank Egel, Maurice Etoile, Karl Anton Koenigs, Frizzi Kurkhaus, Sebastian Pfütze, Kimm Saatvedt, Volker Schrank, Gulliver Theis<br />
ILLUSTRATION: Sylvia Neuner (S. 3, 16), Matthias Seifarth (S. 19, 31) BILDNACHWEIS: Titel: Corbis; Editorial: Seite 3, Fotos: Natalie Bothur, Plainpicture, Illustration: Sylvia Neuner; Campus: Seite 6–7, Fotos: Laif, Pla<strong>net</strong> Photos<br />
Ltd., privat; Tromsø: Seite 8–13, Fotos: Kimm Saatvedt; Mensa-Battle: Seite 14–15, Fotos: Maurice Etoile, Frizzi Kurkhaus; Geld für alle: Seite 16–17, Illustration: Sylvia Neuner; Leben: Seite 18–19, Fotos: PR, Plainpicture; Balcony TV:<br />
Seite 20–23, Fotos: Frank Egel; Professor Urknall: Seite 24–25, Fotos: ProSiebenSat.1 Media AG, Greg Gayne, Collage: Frizzi Kurkhaus; Mein Prof ist ein DJ: Seite 26–29, Fotos: Karl Anton Koenigs; Karriere: Seite 30–31, Fotos: A-way,<br />
Plainpicture, privat, Illustration: Matthias Seifarth; Absolute Beginner: Seite 32–37, Fotos: Sebastian Pfütze, Gulliver Theis; Autoerfinder: Seite 38–40, Fotos: Volker Schrank; Fakten: Seite 42–44, Fotos: iStockphoto, Corbis, dpa<br />
Picture-Alliance; Mein letztes Mal: Seite 46, Foto: privat LAYOUT: Frizzi Kurkhaus LEKTORAT: SKH SprachKontor Hamburg GmbH, www.sprachkontor.de HERSTELLUNG: Westdeutsche Verlags- und Druckerei GmbH,<br />
Kurhessen straße 4–6, 64546 Mörfelden-Walldorf, www.wvd-online.de VERTRIEB: Frank furter Allgemeine Zeitung GmbH ANSCHRIFT: Frank furter Allgemeine Zeitung GmbH, Heller hofstraße 2–4, 60327 Frankfurt; Redaktion: Telefon<br />
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7591-3400; E-Mail stellenmarkt@faz.de. Der F. A. Z. Hochschulanzeiger erscheint sechsmal im Jahr. Alle in ihm enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahme der gesetzlich zugelassenen<br />
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Freiheit und Recht der Presse: Gesellschafter der Frankfurter Allge meine Zeitung GmbH sind <strong>FAZ</strong>IT-Stiftung Gemeinnützige Verlagsgesellschaft mbH, Frankfurter All gemeine Zeitung GmbH, Werner D’Inka, Berthold Kohler,<br />
Günther Nonnenmacher, Frank Schirrmacher, Holger Steltzner.
CAMPUS<br />
6 Meldungen: Klüger werden mit Vulkaniern,<br />
endlich Ostfriesen verstehen, ein Anruf in Buenos Aires<br />
8 Der Campus am Ende der Welt: Rentiere, Moonboots, Polarlichter.<br />
Studieren im norwegischen Tromsø<br />
14 Mit dem Essen spielen: Ein Student macht aus Mensa-Gerichten Kunst<br />
16 Geld für alle: Ein Dorf testet das bedingungslose Grundeinkommen<br />
LEBEN<br />
18 Meldungen: Ausgehen in London, lässige Bärte gegen Kälte<br />
und die Rückkehr des Gettoblasters<br />
20 Du hast drei Minuten: Das Musikfernsehen von morgen<br />
entsteht heute auf einem Hamburger Balkon<br />
24 „Big Bang Theory“: Hinter den Kulissen der Sitcom sorgt<br />
ein Physikprofessor für den Faktencheck. Wir haben ihn angerufen<br />
KARRIERE<br />
30 Meldungen: Bei Frank Elstner lernen, nach dem Praktikum<br />
nicht vergessen werden und Tipps für Jobs in der Autoindustrie<br />
32 Absolute Beginner: Fünf Jobanfänger erzählen von den ersten Monaten im Beruf<br />
38 Der schluckt fast nix: Studierende bauen ein Zukunftsauto<br />
42 Bits und Bytes: 16 Fakten über die IT-Branche<br />
45 Recruiting-Events plus neue Apps für Handy und iPad<br />
46 Mein letztes Mal: Die letzten Tage ohne Baby<br />
HOCHSCHUL<br />
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4
Helfen Sie der Natur<br />
auf den grünen Ast.<br />
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FERNGESPRÄCH<br />
Ein Anruf in<br />
Buenos Aires<br />
„Auf dem Foto bin ich in den Salinas Grandes, einem<br />
ausgetrock<strong>net</strong>en Salzsee auf 3.800 Metern Höhe, der<br />
wie eine weiße Wüste aussieht. Das ist zwar eine ziemliche<br />
Reise von Buenos Aires aus, der Stadt, in der ich<br />
studiere –, aber der Trip, bei dem dieses Bild entstanden<br />
ist, hat sich total gelohnt. Buenos Aires ist überhaupt<br />
nicht so, wie man sich südamerikanische Metropolen<br />
vorstellt, sondern eher europäisch, mit vielen<br />
Altbauten und breiten Alleen. Meine Vierzimmerwohnung,<br />
die ich mir mit dem Architekten Peto teile, liegt<br />
in einer Gegend der Stadt, die man das ‚Paris Amerikas‘<br />
nennt – wegen der vielen eleganten Gebäude, die<br />
meisten mit Portier. Wir wohnen für 450 Euro Miete in<br />
einer kleinen Villa im Kolonialstil. Zur Uni fahre ich<br />
mit dem Bus, der ist verlässlicher als die U-Bahn, die<br />
ständig bestreikt wird. Akademisch gesehen ist die Uni<br />
UCES keine große Herausforderung: Ich habe nur fünf<br />
Vorlesungen pro Woche. Vieles kenne ich schon von<br />
meinem Studium in Hamburg. Vor meinem Auslandssemester<br />
hatte ich darauf gehofft, viel mit meinen argentinischen<br />
Mitstudierenden auszugehen. Das ist<br />
aber gar nicht so einfach, weil die meisten neben dem<br />
Studium arbeiten. Daher unternehme ich viel mit anderen<br />
Austauschstudierenden und mit den argentinischen<br />
Koordinatoren. Gemeinsam veranstalten wir sogenannte<br />
Asados, das sind Grillabende, bei denen stundenlang<br />
Fleisch in allen Variationen gegessen wird.<br />
Zweimal in der Woche gehe ich mit einem Kumpel in<br />
Milongas – Tanzkneipen, in denen man zunächst Tango<br />
beigebracht bekommt, bevor dann alle – Profis und<br />
Amateure – auf die Tanzfläche gehen. Berührungsängste<br />
legt man hier sehr schnell ab. Die Menschen<br />
sind viel lockerer und extrovertierter. Im Bus wird ins<br />
Handy gebrüllt, um den Nachbarn zu übertönen, Partys<br />
dauern bis in den frühen Morgen, und sogenannte Piropos<br />
gehören zum Umgangston. Es ist völlig normal, zu<br />
hübschen Frauen ‚Oh, was für eine Schönheit!‘ oder<br />
‚Schöner Po‘ zu sagen, ohne aufdringlich zu wirken.<br />
Was mir nicht so gefällt? Das langsame Tempo im Alltag.<br />
Im Supermarkt eine ganze Stunde lang an der Kassenschlange<br />
zu warten. Argentinier sind da viel stressresistenter.<br />
Das kommt mir manchmal vor wie eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.<br />
Kein Wunder, fünfzig<br />
Prozent der Menschen, die in der Stadt leben, sind Regierungsangestellte.<br />
Ich glaube, ich habe hier vor allem<br />
eines gelernt: Geduld zu haben.“<br />
FLAGGE ZEIGEN IN DEN ANDEN:<br />
MERLIN HEYMANN, 21, studiert im<br />
fünften Semester Wirtschaftsingenieurwesen<br />
an der Nordakademie<br />
in Hamburg – ein Jahr lang ist er an<br />
der Uni von Buenos Aires.<br />
STADTZENTRUM VON<br />
BUENOS A I RES .<br />
„Trotz moderner Medien benutzen<br />
wir immer noch Unterrichtsmethoden<br />
wie vor 1.000 Jahren.<br />
Dabei sollte Unterricht wie ein<br />
guter Film funktionieren.“<br />
SEBAS T IAN T H RUN, 45,<br />
GRÜNDER DER ONLINE-U N I U D ACITY<br />
Von Vulkaniern lernen<br />
Auch Zeitreisen sollten<br />
pünktlich anfangen,<br />
findet Dr. Hubert<br />
Zitt. Normalerweise<br />
lehrt der Dozent technische<br />
Informatik an<br />
der Fachhochschule<br />
Kaiserslautern in<br />
Zweibrücken. Noch<br />
lieber reist der Science-Fiction-Fan<br />
aber<br />
mit seinen von ihm erfundenen<br />
Star-Trek-<br />
Vorlesungen durchs<br />
Land. Und da kann es<br />
passieren, dass sich der Beginn so einer Veranstaltung wegen des Andranges<br />
mal wieder verzögert, zumal das Publikum oft kostümiert<br />
erscheint. Doch wenn alle Klingonen, Vulkanier, Andorianer und<br />
Nausicaaner Platz genommen haben, geht es zur Sache, und Dr. Zitt<br />
erklärt zum Beispiel die physikalischen Hintergründe sogenannter<br />
temporaler Paradoxien. Denn genau das sind Zeitreisen, die in Literatur,<br />
Film und Fernsehen zu fantastischen Abenteuern führen. Wo<br />
und wann Hubert Zitt 2013 über die realen wissenschaftlichen Möglichkeiten<br />
und technischen Voraussetzungen von Warp-Antrieb und<br />
Fusionsreaktoren referiert, veröffentlicht er online unter http://<br />
star trekvorlesung.fh-kl.de. Ein Highlight steht schon fest: Rechtzeitig<br />
zur neuen Kinopremiere des neuen Star-Trek-Filmes findet in<br />
Düsseldorf vom 9. bis zum 12. Mai Europas größtes Treffen der Sci-<br />
Fi-Fans statt, die FedCon 22. Von Zitt wird dort zu hören sein, wie<br />
Star Trek die Welt verändert hat. www.fedcon.de<br />
HOCHSCHUL<br />
ANZEIGER<br />
6
G U N T H I L D K U P I T Z<br />
ALLE ZU MIR<br />
EIN HURRA AUF DIE ORCHIDEENFÄCHER. DIESMAL MIT<br />
PROF. DR. JARICH HOEKSTRA, PROFESSOR FÜR FRISISTIK IN KIEL.<br />
WIE KOMMT<br />
DAS DA REIN?<br />
FOTOS: LAIF, PLANET PHOTOS LTD., PRIVAT<br />
„In diesem Semester hatten wir elf<br />
Neuanfänger, im letzten Jahr zwölf,<br />
das war schon relativ viel. Die wenigsten<br />
sind mit Friesisch aufgewachsen:<br />
Unsere Studierenden –<br />
insgesamt etwa 25 – kommen von<br />
überall her, auch aus Bayern oder Sachsen.<br />
Wir haben auch immer ein paar amerikanische<br />
Studierende hier am Institut.<br />
Für die meisten ist Friesisch eine Fremdsprache<br />
– für Deutschsprachige etwa genauso<br />
leicht zu lernen wie Dänisch. Zwei dieser friesischen<br />
Mundarten muss jeder im Laufe des Studiums<br />
lernen: Mooring, eine festlandnordfriesische<br />
Mundart, Fering, das auf der Insel Föhr gesprochen<br />
wird, oder Westfriesisch, das in den Niederlanden<br />
gesprochen wird. Es ist natürlich ein Vorteil,<br />
wenn man die Sprache schon mal gehört hat,<br />
zum Beispiel oft Urlaub gemacht hat auf den nordfriesischen<br />
Inseln.<br />
Friesisch ist eine Minderheitensprache und<br />
teilweise stark bedroht. Das Westfriesische steht<br />
noch relativ gut da: 400.000 Sprecher – immerhin<br />
mehr als Isländisch –, eine blühende Literatur, den<br />
ganzen Tag Radio auf Friesisch … Ostfriesisch<br />
wurde früher im ganzen Gebiet zwischen Ems und<br />
Weser gesprochen – heute nur noch von höchstens<br />
2.000 Menschen im Saterland, das aus drei Dörfern<br />
westlich von Oldenburg besteht.<br />
Das Nordfriesische, das an der Westküste<br />
Schleswig-Holsteins gesprochen wird und in unserem<br />
Studiengang Schwerpunkt ist, hat rund<br />
10.000 Sprecher und zehn unterschiedliche<br />
Der Fluch mit dem Buch<br />
Das hat gerade noch gefehlt: Der Abgabetermin für<br />
die Hausarbeit steht kurz bevor, die Zeit ist ohnehin<br />
schon knapp, und dann ist ausgerech<strong>net</strong> auch noch<br />
ein ganz dringend benötigtes Fachbuch aus der Bibliothek<br />
entliehen. Wer tatsächlich auf den letzten<br />
Drücker spezielle Literatur braucht, dem können<br />
Literatur-Lieferdienste wie subito und GetInfo helfen.<br />
Sie besorgen die Bücher in der Regel innerhalb<br />
Mundarten. Ich selbst bin in den Niederlanden<br />
mit Westfriesisch aufgewachsen.<br />
Als Jugendlicher habe ich die<br />
friesische Literatur entdeckt: Romane,<br />
die mich gefesselt haben und den Vergleich<br />
mit niederländischer Literatur<br />
durchaus aushalten konnten – da habe ich mich<br />
dazu entschieden, Friesisch zu studieren. Das<br />
Fach gibt es in Kiel seit 1972. Als kleiner Fachbereich<br />
können wir die Studierenden leicht einbeziehen<br />
in die Forschung, und sie können das Studium<br />
relativ flexibel gestalten. Auf Wunsch können wir<br />
auch Veranstaltungen außer der Reihe anbieten.<br />
Dieses Semester bieten wir zum Beispiel einen<br />
Kurs in Sölring an, der friesischen Mundart von<br />
Sylt – nur, weil jemand den Wunsch geäußert hat.<br />
Viele unserer Studierenden kombinieren<br />
Frisistik mit einem größeren Fach. Wer aus seinem<br />
Friesisch-Studium seinen späteren Beruf<br />
machen möchte, findet in Deutschland nur wenige<br />
Stellen. In den Niederlanden gibt es natürlich<br />
mehr Möglichkeiten. Einige unserer Studierenden<br />
sind beim Nordfriesischen Institut in Bredstedt<br />
untergekommen oder unterrichten an der<br />
Universität Flensburg, wo man Friesisch als<br />
Schwerpunkt im Lehramtsstudium Germanistik<br />
wählen kann. In der Politik, im kulturellen Bereich<br />
und in den Medien kann Friesisch eine Zusatzqualifikation<br />
sein. Mehrere unserer Studierenden<br />
sind über das Friesisch-Programm des<br />
NDR zum Radio gekommen.“<br />
PROTOKOLL: CONSTANZE KINDEL<br />
von drei Werktagen. Noch schneller geht es im Eildienst<br />
– innerhalb von 24 Stunden –, und bei echten<br />
Notfällen bietet GetInfo sogar eine elektronische<br />
Volltextlieferung per Mail innerhalb von drei Stunden.<br />
Allerdings: Je schneller die Lieferung, desto<br />
teurer wird es. Der Service kostet pro Buch zwischen<br />
neun und 20 Euro.<br />
www.subito-doc.de, www.getinfo.de<br />
Muße für<br />
die Muse<br />
Jeder soll kreativ sein, jeder will kreativ sein,<br />
jeder kann kreativ sein. Leider bloß nicht,<br />
wenn er muss. Die neurowissenschaftliche Erklärung<br />
dafür lautet: Neue, überraschende Ideen<br />
können erst entstehen, wenn sogenannte<br />
Alphawellen mit einer Frequenz von zehn bis<br />
zwölf Hertz in Stirnhirn und Scheitellappen<br />
schwingen. Was übersetzt bedeutet: Kreativität<br />
ist nur in einem entspannten Zustand wie<br />
dem ziellosen Nichtstun oder beim Tagträumen<br />
möglich. Wer dagegen unter Zeitdruck<br />
steht, unruhig ist und extrem auf sein Thema<br />
fokussiert ist, hindert sein Gehirn am Denken.<br />
Das heißt, bis dahin unverbundene Informationen<br />
werden nicht in Beziehung zueinander gesetzt.<br />
Wenig überraschend also, dass ein Nobelpreisträger<br />
wie der Physiker Gerd Binnig<br />
auf die Frage, wann er denn seine besten Ideen<br />
habe, nicht antwortet: „am Schreibtisch“ oder<br />
„im Labor“, sondern „auf dem Sofa“. Wenig<br />
überraschend ist jedoch auch, dass er sich zuvor<br />
natürlich intensiv mit den zu lösenden Problemen<br />
beschäftigt hatte. Für einen Forscher<br />
sind nämlich Auszeiten nach einer Phase der<br />
Konzentration genauso wichtig wie für einen<br />
Sportler die Ruhezeiten nach dem Training.<br />
Erst dann nämlich können frische Verbindungen<br />
zwischen Nervenzellen geknüpft werden<br />
und damit neue Zusammenhänge zwischen<br />
bereits abgespeicherten Fakten entstehen.<br />
Und für einen besonders genialen Einfall gibt’s<br />
manchmal sogar den Nobelpreis.<br />
HOCHSCHUL<br />
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7
C O N S T A N Z E K I N D E L<br />
DER CAMPUS AM<br />
ENDE D E R W E L T<br />
Acht Wochen lang versinkt die norwegische Uni-Stadt Tromsø jedes Jahr<br />
in der Dunkelheit der Polarnacht. Wie hält man es nur aus, hier zu studieren?<br />
Mit Rentierrennen in der Innenstadt, Partys in Moonboots und Cocktailkleid.<br />
Und einer eigenen Bierbrauerei in der WG-Küche.<br />
F O T O S : KIMM SAATVEDT
Alles ist erleuchtet: Blick vom Campus auf der Insel<br />
Tromsøya aus auf die Festlandseite der Stadt.
Dass sie hier studieren würde, irgendwann, das stand fest – seit Jahren<br />
schon. Als Katharina Streuff noch all ihre Freunde beneidete, deren Berufswunsch<br />
schon seit Kindergartenzeiten feststand oder wenigstens<br />
seit der Oberstufe. Als sie noch mit ihrer besten Freundin durch Südamerika<br />
reiste, von einem Freiwilligenprojekt zum anderen, und in einem<br />
Inter<strong>net</strong>café in Quito Studienfächer und Bewerbungsverfahren<br />
recherchierte. Sie wusste es, sagt Katharina, 25, von dem Moment an,<br />
als sie zu Abi-Zeiten einen Zeitschriftenartikel über Tromsø las: die<br />
Stadt mit der nördlichsten Uni der Welt. Da will ich hin. Sie fing dann<br />
erst mal mit Geowissenschaften an, in Kiel. Aber nach Tromsø wollte<br />
sie immer noch. Und Polarforscherin werden, vielleicht. Manchmal,<br />
sagt Katharina, setze ich mir Sachen in den Kopf, die ich machen will.<br />
Seit anderthalb Jahren studiert Katharina in Tromsø, Nordnorwegen,<br />
knapp 350 Kilometer Luftlinie nördlich des Polarkreises:<br />
Master in Marine Geology and Geophysics. Sitzt im Café des Teorifagbyget<br />
mit Strickjacke, Mütze, Pulswärmern – alles selbst gestrickt –,<br />
während draußen das bisschen Tageslicht vor sich hindämmert, das in<br />
Tromsø als Wintervormittag durchgeht, und findet, wenn schon Winter,<br />
dann richtig. Mit Schnee, reichlich. Nicht dieses Regengesöff, das<br />
man in Hamburg die ganze Zeit aufgetischt bekommt.<br />
Das halbe Dutzend Mitbewohner in ihrem Wohnheimhaus kommt<br />
aus Pakistan, Russland, Italien. An der Uni stellen Deutsche das halbe<br />
Geologie-Institut, angefangen mit dem Institutsleiter. Es gibt ziemlich<br />
viele, die dem verfallen, was Katharina „Tromsøianitis“ getauft hat.<br />
Ausgerech<strong>net</strong> Tromsø. Knapp 70.000 Einwohner auf einer<br />
Stadtfläche so groß wie das Saarland, auf demselben Breitengrad<br />
wie Nordalaska, 2.000 Kilometer bis zum Nordpol. Hier ist Norwegen<br />
fast zu Ende, Europa, die Welt. Zwei Monate im Jahr geht die<br />
Sonne nicht unter, zwei Monate geht sie nicht auf. Jahresdurchschnittstemperatur<br />
2,5 Grad Celsius. Die Einheimischen fassen die<br />
klimatischen Bedingungen so zusammen: acht Monate Winter, vier<br />
Monate schlechte Skiverhältnisse.<br />
Der Campus liegt auf einem Hügel nicht weit vom Stadtzentrum<br />
auf der Insel Tromsøya. Die Universität Tromsø, gegründet 1972, ist<br />
eine Uni im Wachstum. Gerade haben die Zahnmediziner ein neues<br />
Gebäude bekommen, hinter dem Institut für Naturwissenschaft und<br />
Technik graben Bagger für den nächsten Neubau. Norwegens Hochschulen<br />
konkurrieren heftig um Studierende. Fördermittel werden<br />
auch nach der Zahl der Studierenden bemessen, die eine Uni erfolgreich<br />
zum Abschluss bringt. Tromsø als Stadt mit der nördlichsten Uni<br />
weltweit legt Wert darauf, dass man hier mehr kann als „Norden“. Dennoch<br />
versteht man die Lage am Rand der Arktis als Auftrag. Und ist<br />
führend in Linguistik, Friedensforschung, Indigenen Studien, Telemedizin.<br />
Es passiert eben viel hier, sagt Ute Vogel, 45, 2003 aus Hamburg<br />
nach Tromsø gezogen und Beraterin in der Internationalen Abteilung<br />
der Universität. Tromsø ist näher dran an den großen Themen: Klimawandel,<br />
arktische Ressourcen. Das Fram Centre, ein Netzwerk von 20<br />
Instituten, forscht zu Umweltthemen, die heute den hohen Norden bewegen<br />
und morgen den Rest der Welt.<br />
Die Internationale Abteilung der Universitetet i Tromsø (UiT)<br />
wirbt in aller Welt um Studierende, demnächst auch in Deutschland.<br />
Das Angebot, auf nackte Zahlen reduziert: 150 Studiengänge,<br />
22 englischsprachige Masterprogramme, ein Verhältnis von Studierenden<br />
zu Dozenten von 8 : 1. Keine Studiengebühren, keine<br />
Sprechstunden, weil die Türen der Professoren ohnehin immer<br />
offen stehen.<br />
In letzter Zeit wird die Uni von ihrer eigenen Beliebtheit ein bisschen<br />
überwältigt. Wegen akuten Wohnungsmangels hat sie das Notfall-Schlafplatzprogramm<br />
Sofahjelpen („Sofahilfe“) aufgelegt. Immerhin<br />
: Ausländischen Studierenden garantiert die UiT einen Wohnheimplatz.<br />
Auch sonst bemüht man sich um die Internationalen: Zu<br />
Semesterbeginn wartet ein Empfangskomitee am Flughafen im<br />
Schichtbetrieb, eine Einführungswoche lang überschüttet die Internationale<br />
Studentenunion die Neuankömmlinge auf Begrüßungsfeiern<br />
und Bustouren mit Informationen für alle Fälle bis hin zu<br />
Ratschlägen dazu, wo man am besten Spannbettlaken kauft. In der<br />
Mørketid, der Dunkelzeit, stellt die Uni Tageslichtlampen für<br />
Lichttherapiebedürftige auf und empfiehlt Vitamin-D-Präparate<br />
und soziale Aktivitäten gegen Anfälle von Winterdepression.<br />
Zehn Prozent der rund 8.500 Studierenden und ein Viertel des<br />
akademischen Personals der UiT kommen aus dem Ausland. Studierende<br />
aus Deutschland sind die zweitgrößte Gruppe nach denen aus<br />
Russland. Die Chancen sind gut für die, die bleiben wollen. „Tromsø<br />
ist eine wachsende Stadt“, sagt Ute Vogel, „die Region braucht Leute.“<br />
Meistgehörte Gründe fürs Kommen und Bleiben: die Natur. Die<br />
Studienbedingungen. Meistgenannter Nachteil des Studierens<br />
nördlich des Polarkreises: die Preise. Ausgehen ist teuer, Alkohol<br />
teurer. Zehn Euro für ein Bier gegen Bestbedingungen zum Ski- und<br />
Snowboardfahren am Stadtrand. Man kann die Bremer Kneipen<br />
vermissen lernen hier, aber: „Die Natur ist unglaublich“, sagt Benjamin<br />
Merkel, 24. Bei den norwegischen Studierenden ist die Tromsø-<br />
Begeisterung meist weniger ausgeprägt als bei den internationalen.<br />
Norweger, so Benjamin, möchten nicht gern in den Norden: die Kälte,<br />
die Dunkelheit, das Provinzielle. Kalt ist es da draußen, dunkel<br />
auch, aber Tromsø entwickelt sich. Vor 15 Jahren, heißt es, konnte<br />
man in der Gemüseabteilung im Supermarkt nichts anderes kaufen<br />
als Karotten. Gerade hat beim Flughafen ein neues Einkaufszentrum<br />
eröff<strong>net</strong>, mit mehr als hundert Geschäften.<br />
Und im Vergleich mit Longyearbyen auf Spitzbergen im noch<br />
viel höheren Norden, wo Benjamin das dritte Jahr seines in Bremen<br />
begonnenen Bachelor-Studiums in Biologie verbrachte, steigt Tromsø<br />
ohnehin zur Polarmetropole auf. Über die Robbenpopulation von<br />
Spitzbergen hat Benjamin an der UiT gerade seine Master-Arbeit geschrieben.<br />
Die kann man hier auch als PDF-Datei abgeben statt in<br />
zehnfacher Ausfertigung gedruckt. Überhaupt ist es hier ein anderes<br />
Studieren als in Deutschland, sagt Benjamin. Persönlicher. Die Kurse<br />
sind weniger überfüllt – und oft auch nicht so anstrengend: „Man muss<br />
weniger tun für die gleichen Credits. Ich habe hier mal einen Kurs belegt,<br />
der fünf Tage dauerte und mir fünf Credits eingebracht hat.“ Vor<br />
allem legt der norwegische Staat Wert auf Lehre – und investiert reichlich<br />
Geld in Bildung. „Bei den Marinebiologen“, sagt Benjamin, „geht<br />
es hier nicht nach dem deutschen Prinzip ‚wir sitzen hier und erzählen<br />
dir, was du sehen könntest, wenn du draußen wärst‘. Hier können auch<br />
Bachelor-Studierende eine Woche auf einem Forschungsschiff verbringen,<br />
voll bezahlt. Davon kann man in Deutschland nur träumen.“<br />
Ein bisschen hat Tromsøianitis immer auch mit dem Rest des<br />
Landes zu tun, mit gesamtnorwegischer Anziehungskraft. Norwegen:<br />
Lebensqualitätslistenanführer, reich und schön, zukunftssorglos,<br />
sozial bewusst. Ein Wohlfahrtsstaat halt, sagt Karen Hopmann,<br />
25. Sehr sozial sind die Norweger, findet sie, gleichmacherisch, fast<br />
ein bisschen kommunistisch. Vor allem aber: entspannt. Hier geht<br />
es nicht immer um Leistung, hier muss nicht immer alles schnell<br />
gehen, nicht immer ein roter Faden im Leben sein. Sie fühle sich so<br />
weit im Norden, sagt Karen, viel wohler als in ihrem ersten Studentenleben<br />
in den Niederlanden. Nach dem Abitur war sie zum Psychologiestudium<br />
nach Maastricht gezogen. Das lag nahe, ziemlich buchstäblich:<br />
Ihre Heimatstadt Nordhorn liegt direkt an der Grenze.<br />
Als im sechsten Semester der Auslandsaufenthalt anstand, war<br />
Karen spät dran mit der Bewerbung. Sie musste nehmen, was an Austausch-Unis<br />
übrig war, und hatte die Wahl zwischen Oslo und Tromsø.<br />
1<br />
Campus im Dämmerlicht:<br />
Während der Polarnacht<br />
geht die Sonne in Tromsø<br />
zwischen Ende November<br />
und Ende Januar zwei<br />
Monate lang<br />
gar nicht erst auf.<br />
2<br />
Tageslichtlampen helfen<br />
gegen den Winter-Blues.<br />
3<br />
Karen Hopmann (25)<br />
macht an der nördlichsten<br />
Uni der Welt ihren Master<br />
in Psychologie und sagt:<br />
„Tromsø ist meine Stadt<br />
geworden.“<br />
4<br />
Schöne neue Zahnmediziner-Welt:<br />
Studierende<br />
anderer Fächer können<br />
sich in der Zahnklinik als<br />
Versuchspatienten<br />
immerhin kostenlos<br />
behandeln lassen.<br />
5<br />
Das Kulturhaus Árdna<br />
des Zentrums für samische<br />
Studien wird gern für<br />
Versammlungen und<br />
Meetings genutzt.<br />
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10
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5
7<br />
Ralph Kube (28) studiert<br />
Kernfusionsforschung<br />
– und braut sein Bier<br />
aus Kostengründen<br />
in der heimischen WG.<br />
8<br />
Michael Kampffmeyer (21)<br />
studiert seit dreieinhalb<br />
Jahren in Tromsø – komplett<br />
auf Norwegisch.<br />
9<br />
Auf internationale Austauschstudenten<br />
wirken<br />
die Norweger oft eher<br />
zurückhaltend – das ändert<br />
sich nach ein paar Bier.<br />
10<br />
Wer Kälte und Wintersport<br />
mag, muss Tromsø<br />
einfach lieben.<br />
Nur die Bremer Kneipenszene<br />
vermisst Benjamin<br />
Merkel (24) manchmal.<br />
7<br />
9<br />
8<br />
10<br />
Tromsø, nie gehört. Aber mal was anderes, dachte sie.<br />
Da komme ich nie wieder hin. Pünktlich zum Beginn<br />
des Frühlingssemesters kam Karen im Dämmerlicht in<br />
Tromsø an. Es war ein Mittag im Januar und so schnell<br />
wieder dunkel, dass schon die Suche nach einem Supermarkt<br />
eine Herausforderung war. All ihre Kurse wurden<br />
auf Norwegisch unterrichtet, anfangs ging sie mit Kopfschmerzen<br />
aus jeder Vorlesung. Heute sagt Karen: Das<br />
hier ist meine Stadt geworden. Sie ist wiedergekommen,<br />
für ihren Master-Abschluss in Psychologie, und<br />
bleibt vielleicht für immer. Sie wohnt mit ihrem norwegischen<br />
Freund auf der Festlandseite von Tromsø. Im<br />
Sommer führt sie Touristen durch die Stadt, im Winter<br />
auf Nordlichttouren an die finnische Grenze oder zu den<br />
Stränden der Nachbarinsel Kvaløya. Mit ein bisschen<br />
Glück leuchtet der Himmel irgendwann außerirdisch<br />
grün, und aus dem Nordmeer prustet ein Buckelwal.<br />
Und wenn die Nordlichtjäger in Outdoorjacken und Pudelmützen<br />
im Bus versammelt sind, dann erzählt Karen<br />
ihnen von Tromsøs zweitem Leben, von den schlaflosen<br />
Mitternachtssonnennächten, in denen sie ihre<br />
80-jährige Nachbarin um drei Uhr morgens beim Rasenmähen<br />
sieht.<br />
Komplett vorbei ist es mit dem Winter auch bei<br />
Mitternachtssonne nicht. An seinem letzten Geburtstag<br />
sind sie nachts um zwölf noch mal raus zum Skifahren,<br />
sagt Michael Kampffmeyer (21), drüben auf Kvaløya,<br />
und als sie nachts um vier zurückkamen, war es immer<br />
noch hell. Michael war schon in der neunten Klasse zum<br />
Schüleraustausch in Norwegen, machte dann in England<br />
sein A-Level und kehrte nach Norwegen zurück für<br />
ein Doppelstudium: Ingenieursstudium Energie, Klima<br />
und Umwelt mit Master-Abschluss plus Bachelor in Informatik.<br />
Seit dreieinhalb Jahren lebt er jetzt in Tromsø,<br />
und sein Deutsch verliert den norwegischen Akzent und<br />
das Wortesuchen erst, wenn er ein paar Tage auf Heimaturlaub<br />
war. „Ich vermute, dass ich hier bleibe“, sagt<br />
Michael, zum Studieren sowieso, dann vielleicht eine<br />
Doktorandenstelle und ein Job im Bereich Satellitenüberwachung.<br />
Er sei ein Naturmensch, erzählt Michael, der<br />
ziemlich ungerührt von einem Semester am Universitätszentrum<br />
Spitzbergen berichten kann; von Helikopterrettungen<br />
nach allergischen Reaktionen auf Nüsse<br />
im mit geschmolzenem Schnee angerührten Touressen;<br />
von Snowmobil-Fahrten mit Wetterumschwüngen,<br />
Whiteouts, Motorausfällen, und wie am Morgen danach<br />
der Professor in der Uni vorbeikam und sagte, er<br />
sei mit seiner Gruppe ihren Scooter-Spuren gefolgt, ob<br />
sie eigentlich wüssten, dass sie nur fünf bis zehn Meter<br />
am Klippenrand vorbeigefahren seien?<br />
In der Stadt, sagt Michael, sei aber auch immer<br />
was los. Das Internationale Filmfestival zum Beispiel,<br />
das Elektrofestival Insomnia oder Rentierrennen<br />
in der Fußgängerzone. Oder das ganz normale<br />
Nachtleben, für das Tromsø ziemlich berühmt ist.<br />
Mehr als 20.000 Plätze haben sämtliche Bars, Kneipen,<br />
Cafés und Restaurants der Stadt zusammen und<br />
könnten immerhin ein knappes Drittel der Einwohner<br />
gleichzeitig unterbringen. Die Studierendenzeitung<br />
Utropia wirbt um Redakteursnachwuchs mit<br />
dem Versprechen, dass ihre Mitarbeiter zwecks Berichterstattung<br />
freien Eintritt zu sämtlichen Kulturveranstaltungen<br />
genießen. Freigetränke allerdings
werden nicht garantiert. Die staatliche Alkoholpolitik mit den europaweit<br />
höchsten Steuern und die Sperrstunde verleihen dem norwegischen<br />
Ausgehverhalten einen klar geregelten Ablauf: Warmtrinken zu<br />
Hause, Weitertrinken in Kneipen und Clubs, und wenn morgens um<br />
drei die Lichter angehen, geht die Party in irgendeiner Privatwohnung<br />
weiter. Teil eins und drei der Feier-Trilogie tragen im Norwegischen die<br />
assoziationsreichen deutschen Namen „Vorspiel“ und „Nachspiel“.<br />
Im Stadtzentrum geht der Freitagabend gerade in den Hauptteil über.<br />
Im Verdensteatret an der Hauptstraße Storgata, Norwegens ältestem Kino,<br />
tanzen sie in Wintermänteln vor der Bar; vor der kleinen Kellerbühne des<br />
Nedentil im Anzug samt Fliege und in Moonboots zum Spaghettiträgerkleid<br />
zu den hämmernden Bässen von Raggabalder Riddim Rebels, die 50<br />
Prozent der norwegischen Soundsystem-Szene stellen.<br />
Nach zwei Bier, sagt Ralph Kube (28), taut auch der zurückhaltendste<br />
Norweger auf. Er sitzt im Studierendenhaus Driv am Hafen in<br />
der Sofaecke, über ihm die Holzbalkendecke, vor sich ein Bierglas,<br />
selbst mit Studierendenrabatt teuer erkauft. Ralph hat schon im Jahr<br />
2007 Elementarteilchenphysik in Aachen gegen Kernfusionsforschung<br />
in Tromsø getauscht, inzwischen ist er Doktorand: in Norwegen eine<br />
Vollzeitstelle mit Vierjahresvertrag. Und ja, „alles ziemlich cool hier“,<br />
sagt Ralph. Wenn er 2014 seinen Doktor hat, will er trotzdem zurück<br />
nach Deutschland. Hauptsächlich, weil in Aachen seine Freundin wartet,<br />
aber auch, weil er die Großstadtnähe vermisst. Dabei hat er schon<br />
vor einiger Zeit das wohl meistbeklagte Problem im Tromsøer Studentenleben<br />
gelöst. In seiner WG-Küche steht ein 20-Liter-Bottich. Ralph<br />
und seine Mitbewohner brauen ihr Bier jetzt selbst.<br />
Rund vier Stunden braucht man<br />
mit dem Flugzeug von Hamburg<br />
über Oslo bis nach Tromsø.<br />
TROMSØ<br />
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KUNST MIT KNUSPERSCHNITZEL<br />
Auch wenn Mensa-Essen oft schmeckt, als sei es mit Hass gekocht: Wenn Maurice Etoile es in den Händen hatte,<br />
ist es zumindest mit Liebe dekoriert. Seit einem Jahr macht er aus Mampf Kunst. Hunderttausenden gefällt das …<br />
FOTOS: MAURICE ETOILE UND FRIZZI KURKHAUS<br />
Wölfe aus Rinderbraten,<br />
Pacman aus Kartoffelpuffern:<br />
Maurice Etoile stellt seine Kreationen<br />
und die seiner Mitstreiter auf Facebook<br />
(Stichwort „Mensa Battle“) online.<br />
Die besten Gerichte werden prämiert.
Vor einem Jahr haben Sie damit begonnen, Ihr<br />
Mensa-Essen umzudekorieren, abzufotografieren<br />
und auf Facebook zu posten. In manchen Wochen<br />
haben sich 400.000 Leute ihre Mensa-Kunst<br />
angeschaut. Wie hat all das angefangen?<br />
Ein guter Freund war damals von Saarbrücken<br />
nach Berlin gezogen und hat ziemlich rumgepost,<br />
dass dort alles besser sei. Unter anderem das Essen<br />
in der Mensa. Da habe ich dagegengehalten und<br />
angefangen, mein Uni-Mittagessen in Saarbrücken<br />
zu fotografieren und ihm aufs Handy zu schicken –<br />
unter dem Motto: „Vergiss es Mann, unsere Mensa<br />
ist besser.“<br />
Aber daraus wurde dann mehr …<br />
Ja, wir haben die Fotos erst auf unseren Facebook-<br />
Seiten gezeigt und dann kam mir die Idee, die Möglichkeit<br />
einzubauen, die Leute abstimmen zu lassen,<br />
welches Gericht besser aussieht. Daraus wurde dann<br />
das Mensa-Battle und am Ende sogar meine Abschlussarbeit<br />
im Bereich Social-Media-Marketing.<br />
Können Sie sich noch an Ihr erstes Mensa-Gericht<br />
erinnern, das Sie fürs Foto dekoriert haben?<br />
Ja, das war ein Schnitzel. Ich steh da total drauf,<br />
wenn ordentlich Zitronensaft drüber ist. Also habe<br />
ich mir zwei Zitronenscheiben geholt, draufgelegt,<br />
sah aus wie ein Gesicht, fertig. Mittlerweile sind die<br />
Sachen natürlich viel raffinierter. Ich arbeite gern<br />
mit Olivenscheiben, mit denen bekommt man sehr<br />
schöne Augen hin. Eine Kreation dauert etwa 20 Minuten.<br />
Für mich war das Ganze auch ein Experiment,<br />
das die Frage beantworten sollte: Wie viel Aufmerksamkeit<br />
kann man erzeugen?<br />
Offensichtlich einige, schließlich werden Sie ja<br />
gerade interviewt. Wie viele Leute machen denn<br />
beim Mensa-Battle mit?<br />
50 haben Fotos gepostet – viele aus Saarbrücken,<br />
Köln, Mainz. Man kann aber auch mitmachen, wenn<br />
man gerade keine Mensa zur Hand hat. Die Zahl der<br />
Leute, die sich unseren Facebook-Auftritt angesehen<br />
haben, ist allerdings viel höher. Man muss einfach<br />
Anreize schaffen: Man kann zum Beispiel König der<br />
Mensa werden. Das ist ein Titel, den wir monatlich<br />
demjenigen verleihen, der die meisten „Likes“ bekommt.<br />
In der Vergangenheit gab es Kisten mit Bier<br />
zu gewinnen, außerdem Essensgutscheine.<br />
Machen Sie selbst bei den Wettbewerben mit?<br />
Nein, ich laufe außer Konkurrenz.<br />
Ist das Umdekorieren des Essens eigentlich eine<br />
Art Hilfeschrei, weil das Zeug so mies schmeckt?<br />
Überhaupt nicht, das Essen ist hervorragend. Das<br />
sieht man auch auf den Bildern.<br />
Ihr Lieblingsessen?<br />
Knusperschnitzel, gefolgt vom Germknödel.<br />
Erkennen die Leute in der Mensa Sie eigentlich,<br />
wenn Sie fürs Essen anstehen?<br />
Unser Campus hat 18.000 Studenten, ich bin da keine<br />
Berühmtheit. Aber die Mensa-Crew, die Köche,<br />
die kennen mich und freuen sich. Und ich bekomme<br />
immer einen Extra-Teller zum Umbauen.<br />
Essen Sie das Zeug eigentlich am Ende?<br />
Selbstverständlich.
V O N S A R A H M O U S L Y<br />
G E L D FÜR A L L E<br />
Was passiert, wenn tausend Menschen jeden Monat Geld bekommen, ohne dafür zu arbeiten?<br />
Macht solch ein bedingungsloses Grundeinkommen die Menschen faul und abhängig? Oder frei<br />
und fleißig? Diese Frage sollte ein Feldversuch in einem Dorf in Namibia beant worten.<br />
Die Tübinger Ethnologin Dr. Sabine Klocke-Daffa war während des Experimentes vor Ort.<br />
I L L U STR A T I O N : S Y L V I A NEU N ER
Die Idee, dass jeder Mensch ein bedingungsloses Grundeinkommen bekommt,<br />
wird in vielen Ländern diskutiert, auch in Deutschland. Warum fand<br />
das Experiment ausgerech<strong>net</strong> in Namibia statt?<br />
Die Idee kam nicht, wie viele glauben, von der UNO oder einer ausländischen Organisation.<br />
Das Land hat gigantische Bodenschätze, trotzdem lebt die Hälfte der<br />
Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Um etwas gegen die ungleiche Verteilung<br />
zu unternehmen, setzte die Regierung Anfang der 2000er-Jahre eine Steuerkommission<br />
ein. Einer ihrer Vorschläge lautete: ein gleiches Basiseinkommen für alle.<br />
Für alle? Auch für die Reichen?<br />
Namibia hat gerade mal zwei Millionen Einwohner. Ein bürokratischer Apparat,<br />
der die Bedürftigkeit jedes Einzelnen prüft, wäre teurer als einfach jedem Geld<br />
zu geben. Die Evangelisch-Lutherische Kirche Namibias griff die Idee auf. Sie<br />
sammelte Spenden und startete 2008 den Feldversuch im Dorf Otjivero, etwa<br />
eine Autostunde von der Hauptstadt Windhoek entfernt. Zwei Jahre lang bekam<br />
jeder Einwohner monatlich 100 Namibia-Dollar (etwa 10 Euro) ausgezahlt. Eine<br />
Familie mit fünf Kindern kam so auf 700 Dollar: mehr, als ein einfacher Farmarbeiter<br />
im Monat verdient.<br />
Sie haben untersucht, wie das Geld das Leben der Dorf bevölkerung verändert<br />
hat. Wie muss man sich Ihre Arbeit vorstellen?<br />
Man muss wissen, dass in Otjivero zu rund 80 Prozent Damara leben, eine Volksgruppe,<br />
die zu den Khoisan-Völkern gehört. Bei den Khoisan herrscht eine ausgeprägte<br />
Kultur des Schenkens und des Einforderns. Wer etwas übrig hat, egal ob<br />
Essen, Wasser, Geld oder Zeit, gibt anderen etwas ab. Und wer etwas braucht, eine<br />
Tasse Maismehl, ein Stück Seife oder jemanden, der auf die Kinder aufpasst, fragt<br />
bei Angehörigen und Nachbarn. Wir Deutschen definieren uns ja eher über das, was<br />
wir haben: Wenn Sie mit 40 immer noch in einer Studentenbude wohnen, fragt die<br />
Familie, wie es weitergehen soll. Das würden die Khoisan nie tun. Sie definieren<br />
sich darüber, was sie anderen geben. Wer nie etwas abgibt, dessen Status sinkt, und<br />
irgendwann wird er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Ich war zusammen mit<br />
einer Doktorandin zwei Monate lang vor Ort. Wir befragten 30 Haushalte täglich<br />
nach ihren Einnahmen und Ausgaben. Die Hälfte in Otjivero, die andere Hälfte in<br />
einem nahe gelegenen Vergleichsort, in dem kein Basiseinkommen gezahlt wurde.<br />
Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?<br />
Dass das Projekt ein großer Erfolg war. 100 Dollar sind auch für namibische<br />
Verhältnisse keine riesige Summe. Dafür bekommt man etwas Maismehl, Tee,<br />
Zucker und ab und zu etwas Fleisch. Doch selbst dieser kleine Beitrag machte eine<br />
Menge aus. Es gab so gut wie keine Unterernährung mehr, die Kinder weinten<br />
nachts nicht mehr vor Hunger und konnten sich in der Schule besser konzentrieren.<br />
Auch die Kriminalitätsrate sank: Auf den umliegenden Farmen wurde kaum<br />
noch gewildert. Frauen, die vorher gelegentlich genäht hatten, kurbelten ihr Geschäft<br />
an. Sie reisten nach Windhoek, um auch dort ihre Kleider zu verkaufen.<br />
Zudem konnten die Menschen ihr Ansehen in der Gemeinschaft steigern. Otjivero<br />
ist ein extrem armer Ort – es gibt kaum Vieh und so gut wie keine Arbeit. Viele sind<br />
auf die Unterstützung von Familienmitgliedern aus anderen Dörfern angewiesen.<br />
Nun konnten sie etwas zurückgeben: etwa Geld schicken oder Kinder aus der<br />
Verwandtschaft aufnehmen. So haben sie sich ein soziales Kapital aufgebaut, von<br />
dem sie monate-, wenn nicht jahrelang zehren können.<br />
Dennoch wird kritisiert, es seien zu wenige wirtschaftliche Initiativen gestartet<br />
worden. Die meisten haben im Prinzip so weitergelebt wie vorher, Neugründungen<br />
lassen sich an einer Hand abzählen. Das Geld hatte also kaum einen<br />
nachhaltigen ökonomischen Effekt.<br />
Ich wehre mich dagegen, dass man sagt: „ Die Leute sind zu ungebildet und müssen<br />
erst noch lernen, mit Geld umzugehen.“ Sie können sehr wohl mit Geld umgehen,<br />
aber sie tun das nach ihren eigenen Präferenzen. Mich interessierte vor<br />
allem: Welchen Einfluss hat die Kultur der Menschen darauf, was sie mit dem<br />
zusätzlichen Geld anfangen? Wie ich erwartet hatte, benutzen sie es so, wie es<br />
ihrer eigenen Kultur entspricht – und nicht unserer.<br />
Das scheint der namibischen Regierung nicht zu reichen. Weder unterstützte<br />
sie das Projekt, noch wird es aufs ganze Land ausgeweitet. Warum nicht?<br />
Die größte namibische Volksgruppe sind die Ovambo, die viel interessierter an<br />
Business sind als die Damara. Entsprechend neoliberal ist die Wirtschaftspolitik.<br />
Oft ist zu hören: „Die Damara haben ja nichts aus dem Geld gemacht.“ Aber<br />
erstens reichen 100 namibische Dollar nicht dafür aus, ein ganzes System auf<br />
den Kopf zu stellen. Und zweitens sind die kulturellen Prioritäten der Damara<br />
schlichtweg andere. Wenn sie acht eigene Kinder haben und dazu noch zehn<br />
weitere durchfüttern, machen sie nebenbei kein Geschäft auf. Es ist ein weiteres<br />
Modellprojekt in Planung, das die Ovambo-Bevölkerung einschließen soll. Ich<br />
könnte mir gut denken, dass ein Grundeinkommen dort mehr ökonomische Impulse<br />
setzen würde. Aber das ist nur eine Vermutung, die ich erst beweisen müsste.<br />
In jedem Fall ist davon auszugehen, dass es ganz unterschiedliche, kulturell geprägte<br />
Formen des Umganges mit einem Basiseinkommen geben kann.<br />
Was gefällt Ihnen an der Idee des Grundeinkommens?<br />
Es gibt Menschen die Chance, eine Grundlage für ihr Leben zu schaffen. In vielen<br />
afrikanischen Dörfern versammelt man sich für wichtige Entscheidungen im<br />
Schatten eines großen Baumes. In Otjivero ist es ein Kameldornbaum mitten im<br />
Ort. Unter seiner Krone erfuhr die Bevölkerung vor fünf Jahren erstmals von dem<br />
Geld für alle. Der Baum hat es trotz der ungünstigen klimatischen Bedingungen<br />
aus eigener Kraft geschafft, groß und stark zu werden – weil man ihn hat wachsen<br />
lassen. Ich finde, auch die Menschen sollte man einfach mal machen lassen und<br />
ihnen nur die Unterstützung anbieten, die sie selbst haben wollen.<br />
Was ist mit Befürchtungen, dass dann weniger gearbeitet oder das Geld in<br />
Alkohol umgesetzt wird?<br />
Sie können natürlich nicht verhindern, dass einige Leute weniger Initiative aufbringen,<br />
als wenn sie das Geld nicht bekämen. Man kann auch nicht verhindern,<br />
dass manche Leute mehr trinken. In Otjivero haben gleich mehrere neue Kneipen<br />
aufgemacht, und da war natürlich Highlife. Aber das ist noch kein Grund, das<br />
Grundeinkommen abzulehnen. Es gibt in jeder Gesellschaft solche, die sich nicht<br />
aufraffen können oder die nicht so aktiv sind wie andere. Die müssen mit durchgezogen<br />
werden. Dafür ist Gesellschaft da, überall auf der Welt.<br />
Ist es nicht verständlich, dass diejenigen, die das Geld gespendet haben, es<br />
auch in ihrem Sinne verwendet sehen wollen?<br />
Dann ist es nicht mehr bedingungslos. Ein Grundeinkommen ohne Bedingungen<br />
setzt zwei Dinge voraus: Vertrauen in die Menschen, dass sie selbst am besten<br />
wissen, wofür sie die Mittel verwenden. Und Respekt vor kultureller Vielfalt im<br />
Umgang mit diesen Mitteln. Wenn es den Spendern in erster Linie darum geht, die<br />
Wirtschaft anzukurbeln, dann sollten andere Instrumente zum Einsatz kommen.<br />
Zum Beispiel kann man Mikrokredite für bestimmte Vorhaben vergeben.<br />
Fänden Sie das bedingungslose Grundeinkommen für Deutschland eine gute<br />
Idee?<br />
Als Wissenschaftlerin bin ich natürlich für einen Versuch in Deutschland. Ich<br />
würde zu gern sehen, was passieren würde. Aber mit einer Empfehlung halte ich<br />
mich lieber zurück.<br />
Sie sagen, wir Deutschen definieren uns über das, was wir uns selbst aufbauen.<br />
Heißt das, wir würden weiterarbeiten und uns nicht, wie Skeptiker behaupten,<br />
auf die faule Haut legen?<br />
Ich kann mir nicht vorstellen, dass plötzlich alle ihren Job aufgeben würden. Dazu<br />
definieren wir uns viel zu sehr über unsere Arbeit. Viele würden vielleicht die Arbeitszeit<br />
reduzieren. Dann hätten sie mehr Zeit, sich um sich selbst zu kümmern<br />
und um ihre Familien. Und das würde wieder mehr Jobs generieren.<br />
Mehr Zeit für den Einzelnen und mehr Jobs für alle – klingt nicht übel …<br />
Ja, aber das Grundeinkommen muss ja irgendwoher kommen. Götz Werner, der<br />
Gründer der Drogeriemarktkette dm und prominenter Befürworter der Idee, plädiert<br />
für ein Grundeinkommen von 1.000 Euro. Das würde uns jährlich über 900<br />
Milliarden kosten. 900 Milliarden! Das halte ich nicht für realistisch. Namibia dagegen<br />
könnte sich aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte und der Einnahmen<br />
aus dem Verkauf von Diamanten und Uran ein Grundeinkommen für alle leisten.<br />
Ich fände es gut, wenn sie es dort mal fünf Jahre lang ausprobieren würden. Dann<br />
würde man sehen: Führt die Umverteilung tatsächlich zu mehr Gerechtigkeit und<br />
weniger Armut? Oder ist es volkswirtschaftlich gesehen nichts weiter als eine<br />
schöne Idee?<br />
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17
AUSGEHEN IN<br />
London<br />
DREI PRODUKTE,<br />
DIE SIE JETZT BRAUCHEN<br />
Klar, man könnte sein Bier in London im angesagten<br />
Shoreditch trinken. Doch während<br />
sich die Hornbrillen- und Schnurrbart-Träger<br />
hier gegenseitig die Show stehlen, geht es im<br />
abgewohnten Camden einfach entspannter<br />
zu. Im Hawley Arms, dessen Wurzeln bis ins<br />
Jahr 1900 zurückgehen, hat schon Amy<br />
Winehouse Bier getrunken (vermutlich mehr<br />
als eines). Der Holzboden knarzt, die Stühle<br />
wackeln, es ist brechend voll – so, wie es in<br />
einem Pub sein muss. Den leckeren Cider<br />
„Bulmers“ gibt’s hier vom Fass, und sonntags<br />
steht für zehn Pfund Sonntagsbraten auf der<br />
Karte. Gleich doppelt lohnt ein Besuch von<br />
Proud Camden: Tagsüber sind in dem ehemaligen<br />
Pferdestall Fotoausstellungen aus den<br />
Bereichen Musik und Popkultur zu sehen.<br />
Abends finden Konzerte und Partys statt, die<br />
von House bis Rock ’n’ Roll reichen. Und auch,<br />
wenn es ein bisschen nach Reiseführer-Gelaber<br />
klingt: Hier sollen manchmal Mark Ronson,<br />
Helena Christensen oder Pete Doherty<br />
auftauchen. Wenn alle Clubs und Pubs in<br />
Camden schließen und man keinen einzigen<br />
Promi zu einem gemeinsamen Handyfoto<br />
nötigen konnte, dann geht es ins Restaurant<br />
Marathon. Der Kebab-Laden sieht abgeschrammelt<br />
aus und hat ganze drei (drei!)<br />
Fans auf Facebook. Und Keith Richards von<br />
den Stones soll hier schon mal ein Bier getrunken<br />
haben. Falls das schon wieder Reiseführer-Gelaber<br />
sein sollte: Das Essen ist in<br />
jedem Fall super.<br />
Der Papp-Gettoblaster<br />
iPods und MP3-Player haben ihn verdrängt, den Kassetten<br />
fressenden, scheppernden Gettoblaster. Der Berliner<br />
Designer Axel Pfaender will das ändern und entwickelte<br />
die „Berlin Boombox“, einen faltbaren Papp-Gettoblaster.<br />
Mit einem 2-mal-5-Watt-Verstärker ausgestattet, klingt die<br />
mit allen mobilen Playern kompatible Boombox zwar nicht<br />
so gut wie ein High-End-Gerät, aber dafür sieht man damit<br />
mindestens so cool aus wie Run DMC in den Achtzigern.<br />
Preis: 65 Euro. berlinboombox.com<br />
AMY WINEHOUSE<br />
TRANK HIER GERN IHR BIER.<br />
Vollbart für alle<br />
Echte Kerle tragen Vollbart und<br />
notfalls: die Attrappe „Beardo“.<br />
Die Idee für diese Mütze mit Bart<br />
stammt von dem kanadischen<br />
Snowboarder Jeff Phillips, dem es<br />
auf der Piste einfach zu kalt war.<br />
Die Beardos sind handgemacht,<br />
aus Acrylfaser und mit schwarzem,<br />
braunem, blondem und rothaarigem<br />
Bart erhältlich. Ab<br />
30 Euro. beardo.bigcartel.com<br />
The Hawley Arms<br />
2 Castlehaven Road, London NW1 8QU<br />
www.thehawleyarms.co.uk<br />
Proud Camden<br />
The Horse Hospital, Stables Market,<br />
Chalk Farm Road, London NW1 8AH<br />
www.proudcamden.com<br />
Marathon Kebab House<br />
87 Chalk Farm Road, London NW1 8AR<br />
www.marathonkebabhouse.co.uk<br />
VON NADINE LISCHICK<br />
Deutsche Promis entlarvt<br />
Wer gern wissen würde, wie es Dieter<br />
Bohlen im Altenheim ergeht oder was Gott<br />
zum Kirchenbeitritt von Nina Hagen zu<br />
sagen hat, braucht dieses Buch: „Frank<br />
Bsirske macht Urlaub auf Krk – Deutsche<br />
Helden privat“. Darin entlarven Oliver<br />
Welke und Dietmar Wischmeyer<br />
die dunkelsten Seiten und die fiesesten<br />
Gedanken von und über 77 deutsche<br />
Helden. 16,95 Euro. amazon.de<br />
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18
KUMMERKASTEN<br />
SOPHIE H. VIA MAIL<br />
Im Winter geht meine Stimmung immer in den Keller. Wie komme ich<br />
aus dem Winter-Blues wieder heraus?<br />
ILLUS T R A TIO N: M ATTHIAS S E I FAR T H<br />
Depressionen im Winter gab es schon in der Antike. Neben<br />
vielen individuellen Faktoren gehört auch Lichtmangel zu den<br />
Ursachen. Ich kenne allerdings kaum einen Kollegen, der eine<br />
saisonale Depression diagnostiziert und medikamentös behandelt<br />
hat.<br />
Jeden Tag bei Tageslicht eine Stunde spazieren zu gehen,<br />
kann schon helfen. Ich selbst gehe im Winter immer ins Solarium.<br />
Man kann sich aber auch spezielle Glühbirnen kaufen. Die<br />
verbrauchen zwar viel Strom, wirken aber stimmungsaufhellend.<br />
Johanniskraut bringt unter Umständen auch etwas.<br />
Man muss aber ehrlich sagen: Saisonale Depressionen<br />
sind etwas für Leute, die Zeit dafür haben. Wer 40 Stunden die<br />
Vom Glück auf dem Teller<br />
Diplom-Psychologe<br />
JENS HENDRIK MAIER<br />
Was wäre, wenn es ein Kochbuch gäbe, mit dem man seine Gefühle steuern<br />
kann? In dem es also Gerichte gibt, die einen glücklich oder stolz sein lassen,<br />
einem das Gefühl von Geborgenheit oder Nostalgie geben? Genau diese<br />
Fragen hat sich Christina Bermeitinger gestellt. Auf der Suche nach einer<br />
Antwort ließ die Psychologieprofessorin an der Uni Hildesheim ihre Studierenden<br />
gemeinsam mit Kochauszubildenden eineinhalb Jahre lang mit den<br />
unterschiedlichsten Zutaten, Farben, Gerüchen, Konsistenzen und Präsentationsformen experimentieren.<br />
Herausgekommen ist ein Kochbuch der Gefühle mit 15 Menüvorschlägen – vom<br />
optisch abschreckenden Labskaus plus Wurm-Wackelpudding (Ekel) über edles Lachs-Orangen-Linsen-Tatar<br />
(Stolz) bis hin zu süßem Grießbrei (Nostalgie) und nach Zimt und Vanille<br />
duftendem Bratapfel (Geborgenheit). Und wofür stehen die Hähnchen-Feigen-Spieße an Brokkoli<br />
mit Pfeffer-Käse-Püree? Für nichts anderes als pures Glück. (Verlag Gebrüder Gerstenberg,<br />
19,80 Euro). www.kochbuch-der-gefuehle.de<br />
Woche arbeitet, wird kaum eine Winterdepression be kommen.<br />
Aber wer sowieso viel grübelt und zudem einen Hang zu starker<br />
Melancholie hat, ist natürlich anfällig. Demjenigen kann ich vorbeugend<br />
empfehlen, sein Polster psychischer Gesundheit im<br />
Winter besonders zu pflegen, sprich den Alltag den eigenen<br />
Bedürfnissen entsprechend einzurichten und sich selbst Gutes<br />
zu tun. So werden Belastungen besser abgefedert.<br />
Sozialer Kontakt ist ebenfalls gut. Das lenkt ab, zumindest<br />
wenn man nicht nur über Probleme spricht. Gehen Sie in die<br />
Sauna oder ins Museum.<br />
Sie haben eine Frage? Dann schreiben Sie an:<br />
redaktion@hochschulanzeiger.de<br />
Die Treppe als Tastatur<br />
Bereits der wackelige Werbefilm, den sich die beiden Studierenden für<br />
ihre Erfindung einfallen lassen haben, ist eine Offenbarung. Ihre Erfindung?<br />
Das ist das sogenannte MaKey MaKey, ein Minibausatz bestehend<br />
aus einer Platine und ein paar Krokodilklemmen. Mit diesem<br />
Bausatz lassen sich die Funktionen der Computertastatur, vor der wir<br />
jeden Tag sitzen, auf jedes Objekt im Haushalt übertragen, das Strom<br />
weiterleitet. Orangen, Pizzastücke, alles. Im Werbefilm rennt das Erfinderduo<br />
verkabelte Treppenstufen hoch und runter und bedient so die<br />
Tastatur seines Computers. Zwei Studierende des MIT Media Lab haben<br />
das MaKey MaKey erfunden. Laut einem Bericht der BBC sollen<br />
sogar Vier jährige den Steckbausatz zusammenfummeln können.<br />
Preis: 49,90 Euro. www.makeymakey.eu<br />
Job & Career Market 2013<br />
Das Zentrum für Recruitment & Qualifizierung<br />
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8.–12. April 2013 · Hannover · Germany<br />
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19
V O N J E N N Y H O C H<br />
SELFMADE TV<br />
MUSIKFERNSEHEN MIT AUSSICHT<br />
Statt eines Studios gibt es nur das Dach eines Bunkers in der Nähe<br />
der Reeperbahn. Statt einer Kulisse – den wintergrauen Hamburger Himmel.<br />
Bei „Balcony TV“ dürfen kleine und kleinste Bands aus der ganzen Welt<br />
auftreten. Sie bekommen ein paar Minuten Zeit, um sich erst hier<br />
und dann im Inter<strong>net</strong>clip unvergänglich zu machen.<br />
FOTOS: FRANK EGE L
Musiker sind daran gewöhnt, dass der Weg nach<br />
oben sie erst einmal nach unten führt. Auftritte in<br />
Kellerkneipen, Gigs in Souterrainbars, solche Sachen.<br />
Diesmal ist alles anders. Es geht gleich rauf in<br />
luftige Höhen. Telma und Louise sind aus Paris nach<br />
Hamburg gekommen und dort in den fünften Stock<br />
eines riesenhaften Hochbunkers aus dem Zweiten<br />
Weltkrieg geklettert, um ihr Glück zu machen.<br />
Ihre Bühne ist ein zugiger Balkon hoch über der<br />
Stadt, sie ist einzigartig in Deutschland – und sie wird<br />
betrieben von zwei Menschen, die mithilfe einer Mini-Digitalkamera<br />
und eines Inter<strong>net</strong>anschlusses dafür<br />
sorgen, dass die Musik von Telma und Louise<br />
bald in der ganzen Welt gehört werden kann. Seit gut<br />
fünf Jahren machen Johanna Leuschen und Lars<br />
Kaufmann Balcony TV, Fernsehen fürs Inter<strong>net</strong>. Musik<br />
mit Aussicht, so lautet<br />
das Motto von Balcony TV,<br />
Music with a view.<br />
Die Aussicht verschwimmt<br />
an diesem ungemütlichen<br />
Samstagnachmittag<br />
im Hamburger Nebel.<br />
Also stellen sich die beiden<br />
Französinnen vor die Wattewand,<br />
die Augen geschlossen,<br />
den Blick ins Unendliche<br />
gerichtet. Rot gefrorene<br />
Finger mit korallenrot lackierten<br />
Fingernägeln zupfen<br />
die Saiten einer Gitarre.<br />
Zart schweben ihre Stimmen<br />
nach oben in den Winterhimmel.<br />
Für die Länge eines Chansons hält die Welt unter<br />
ihnen den Atem an, alles ist Musik.<br />
Dann ist es vorbei. Telma und Louise dürfen<br />
noch schnell auf Englisch sagen, dass es von ihnen niemals<br />
CDs geben wird, weil sie es besser finden, wenn<br />
man ihre Songs einfach so im Gedächtnis behält. Das<br />
ist ihr Credo: Livemusik ist die einzig wahre Musik.<br />
Dann heißt es „Thank you“ – und die nächste Band<br />
packt die Instrumente für den Soundcheck aus: Mr Richard<br />
aus Groningen, Niederlande.<br />
Das ist auch schon das ganze Konzept von Balcony<br />
TV. Junge, meist noch unbekannte Bands stellen sich<br />
mit einem eigenen Song vor – Coverversionen sind verboten.<br />
Sie dürfen Tourdaten aufsagen und, falls vorhanden,<br />
ihr Album in die Kamera halten. Beim Filmen und<br />
Moderieren wechselt sich das Macherduo ab. Es wird<br />
jeweils nur ein einziger Take gedreht. Etwa dreimal pro<br />
Woche wird ein neuer ungeschnittener Videoclip auf<br />
die Balcony-TV-Seite und auf Youtube gestellt.<br />
In Zeiten auf Hochglanz getrimmter „Event-Movies“,<br />
die eine Bugwelle vor sich herschieben, als würden<br />
sie mindestens das Fernsehen neu erfinden, wirkt<br />
Balcony TV wie ein verwegener Inter<strong>net</strong>-Zwerg, der<br />
sich den Medienriesen todesmutig in den Weg stellt.<br />
Aber das täuscht. Denn tatsächlich sind solche Nischenformate<br />
nicht nur sehr erfolgreich – der Minisender<br />
verzeich<strong>net</strong> seit seiner Gründung rund 32 Millio-<br />
Die Augen geschlossen,<br />
den Blick in die<br />
Unendlichkeit gerichtet.<br />
Für die Länge<br />
eines Chansons hält<br />
die Welt unter ihnen<br />
den Atem an, alles ist<br />
Musik. „Thank you.“<br />
nen Klicks –, sie sind auch Vorboten davon, wie das<br />
Fernsehen in Zukunft aussehen könnte.<br />
Inzwischen hat es sich bis in die Büros der Programmverantwortlichen<br />
herumgesprochen, dass<br />
das Inter<strong>net</strong> dem Fernsehen Konkurrenz macht. Es<br />
ist zwar nicht so, dass weniger ferngesehen wird als<br />
früher – zurzeit verbringen die Deutschen durchschnittlich<br />
mehr als dreieinhalb Stunden vor der<br />
Mattscheibe –, aber vor allem junge Leute sehen immer<br />
seltener ein, warum sie sich von einem starren<br />
Programmschema vorschreiben lassen sollen, wann<br />
sie welche Sendung zu gucken haben.<br />
Als Reaktion darauf haben die öffentlichrechtlichen<br />
Sender Mediatheken auf ihren Inter<strong>net</strong>seiten<br />
eingerichtet, mit denen man die Sendungen<br />
jederzeit streamen kann. Und sie haben einige<br />
Sendungen mit Laufbändern,<br />
Splitscreens und virtuellen<br />
Studiokulissen aufgemöbelt,<br />
damit es aussieht<br />
wie im Inter<strong>net</strong>. Aber das ist<br />
Kosmetik. An den Grundstrukturen<br />
hat sich kaum etwas<br />
geändert. Warum auch?<br />
Ein schwerfälliger Apparat<br />
bewegt sich nicht so leicht.<br />
Er macht lieber Tag für Tag<br />
weiter sein Mainstream-<br />
Programm für ein immer<br />
älter werdendes Publikum.<br />
Hier liegt die Chance von<br />
kleinen, schnellen und individuellen<br />
Formaten wie<br />
Balcony TV.<br />
Statt um Zielgruppen geht es hier um Leidenschaft.<br />
Johanna Leuschen und Lars Kaufmann machen<br />
Balcony TV in ihrer Freizeit, hauptberuflich<br />
arbeiten beide als Fernsehjournalisten beim NDR.<br />
Sie lieben Musik, sie entdecken gern Talente – und<br />
sie wissen genau, was sie tun: „Im Inter<strong>net</strong> zählt eine<br />
coole Idee mehr als Geld, und genau das bringt uns<br />
Aufmerksamkeit“, sagt Johanna Leuschen, die zu<br />
Hause ihre noch unfertige Doktorarbeit über Online-Fernsehen<br />
liegen hat.<br />
Die Idee zu Balcony TV hat die 29-Jährige<br />
aus Dublin mitgebracht, wo sie 2006 ein Auslandsstudienjahr<br />
am Trinity College verbrachte. Sie<br />
lernte dort den Filmemacher Stephen O’Regan<br />
kennen, der Bal cony TV mit zwei Musikerfreunden<br />
erfunden hatte und – mit Medienpreisen überschüttet<br />
– von seinem Balkon im angesagten Viertel<br />
Temple Bar aus betrieb. O’Regan und Leuschen<br />
blieben in Kontakt, und als sie sich ein Jahr später in<br />
Hamburg wiedersahen, entstand der Plan: Warum<br />
nicht dasselbe hier machen?<br />
Am 1. September 2007 ging Balcony TV auf<br />
Sendung, gefilmt wurde auf einem winzigen Vier-<br />
Quadratmeter-Balkon am Spielbudenplatz direkt<br />
auf der Reeperbahn. Moderationserfahrung hatten<br />
weder Johanna Leuschen noch Lars Kaufmann,<br />
Alles eine Frage der Technik? Nein, überhaupt<br />
nicht: Balcony TV dreht und sendet mit Equipment,<br />
das sich jeder kaufen könnte.<br />
HOCHSCHUL<br />
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21
aber das schreckte sie nicht ab. Es wurde an allen<br />
Ecken und Enden improvisiert. Wenn es reg<strong>net</strong>e,<br />
wurde ein Schirm reingehalten, wenn die Polizei der<br />
be nachbarten Davidwache mit Blaulicht und Sirenengeheul<br />
ausrückte, redeten und spielten sie einfach<br />
weiter. Das Unperfekte machte den Charme des<br />
Unternehmens aus. Dass hier etwas Besonderes entstanden<br />
war, sprach sich schnell herum.<br />
Revolverheld spielten auf dem Balkon, die Indie-Rocker<br />
von Ash waren begeistert von der Location.<br />
Gisbert zu Knyphausen stimmte die Gitarre<br />
hoch über dem Kiez, und die Sängerin Oceana war zu<br />
Gast, als noch niemand sie kannte. Das Potenzial von<br />
Balcony TV als Plattform für Newcomer erkannten<br />
schnell auch die Plattenlabels und Promoter. Bis heute<br />
schicken sie gern ihre neuen Acts vorbei. Auch<br />
weltweit expandiert Balcony TV. An die 40 Balkone<br />
gibt es inzwischen. Sie stehen unter anderem in den<br />
USA, in Russland, Indien, Japan und Israel.<br />
Doch dann, vor eineinhalb Jahren, sollte in Hamburg<br />
auf einmal alles vorbei sein: Den Fernsehmachern<br />
wurde gekündigt. Die Stadt wollte das Gebäude<br />
abreißen, um den Kiez noch glatter und touristentauglicher<br />
zu machen. Was tun? Gar nicht so einfach, ohne<br />
Geld – Balcony TV ist komplett eigenfinanziert und<br />
erhält keine Kulturförderung – eine neue Location zu<br />
finden, die zu ihnen passte. Nach längerer Suche landeten<br />
sie im Bunker, einem stadtbekannten Ort, der<br />
unter anderem einen Musikerbedarfsladen und den<br />
Club Terrace Hill beherbergt, auf dessen Balkon sie<br />
seitdem zu Gast sind. Der neue, größere Balkon hat<br />
seine Vorteile: Es ist kein Problem, eine achtköpfige<br />
Band wie Mardi Gras.bb aus Mannheim, die gerade<br />
ihre Blasinstrumente auspackt, einzuladen. Die Herren<br />
in Dreiteilern mit Einstecktuch wirken wie eine<br />
Kreuzung aus Max Raabe und einer Brass-Band aus<br />
dem letzten Jahrhundert. Ihr Song „Bumblebee“<br />
bringt den ganzen Balkon zum Swingen.<br />
An die 1.500 Bands haben Johanna Leuschen<br />
und Lars Kaufmann seit Bestehen von Balcony TV<br />
präsentiert. Macht 1.500 „Take it away“-Rufe vor dem<br />
Auftritt und 1.500 „Woohoo“-Rufe danach. Es sei immer<br />
wieder großartig, zu sehen, wie viele richtig gute<br />
Bands es gibt, sagt Johanna. Bands, die oft nicht von<br />
dem leben können, was sie machen, die aber trotzdem<br />
mit ganzem Herzen dabei sind. Und es sei ein gutes<br />
Gefühl, fügt sie nicht ohne Stolz hinzu, die richtige<br />
Idee zur richtigen Zeit gehabt zu haben.<br />
Auf dem Balkon hat die Kälte das Regiment<br />
übernommen. Und auch die Nebelwand rückt immer<br />
näher. Wie gut, dass das Leipziger Duo The Fuck Hornisschen<br />
Orchestra in seiner Nummer zu einer Art<br />
Tanz-Workout auffordert. Die beiden Jungs tragen<br />
Trachtenjacken und wollen ihren Song als Hommage<br />
an DJ BoBo verstanden wissen. Dann legen sie los. Wo<br />
oben und unten ist, ist jetzt egal. Fest steht nur: Wer auf<br />
Balcony TV zu sehen ist, ist ganz vorn mit dabei.<br />
2<br />
3<br />
1<br />
HOCHSCHUL<br />
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22
4<br />
6<br />
Leidenschaft statt Klingelton-Pop. Euphorie<br />
bei Wetter wie aus der Erkältungs-<br />
Reklame. Und jede Band darf nur einen<br />
Song spielen. Der Effekt: Die Musik, die<br />
später im Netz zu sehen ist, wirkt so live<br />
wie bei einem Konzert bei Freunden.<br />
(1) Soundcheck und Vorgespräch mit Miss<br />
Mary Mack. Gleich wird ihr Song aufgenommen.<br />
Ein Take, dann kurz kreischen, fertig.<br />
(2) Lars Kaufmann und Johanna Leuschen<br />
machen beim NDR Fernsehen und gemeinsam<br />
Balcony TV. (3) Cooler Sound bei null<br />
Grad Celsius in Hamburg: Dad Rocks! aus<br />
Dänemark. (4) Folk aus den Niederlanden:<br />
Mr Richard. (5) Im Aufzug und im Anzug<br />
zum Balkon: Mardi Gras.bb aus Mannheim.<br />
(6) The Fuck Hor nisschen Orchestra aus<br />
Leipzig. Das Duo ist Fan von DJ BoBo.<br />
5<br />
HOCHSCHUL<br />
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23
V O N D A N I E L H A A S<br />
PROFESSOR URKNALL<br />
Zehn Millionen Amerikaner schalten jede Woche ein, wenn eine neue Folge von „Big Bang<br />
Theory“ im Fernsehen kommt – und auch in Deutschland läuft die Sitcom über die beiden<br />
nerdigen Physiker Sheldon und Leonard auf Pro Sieben erfolgreich. Damit jedes Detail stimmt,<br />
wenn das WG-Duo – die Stars der Serie – über schwarze Materie oder Laserstrahlen fachsimpeln,<br />
berät Physikprofessor David Saltzberg das Big-Bang-Team. Wir haben ihn angerufen.<br />
Unser Fazit: Der Mann braucht schnellstens eine eigene Sendung …<br />
COLLAGE: FRIZZI KURKHAUS<br />
Könnte der Sohn von Danny DeVito sein – ist<br />
aber David Saltzberg, Professor für Physik und<br />
Astronomie an der University of California.<br />
Und nebenher: Serienberater.<br />
HOCHSCHUL<br />
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24
FOTOS: PROSIEBENSAT.1 MEDIA AG, GREG GAYNE<br />
Mr. Saltzberg, Sie sind Astrophysiker. Wie wird man zum wissenschaftlichen<br />
Berater einer Sitcom?<br />
Die Schöpfer der Serie wollten die Momente vermeiden, wenn im<br />
Fernsehen einer wissenschaftlich tut und die Fachwelt zuckt schaudernd<br />
zusammen.<br />
Wie sieht Ihre Arbeit genau aus?<br />
Die Autoren schicken mir die erste Drehbuchfassung der betreffenden<br />
Folge. In den Scripts gibt es Leerstellen, da steht dann: „Hier<br />
ein bisschen Physik rein, bitte.“ Zum Beispiel, wenn Sheldon und<br />
Leonard irgendwelche verrückten Experimente planen, wie zum<br />
Beispiel den Mond mit einem Laser zu beschießen.<br />
Die meisten Zuschauer würden sachliche Fehler doch gar nicht<br />
bemerken.<br />
Stimmt, aber es geht auch um die Ehre.<br />
Sie sind also eine Art Drehbuchlektor?<br />
Nein, ich bin auch am Set und dort für die Whiteboards zuständig,<br />
die Tafeln, die die Nerds in ihrem WG-Wohnzimmer oder im Büro<br />
hängen haben. Darauf stehen immer Formeln. Die beziehen sich<br />
meistens auf ein Thema im Dialog, manchmal suche ich mir aktuelle<br />
Fragen der Physik. Meine Kollegen freuen sich dann, wenn ihre<br />
neuesten Forschungsergebnisse im Fernsehen auftauchen.<br />
Alle in der Serie gezeigten Formeln sind korrekt?<br />
Hundertprozentig. Neulich hat mir einer von der NASA einen Fehler<br />
nachweisen wollen, aber da haben wir gleich mal nachgesehen.<br />
Von wegen falsch, die Gleichung war nur ein bisschen schlampig<br />
auf das Board geschrieben worden.<br />
Glauben die Leute nicht sowieso: Die ganzen Wissenschaftszitate<br />
sind zusammenfantasiert?<br />
Klar, aber das ist ja das Beste, wenn dann einer googelt und feststellt,<br />
dass es all diese Dinge wirklich gibt: Suprafluidität, dunkle Materie.<br />
Wir sind sozusagen wissenschaftliche Erzieher, inkognito.<br />
Es gibt regelmäßig Laborszenen in der Serie. Sind Sie da auch<br />
gefragt?<br />
Und wie. Neulich hat mich die Requisitenabteilung angerufen. Es<br />
ging um ein Experiment, das Leonard machen sollte. Die Originalteile<br />
dafür wären sehr teuer gewesen, Vakuumröhren, Sie verstehen.<br />
Ehrlich gesagt …<br />
Na, ja, ich hatte noch eine Menge passendes Zeug zu Hause rumliegen,<br />
das habe ich den Jungs gegeben, und dann haben sie nach<br />
meinen Angaben eine wunderschöne integrierte Ionenfalle gebaut.<br />
Manchmal denke ich, bevor ich Kollegenbesuch bekomme, sollte<br />
ich mir von den Requisiteuren ein paar richtig schicke Sachen basteln<br />
lassen.<br />
Wie hat die wissenschaftliche Szene die Serie aufgenommen?<br />
Viele dachten erst, jetzt werden wir heftig durch den Kakao gezogen.<br />
Mittlerweile sind die meisten begeistert. Ich war vor zwei<br />
Wochen bei einer Tagung, da haben mir einige Studierende gesagt,<br />
aufgrund von „Big Bang Theory“ würden sie jetzt mehr Kurse belegen.<br />
Auch wenn wir Nerds zeigen, richtig irre Typen, sind diese<br />
Leute doch total liebenswürdig.<br />
Viele Ihrer Studierenden träumen sicher davon, mal ans Set zu<br />
kommen.<br />
Und wie. Deshalb gibt es auch den „Geek of the week“. Während<br />
des Semesters nehme ich pro Woche einen Studierenden mit zu den<br />
Dreharbeiten. Das sind meistens Hauptfachstudierende, die besonders<br />
fleißig waren. Und die Macher der Serie kriegen im Gegenzug<br />
noch andere meiner Spezis zu Gesicht. Die sollen ja nicht denken,<br />
alle Physiker sähen so aus wie ich.<br />
Hat Ihre Beratertätigkeit für die Serie Ihre Art zu unterrichten<br />
beeinflusst?<br />
Wenn man eine Dialogszene im Fernsehen sieht, dann wirkt das so<br />
simpel, und man bemerkt nicht, dass Dutzende Profis im Hintergrund<br />
arbeiten, um das hinzukriegen. Eine Vorlesung dagegen ist<br />
eine simple Performance. Da wird man ein bisschen bescheidener<br />
und hält sich nicht mehr für den ganz tollen Hengst.<br />
Sheldon, einer der Seriencharaktere, ist ein extremer Nerd: hochbegabt,<br />
arrogant und nervig. Ist das ein plausibler Charakter?<br />
Neulich waren wir beim Mittagessen, und ich habe die Platzverteilung<br />
so kompliziert gemacht und mich dann auch noch über das<br />
Klima in der Kantine und über das Publikum beschwert, dass ein<br />
Kollege sagte: Mann, du benimmst dich schon wie dieser schräge<br />
Typ aus der Serie.<br />
BIG BANG<br />
THEORY<br />
Die beiden hochbegabten Physiker<br />
Sheldon (2. v. l.) und Leonard (3. v. l.)<br />
teilen sich eine Wohnung, lieben Star<br />
Trek, Videospiele und haben ansonsten?<br />
Vom Leben keine Ahnung. Zum<br />
Glück gibt es die Nachbarin Penny,<br />
Kellnerin und clever in allen Bereichen,<br />
in denen die Geeks hilflos sind. Das<br />
Trio ist befreundet mit dem Ingenieur<br />
Howard (rechts) und einem weiteren<br />
Astrophysiker: Raj (ganz links). 2013<br />
läuft die sechste Staffel auf Pro Sieben.<br />
Die Serie gewann bislang zwei Emmys<br />
und einen Golden Globe.<br />
DIPLOMA Hochschule<br />
Private staatlich anerkannte Hochschule<br />
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25
ARRIERE<br />
Supersatz<br />
„Für jeden,<br />
der gewinnen will,<br />
ist Erfolg eine Droge.<br />
Du willst mehr<br />
und mehr – je schneller,<br />
desto besser.“<br />
SEBAS T IAN V E TTEL, 25,<br />
F O R MEL-1-WELTMEIS T ER<br />
HEADHUNTER-TALK<br />
Richard Fudickar, 64, berät seit mehr als 25 Jahren Unternehmen in<br />
Personalfragen. Als Partner bei Boyden International ist er unter<br />
anderem für die Automobilindustrie zuständig.<br />
E-Mobility, intelligente Netze, Verbrauchsreduktion – das sind die großen Trends, mit denen<br />
sich zukünftige Führungskräfte in der Automobilindustrie beschäftigen müssen. Es ist aber<br />
nicht notwendig, sich von Anfang an auf diese Bereiche zu spezialisieren. Neben fachlichen<br />
Qualifikationen gibt es natürlich auch andere Erfolgsfaktoren.<br />
Viele unterschätzen zum Beispiel, wie sehr die Unternehmenskultur ihre Mitarbeiter prägt.<br />
Es macht einen großen Unterschied, ob ich bei Volkswagen, Opel oder Porsche gearbeitet habe –<br />
nicht nur, weil die Produkte so verschieden sind, sondern weil die Art, mit der das Unternehmen<br />
geführt und Freiraum gewährt wird, jeden Mitarbeiter beeinflusst. Deshalb ist es sehr wichtig,<br />
beim Jobeinstieg ein Unternehmen zu finden, das zu einem passt. Denn als Personalberater wissen<br />
wir natürlich, welche Firmenkulturen sich ähneln, und versuchen, dementsprechend zu vermitteln.<br />
Wie wohl man sich fühlt, ist daher einer der wichtigsten Faktoren für Erfolg.<br />
Wenn man ein passendes Unternehmen gefunden hat, sollte man alle Förderungsmöglichkeiten<br />
wahrnehmen und dort so lange bleiben, bis die Beförderung realisiert ist. Außerdem empfehle<br />
ich, innerhalb der ersten fünf Jahre Auslandserfahrungen zu sammeln. Gerade in der Industrie<br />
sind die Entwicklungschancen im Ausland groß. Weltoffenheit und interkulturelle Erfahrung<br />
sind deshalb unerlässlich; ohne diese Eigenschaften kommt man heute für viele<br />
Spitzenpositionen nicht mehr infrage.<br />
WIE HABEN SIE DAS GEMACHT?<br />
J U R A S TUD I U M<br />
A USL ANDS S E M E S T E R<br />
D OKTOR ARB E I T<br />
W ELT R EIS E<br />
A N W A L T B E I F R E S HFI ELDS<br />
H A M BUR G<br />
CAM B R IDGE<br />
H A M BUR G<br />
Malte Schafstedde, 30, vertritt und verteidigt internationale<br />
Unternehmen – als Anwalt bei Freshfields Bruckhaus Deringer,<br />
einer der weltweit größten Anwaltskanzleien.<br />
Um ehrlich zu sein, hat sich mein Lebensweg ganz natürlich gefügt, ich bin<br />
kein Fan von durchgeplanten Karrieren. Ich habe mein Studium an der Bucerius<br />
Law School angefangen, aber ich hatte mich auch an anderen Unis<br />
beworben, weil das Aufnahmeverfahren von Bucerius aufwendig ist und<br />
jeweils nur 100 Leute zugelassen werden. Die Law School ist sehr schulisch<br />
strukturiert, aber mir hat dieses getaktete Studium zusammen mit hoch motivierten<br />
Leuten viel Spaß gemacht. Ich habe dort nicht nur unheimlich viel<br />
gelernt, sondern vor allem auch gute Freunde gefunden.<br />
An der Law School muss man ein Jahr im Ausland verbringen, dafür<br />
bin ich nach Cambridge gegangen. Das war ein einmaliges Erlebnis für<br />
mich. Dort sitzt man als Studierender allein oder zu zweit mit Professoren<br />
im Kaminzimmer und diskutiert juristische Probleme. Ich glaube,<br />
Auslands erfahrungen bringen jeden weiter, ganz egal, wo man was studiert.<br />
P R O TOKOL L : F R A N Z I S K A B U L B A N<br />
H A M BUR G<br />
Danach habe ich promoviert, um weiter wissenschaftlich zu arbeiten.<br />
Doch irgendwann stand fest, dass ich Anwalt sein will – Jura hat für mich<br />
immer bedeutet, für abstrakte Probleme eine Lösung zu finden, Handlungsanweisungen<br />
zu geben, und das kann man als Anwalt am besten.<br />
Parallel zum Studium habe ich einige Praktika gemacht: bei sieben<br />
verschiedenen Kanzleien, aber auch in einer Bank, um zu sehen, was zu mir<br />
passt. Bei meinem jetzigen Arbeitgeber Freshfields habe ich mich von Anfang<br />
an wohlgefühlt. Ich war in einem entspannten Team und hatte auch<br />
nach meinem Praktikum sporadisch Kontakt zu meinen Kollegen. Deshalb<br />
habe ich mich über die Zusage sehr gefreut. Aber bevor ich angefangen<br />
habe, richtig zu arbeiten, bin ich vier Monate lang um den Globus gereist –<br />
die Welt zu sehen, steht zwar nicht auf dem Lehrplan, aber so eine Erfahrung<br />
würde ich wirklich jedem empfehlen.<br />
F O TOS: A - W A Y, PLAINP I C TUR E, P R I V A T ; I L L U STR A T I O N : M A T THI A S S E I F A R T H<br />
HOCHSCHUL<br />
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30
BEWERBUNGSCOACH<br />
Wie kann man nach einem Praktikum<br />
mit dem Unternehmen in Kontakt bleiben,<br />
ohne aufdringlich zu sein?<br />
Mit dieser Frage offenbart sich ein generelles Problem: Wer sie stellt, glaubt oft, nicht gut genug zu sein;<br />
schämt sich dafür, etwas zu wollen (nämlich einen Job), und empfindet sich als potenzielle Belastung.<br />
Schlimmer noch: Man drängt sich auf. Dabei ist meist das Gegenteil der Fall. Ein Unternehmen hat Interesse<br />
an qualifizierten Mitarbeitern und möchte schon erfahren, worauf sich ehemalige Praktikanten<br />
spezialisieren, wann jemand mit seinem Studium fertig ist und „loslegen“ kann. Kontakte aus einem<br />
Praktikum zu pflegen, ist für beide Seiten von Vorteil. In einem Unternehmen arbeiten zu wollen, ist ein<br />
bisschen wie bei einer Liebesbeziehung: Man muss Vertrauen aufbauen, zeigen, dass man die Bedürfnisse<br />
des anderen kennt, und dann ein bisschen baggern. Wer zu schüchtern ist, wird dabei leicht übersehen.<br />
Also: Nicht zögern, einfach machen. Ein Praktikant, der den Weg seiner Wunsch-Firma verfolgt, weiß<br />
natürlich, welche Projekte in Zukunft anstehen und womit er zum Gelingen eines Projektes beitragen<br />
könnte. Wer sich fachlich informiert zeigt, wird immer ein angenehmer Gesprächspartner für ehemalige<br />
Kollegen und Vorgesetzte sein, die man völlig locker auf Messen, bei Informationsveranstaltungen,<br />
vielleicht ab und zu beim Kantinenessen trifft. Wie wäre es, per E-Mail eine Kurzbeschreibung der<br />
Abschlussarbeit mit einem Dank für die Praktikumsbetreuung an den Teamchef zu schicken? Gute<br />
Kontakte, in die Zeit und Engagement investiert wurden, sind der beste Rückhalt in Bewerbungszeiten.<br />
Aus diesem Netzwerk kommen im entscheidenden Moment wichtige Empfehlungen – dann klappt es<br />
vielleicht sogar mit einem Job bei der Konkurrenz.<br />
Job um 20.15 Uhr<br />
Die endlose Nachfolgersuche<br />
für „Wetten,<br />
dass..?“ hat es<br />
offenbart: Herausragende,<br />
originelle<br />
Moderatorenpersönlichkeiten<br />
sind in<br />
Deutschland schwer<br />
zu finden. Darum<br />
will sich Frank Elstner,<br />
der Erfinder etlicher<br />
großer Samstagabend-Shows,<br />
jetzt persönlich um die Ausbildung<br />
des Moderatoren-Nachwuchses kümmern. Im<br />
Frühjahr beginnen die ersten zehn der unter 1.600<br />
Bewerbern ausgewählten Kandidaten ihr sechsmonatiges<br />
Ausbildungstraining in der „Frank-<br />
Elstner-Masterclass“, bei dem der 70-Jährige persönlich<br />
individuellen Moderationsunterricht geben<br />
wird. www.moderatoren-fuer-morgen.de<br />
MARTINA REHBERG-RECHTENBACH ist Bewerbungscoach mit dem Schwerpunkt Akademikerberatung.<br />
In jeder Ausgabe klärt sie eine der vielen Fragen auf dem Weg zwischen Annonce und Vorstellungsgespräch.<br />
Mehr Gehalt – oder<br />
mehr Freizeit?<br />
Am Freitag um 14 Uhr singend aus dem<br />
Büro tanzen – oder auch am Samstag<br />
arbeiten, dafür aber mehr verdienen?<br />
Was wünschen wir uns? Mehr Freizeit<br />
oder mehr Geld? Eine Befragung des<br />
Statistischen Bundesamtes – die sogenannte<br />
Arbeitskräfteerhebung – kommt<br />
zu einem überraschenden Ergebnis. 3,7<br />
Millionen Menschen in Deutschland<br />
würden gern länger arbeiten – durchschnittlich<br />
11,5 Stunden mehr pro Woche<br />
–, solange sie dafür auch entsprechend<br />
bezahlt werden. Der Wunsch, als<br />
Vollzeitbeschäftigter trotzdem noch<br />
mehr Zeit in der Firma zu verbringen,<br />
wird übrigens vor allem von Männern<br />
geäußert. Hingegen gibt es nur knapp<br />
eine Million Menschen, die ihre Wochenarbeitszeit<br />
reduzieren möchten<br />
und dafür auch auf Gehalt verzichten<br />
würden. Die „Überbeschäftigten“ wären<br />
pro Woche gern 11,7 Stunden weniger<br />
am Arbeitsplatz.<br />
HOCHSCHUL<br />
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31
P R O T O K O L L E :<br />
A I L E E N T I E D E M A N N<br />
ANFÄNGER-<br />
GLÜCK<br />
Die ersten Monate im neuen Job sind häufig super. Und genauso häufig<br />
super anstrengend. Wir haben fünf Ex-Studierende getroffen und<br />
uns von ihren ersten Monaten in der Arbeitswelt berichten lassen.<br />
Alles über Geschäftsessen mit Koreanern, Möbel mit Fettpolstern<br />
und einen Klassenraum mit 30 Kindern lesen Sie hier.<br />
FOT O S : SEBAS T IAN PF Ü TZE, GULLIVER T H EIS<br />
Ich bin Problemlöserin und Entscheidungshelferin.<br />
Wenn eine Firma ein neues Produkt auf den Markt<br />
bringen oder seine Marke schärfer definieren will,<br />
dann entwickle ich mit meinen Kollegen Handlungsempfehlungen.<br />
Für einen Kunden befasse ich mich<br />
zum Beispiel gerade mit dem weltweiten Kaffeemarkt<br />
und erarbeite eine Marktstrategie für seine neuartigen<br />
Produkte, die einen Markt jenseits von Kaffeepads und<br />
-kapseln bedienen sollen. Damit ich weiß, wovon ich<br />
rede, lese ich mich jeden Tag quer durch unterschiedlichste<br />
Blogs, Magazine, wissenschaftliche Studien<br />
und betreibe Marktforschung. Wie man strategisch<br />
dabei vorgeht, die wahren Probleme hervorzubringen,<br />
habe ich während meines Studiums gelernt. Mein Job<br />
gefällt mir sehr gut. Dennoch hatte ich mir alles etwas<br />
aufregender vorgestellt. Ich hatte gedacht, dass ich<br />
viel mehr bewegen kann, als es derzeit der Fall ist. Ein<br />
großer Teil meiner Arbeit besteht darin, mich in die<br />
Welt unserer Auftraggeber und deren Kunden einzufühlen<br />
und Kommunikationskonzepte und Geschäftsmodelle<br />
zu entwickeln, die ihnen dabei helfen, langfristig<br />
erfolgreich zu bleiben. Leider gibt es hin und<br />
wieder Projekte, bei denen Ideen so lange totgeredet<br />
werden, bis am Ende kaum noch etwas von unseren<br />
ursprünglichen Einfällen übrig ist. Wirklich innovative<br />
Konzepte haben es schwer in Deutschland,<br />
weil sich kaum eine Firma traut, etwas ganz Neues<br />
auszuprobieren. Das ist ein Punkt, der mich stört –<br />
gerade weil wir so ein kreatives Team sind und so<br />
viel Potenzial haben. Oft komme ich abends total<br />
erschöpft nach Hause und habe keine Energie mehr,<br />
etwas zu unternehmen –, obwohl ich jetzt das nötige<br />
Geld dazu hätte. In meinem ersten Berufsjahr habe<br />
ich gelernt, dass man nichts geschenkt bekommt.<br />
Man muss seine Rechte selbst einfordern, etwa<br />
wenn es um Gehaltserhöhungen geht, und sich klare<br />
Ziele setzen. Mein nächstes heißt Istanbul. Dort will<br />
ich mich nächstes Jahr selbständig machen – und<br />
einfach mal ausprobieren, was ich aus eigener Kraft<br />
bewegen kann.<br />
HOCHSCHUL<br />
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32
WER?<br />
Deniz Ficicioglu, 29<br />
WAS?<br />
Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikationsstudium<br />
an der Universität der Künste,<br />
Berlin<br />
UND JETZT?<br />
Seit Oktober 2011 Strategin<br />
bei der Innovationsagentur „Nerd<br />
Communications“ in Berlin<br />
Gestatten? Problemlöserin<br />
Deniz Ficicioglu wünscht sich<br />
mehr Mut – und macht sich<br />
bald in Istanbul selbständig.<br />
HOCHSCHUL<br />
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33
WER?<br />
Benjamin Renner, 25<br />
WAS?<br />
Wirtschaftsstudium an der HSBA Hamburg<br />
School of Business Administration<br />
UND JETZT?<br />
Seit März 2011<br />
als Vertriebsmitarbeiter beim Handelshaus<br />
C. Illies & Co. in Hamburg<br />
Ab hier nur noch mit Krawatte, bitte:<br />
Benjamin Renner arbeitet in einem<br />
Hamburger Handelshaus und trifft<br />
Kunden aus der ganzen Welt.<br />
Jeden Morgen, wenn ich meinen Anzug anziehe und<br />
mir eine Krawatte umbinde, schlüpfe ich in meine<br />
neue Rolle als Berufstätiger. „Kleiden Sie sich jeden<br />
Tag so, als könnten Sie jederzeit zu einem Termin<br />
ins Hotel Vier Jahreszeiten gehen.“ So lautet das<br />
Motto des Handelshauses, für das ich arbeite. Trotzdem<br />
ist die Stimmung dort viel lockerer als gedacht.<br />
Nach der Arbeit gehe ich oft mit Kollegen zum After-Work-Club,<br />
und letztens waren wir in der Golflounge.<br />
Mein Studium an der HSBA hat mich sehr gut<br />
auf die Anforderungen des Berufslebens vorbereitet,<br />
weil ich die Hälfte der dreijährigen Ausbildung bereits<br />
in verschiedenen Unternehmen verbracht habe.<br />
Schon drei Monate vor Studienende hatte ich die Zusage<br />
für meinen ersten Job in der Tasche – ein sehr<br />
beruhigendes Gefühl. Trotzdem ist es ganz anders,<br />
plötzlich fest in einem Unternehmen zu arbeiten. Ich<br />
möchte nicht mehr so viele Fragen stellen und muss<br />
die Firma repräsentieren. C. Illies & Co. exportiert<br />
Maschinen nach Asien. Viele der Technologien sind<br />
so komplex, dass ich mich genau einlesen muss, bevor<br />
ich mich mit Handelspartnern treffe. Vor allem<br />
bei Terminen mit Geschäftskunden aus dem Ausland<br />
wird mir meine Verantwortung bewusst. Gerade<br />
war ich mit sechs Koreanern in München, die mich<br />
mit Fragen gelöchert haben. „Wie viele Einwohner<br />
hat München? Welche sind die wichtigsten Firmen<br />
hier?“ Da ist es hilfreich, die passenden Antworten<br />
zu haben. Reisen ins Ausland finde ich aufregend<br />
und anstrengend zugleich, weil ich den ganzen Tag<br />
mit den Kunden verbringe und professionell wirken<br />
muss. Man lernt, mit älteren Leuten zu reden, und<br />
übernimmt deren Verhaltensweisen. Oft erwische ich<br />
mich dabei, dass ich mich auch in meinem Privatleben<br />
gewählter ausdrücke. Außerdem bin ich nicht<br />
mehr so spontan wie früher und plane Lunchtermine<br />
mit Freunden zwei Wochen im Voraus. Zum Glück<br />
arbeiten viele meiner Kumpels auch schon. Im Unterschied<br />
zu denen, die noch studieren, sind wir viel<br />
organisierter und auch ein Stück weit abgeklärter.<br />
HOCHSCHUL<br />
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34
Sich und seine Ideen gut zu verkaufen, macht 60 Prozent<br />
des Erfolges aus, sagt Produktdesignerin Milena Krais.<br />
Geld ist knapp, aber ihre Stühle und Sessel stehen mittlerweile<br />
schon in Neapel.<br />
WER?<br />
Milena Krais, 26<br />
WAS?<br />
Textilproduktdesign-Studium<br />
an der Hochschule für Angewandte<br />
Wissenschaften, Hamburg<br />
UND JETZT?<br />
Seit einem Jahr freiberuflich<br />
als Produktdesignerin<br />
in Hamburg tätig<br />
Dranbleiben! Das ist die wichtigste Lektion, die<br />
ich in meinem ersten Jahr als freiberufliche Textilproduktdesignerin<br />
gelernt habe. Je mehr Galerien<br />
meine Möbel ausstellen und je mehr ich auf Messen<br />
für meine Produkte werbe, desto besser. Sich gut zu<br />
verkaufen, macht 60 Prozent der Arbeit aus. Die Idee<br />
kann noch so kreativ sein, aber nur wenn man sich<br />
einen Namen macht, kann man 500 Euro für einen<br />
Stuhl verlangen. Gleich nach dem Studium war mir<br />
klar, dass ich eigenständig Ideen entwickeln will. Wie<br />
schwierig das werden würde, hat mir vorher kein Dozent<br />
gesagt. Das Studium an der Hochschule für Angewandte<br />
Wissenschaften in Hamburg ist sehr künstlerisch<br />
orientiert. Hilfestellungen, wie man sich später<br />
auf dem freien Markt behaupten kann, bekommt man<br />
leider nicht. Dabei ist die Konkurrenz riesig und der<br />
deutsche Möbelmarkt relativ klein. Meine erste Kollektion<br />
„Deform“ bestand aus Hockern mit X-Beinen<br />
und Stühlen mit Fettpölsterchen – und es hat einige<br />
Zeit gedauert, bis ich die passenden Käufer gefunden<br />
habe. Eine Italienerin hat meine Möbel in ihrer Galerie<br />
bei Neapel ausgestellt, was für mich eine tolle<br />
Bestätigung war. Generell ist es gar nicht so leicht,<br />
die richtigen Leute kennenzulernen. Auf Märkten für<br />
Hobby-Kreative trifft man sie auf jeden Fall nicht,<br />
sondern eher auf Fachmessen wie der „Maison et<br />
Objet“ in Paris oder auf der DMY in Berlin. Dort<br />
auszustellen kostet leider viel Geld. Das macht es<br />
Newcomern wirklich schwer, in den Markt hineinzukommen.<br />
Bislang übersteigen meine Ausgaben meine<br />
Einnahmen noch, und ich bin auf Sponsoren angewiesen,<br />
wenn ich etwa Material wie Schaumstoff für<br />
neue Prototypen brauche. Ständig bin ich damit beschäftigt,<br />
mich selbst zu vermarkten. Ich muss Flyer<br />
entwerfen und drucken, meine Produkte fotografieren,<br />
Werbetexte schreiben und meine Website auf<br />
dem neuesten Stand halten. Nach dem Erfolg meiner<br />
eher etwas teureren Sitzmöbel habe ich mir für meine<br />
nächste Kollektion vorgenommen, Produkte zu entwerfen,<br />
die einen größeren Markt haben. Man muss<br />
eben vor allem praktisch denken, wenn man endlich<br />
mal Geld verdienen will …<br />
HOCHSCHUL<br />
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35
WER?<br />
Marleen Wöhe, 28<br />
WAS?<br />
Lehramtsstudium an der Universität Potsdam<br />
UND JETZT?<br />
Seit diesem Sommer Lehrerin für Spanisch<br />
und Deutsch an einem Gymnasium<br />
in Berlin-Charlottenburg<br />
Guten Tag, ich bin die Neue: Marleen Wöhe unterrichtet an<br />
einem Berliner Gymnasium, mag den Job, braucht jetzt<br />
aber öfter ein Mittagsschläfchen.<br />
In den ersten Wochen an der Schule sind so viele neue<br />
Eindrücke auf mich eingeströmt, dass ich dachte: Das<br />
schaffe ich nie! Es ist ein Unterschied, ob man sich in<br />
einem Büro einzig und allein auf vier Kollegen einstellen<br />
muss oder auf eine Klasse mit 30 Schülern,<br />
die alle ihre eigenen Probleme mitbringen, auf die<br />
man eingehen muss. Ich habe schnell gemerkt, dass<br />
in der Praxis nicht alles so funktioniert wie in der<br />
Theorie. Letztens haben sich zwei Schüler in der Pause<br />
geprügelt, und danach war kaum noch Unterricht<br />
möglich. Da ist man dann mehr mit Erziehungsarbeit<br />
beschäftigt als mit dem eigentlichen Lehrstoff. In solchen<br />
Momenten ist es wichtig, nicht enttäuscht oder<br />
frustriert zu sein. Man muss seine Erwartungen dann<br />
zum Teil zurückschrauben. Von der Uni habe ich mich<br />
nicht ausreichend auf die Schule vorbereitet gefühlt,<br />
obwohl die Uni Potsdam meines Erachtens schon sehr<br />
praxisorientiert ist. Vieles, was ich dort gelernt habe,<br />
war dennoch viel zu theoretisch. Zum Glück habe ich<br />
schon während des Studiums als Aushilfslehrerin arbeiten<br />
können, sodass der Beginn des Referendariats<br />
für mich keinen Sprung ins eiskalte Wasser bedeutete<br />
– so wie es bei vielen anderen Lehramtsanwärtern<br />
der Fall ist. Viele merken leider zu spät, dass sie sich<br />
für den falschen Job entschieden haben. Perfekt wäre<br />
es, wenn man sein erstes Praktikum schon im ersten<br />
Semester machen müsste und nicht erst im fünften.<br />
Außerdem sollte es eine Art Eingangstest geben, bei<br />
dem geprüft wird, ob jemand das Lehramtsstudium<br />
beginnen darf. Denn nicht jedem liegt die Arbeit mit<br />
Kindern und Jugendlichen. Ich habe schnell gemerkt,<br />
dass der Schulalltag genau mein Ding ist. Ich kann<br />
gut mit Kindern und finde den Beruf sehr menschlich.<br />
Man hat viele soziale Kontakte, und es wird definitiv<br />
nie langweilig. Trotzdem bin ich nach der Arbeit<br />
häufig so erschöpft, dass ich erst mal ein Mittagsschläfchen<br />
machen muss. Seit ich arbeite, gehe ich<br />
abends nicht mehr so viel weg, weil das ungemein<br />
viel Energie kostet. Dennoch sind Auszeiten wichtig.<br />
Wenn ich unzufrieden mit meinem Privatleben bin,<br />
wirkt sich das auch auf den Unterricht aus. Ich bereite<br />
mich lieber mal nicht hundertprozentig vor, als vor<br />
lauter Überarbeitung mit Augenringen und schlechter<br />
Laune vor der Klasse zu stehen. Ich bin gern Lehrerin<br />
und will mir meinen Idealismus nicht nehmen lassen.<br />
Wenn ich spüre, dass bei einem Schüler der Groschen<br />
gefallen ist, dann ist das für mich die schönste Belohnung<br />
für all die Arbeit.<br />
HOCHSCHUL<br />
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36
WER?<br />
Konrad Hnatow, 28<br />
WAS?<br />
Studium zum Wirtschaftsingenieur<br />
an der Technischen Universität Darmstadt<br />
UND JETZT?<br />
Seit August 2012 Energieberater<br />
bei Scherbeck Energy in Berlin.<br />
Nebenher: Promotion an der Technischen<br />
Universität Berlin mit einer Arbeit<br />
über die Solarindustrie<br />
Energieberater Konrad Hnatow<br />
konnte sich seinen Job aussuchen,<br />
hat jetzt mehr Freizeit als im Studium – und<br />
macht auch noch das, was er schon immer<br />
tun wollte. Wo gibt’s denn so was?<br />
Bis aufs Wetter also alles super.<br />
Ich empfinde meine Arbeit als sehr erfüllend, weil die<br />
effiziente Nutzung von Energie von hoher Bedeutung<br />
ist. Nicht nur für die Zukunft des Industriestandortes<br />
Deutschland, sondern auch für die Bekämpfung von<br />
Hungersnöten in den ärmsten Regionen der Welt. Seit<br />
ich als Consultant in der Energieberatung arbeite, sauge<br />
ich alle Informationen zu dem Thema auf und genieße<br />
es, mich mit meinen Kollegen auszutauschen.<br />
Zu meinen Aufgaben gehört es, Energieunternehmen<br />
und Energieverbraucher in Wirtschaftsfragen zu<br />
beraten und zum Beispiel mit ihnen zu analysieren,<br />
wie sie Energie einsparen können. Jedes Projekt ist<br />
anders, weshalb es nie langweilig wird. Ich reise<br />
viel, treffe die unterschiedlichsten Menschen – dass<br />
Zufriedenheit im Job einem derart viel Rückenwind<br />
geben kann, hätte ich nicht erwartet. Außerdem habe<br />
ich wirklich das Gefühl, das zu tun, was ich schon<br />
immer machen wollte. Verrückterweise habe ich jetzt<br />
fast mehr Freizeit als während meines Studiums. Ein<br />
Büro hat ja den Vorteil, dass man in der Regel die Arbeit<br />
dort lassen kann. Ich erlebe jetzt erstmals einen<br />
Feierabend ohne das Gefühl, eigentlich noch an etwas<br />
arbeiten zu müssen. Freie Wochenenden waren<br />
für mich während des Studiums eine Seltenheit bis<br />
hin zu undenkbar. Insofern ist mir die Umstellung<br />
vom Studentendasein auf den Arbeitsalltag nicht<br />
allzu schwergefallen. Stattdessen freue ich mich, all<br />
das anwenden zu können, was ich gelernt habe. Es<br />
ist eine schöne Bestätigung, gebraucht und gewollt<br />
zu werden. Gleich nach meinem Abschluss haben mir<br />
mehrere Firmen Jobs angeboten – und ich konnte mir<br />
den heraussuchen, der mir am besten gefällt.<br />
HOCHSCHUL<br />
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37
V O N D A N I E L K A S T N E R<br />
DIE MEILEN-MASCHINE<br />
Das Auto von morgen muss vor allem eines sein: unglaublich sparsam. Das klingt erst mal<br />
sauöde. Dabei ist die Suche nach dem perfekten Antrieb nicht weniger als ein Technik-<br />
Krimi, in dem Studierenden-Teams eine wichtige Rolle spielen. Wir haben eines getroffen.<br />
FOTOS: VOLKER SCHRANK<br />
HOCHSCHUL<br />
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38
Eine Werkshalle, neonhell erleuchtet, Turbinen, Kabel und<br />
Rohre, ein Wasserbecken, ein Mini-Windkanal. Draußen, hinter<br />
Panoramascheibe und Parkplatz, schlummern die ersten<br />
grünen Hügel des Schwarzwaldes im Nebel – drinnen bastelt<br />
Team „Schluckspecht“ am Auto der Zukunft. Vier Studierende<br />
der Hochschule Offenburg – drei Männer, eine Frau – schrauben<br />
die fünf Kilogramm schwere Glasfaser-Carbon-Hülle<br />
vom „Schluckspecht City“ ab.<br />
Der Name führt ein wenig in die Irre: Das windschnittige<br />
,blau und orange lackierte Auto schluckt extrem wenig, hat<br />
schon diverse Preise beim jährlichen Effizienz-Autorennen<br />
„Shell Eco-Marathon“ abgeräumt und hält seit August 2011 den<br />
Weltrekord beim Elektroantrieb: 1.630 Kilometer mit nur einer<br />
Batterieladung – weiter kam noch keiner. Die Batterien, 2.300<br />
Stück, sollen jetzt wieder raus, ein Dieseltank rein. Damit will<br />
Team Schluckspecht beim nächsten Eco-Marathon starten.<br />
„Warte, Sabine, da vorn ist noch eine Schraube drin“, ruft<br />
Teamchef Michael Dold seiner Kommilitonin Sabine Binninger<br />
zu. Sabines Schraubenschlüssel ist zu groß, auch der aus<br />
dem Rollschrank passt nicht. Sie rennt ins Labor, vorbei an der<br />
Vitrine mit den Pokalen, und sucht zwischen Wasserstofftanks<br />
und Laptops nach dem richtigen Werkzeug. Manchmal ist auch<br />
das Auto von morgen mit Problemen von heute konfrontiert.<br />
Beim Eco-Marathon gewinnt nicht, wer als Erster im Ziel ist,<br />
sondern wer mit der geringsten Energie am weitesten kommt – egal<br />
ob mit Batterien oder Solarzellen, mit Wasserstoff oder Diesel.<br />
Zwei Dutzend Teams allein aus Deutschland haben letztes Jahr<br />
teilgenommen. Die Schluckspechte sind seit 1998 dabei; sie siegten<br />
schon in den Kategorien „Diesel“ und „Brennstoffzelle“. Gekämpft<br />
wird um Ehre, Ruhm und Aufmerksamkeit. Das Preisgeld<br />
– etwa 800 Euro für einen ersten Platz – deckt die Herstellungskosten<br />
nicht einmal ansatzweise.<br />
HOCHSCHUL<br />
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39
Technik von gestern fürs Auto von morgen:<br />
Team Schluckspecht montiert einen Radnabenmotor.<br />
Mit so einem Elektroantrieb wird jedes Rad<br />
separat angetrieben.<br />
Leicht, sparsam, effizient und umweltfreundlich – das sind die<br />
Stichworte, unter denen am Auto von morgen geforscht wird: an extrem<br />
sparsamen Antrieben, aerodynamischen Karosserien und neuen<br />
oder längst vergessenen Motoren; in den Laboren und Werkstätten<br />
der großen Autohersteller streng geheim, während die Ingenieure von<br />
morgen öffentlich und mit großer Lust am Experiment an den Hochschulen<br />
tüfteln – in Senftenberg und Trier, in Chemnitz – und eben in<br />
Offenburg. Die Forschung am Auto der Zukunft geht in alle möglichen<br />
Richtungen, nicht nur hin zum Elektroantrieb – trotz des Hypes ist nämlich<br />
längst nicht ausgemacht, dass die<br />
Elektrobatterie der Antrieb der Zukunft<br />
ist. Die Bundesregierung will bis 2020<br />
eine Million Elektroautos auf deutschen<br />
Straßen sehen, das Bildungsministerium<br />
steckt insgesamt 44 Millionen Euro in<br />
ein Fraunhofer-Forschungsprojekt zur<br />
Elektromobilität. Laut „European Automotive<br />
Survey 2011“, einer Umfrage der<br />
Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young,<br />
erwarten Europas Autohersteller und<br />
Zulieferer den Durchbruch des Elektroautos<br />
in den Massenmarkt in durchschnittlich<br />
zehn Jahren – mit deutschen<br />
Unternehmen als Marktführern.<br />
Die TU München stellte im Herbst<br />
2011 auf der Internationalen Automobilausstellung<br />
IAA ihr Elektroauto „MUTE“ vor, das gar nicht mal so anders<br />
aussah als ein heutiger Mittelklassewagen. Einige der beteiligten<br />
Studierenden wurden noch auf der Messe von Headhuntern abgeworben.<br />
Inzwischen hat sich ein Konsortium aus der Industrie auf den<br />
MUTE gestürzt – mit an Bord: Daimler, BMW, Siemens. Plötzlich ist<br />
der MUTE keine studentische Spielerei mehr, sondern ein Betriebsgeheimnis.<br />
„Die Industrie hat natürlich ganz andere Möglichkeiten“, sagt<br />
Professor Ulrich Hochberg, der mehrere Jahre lang das Schluckspecht-<br />
Projekt in Offenburg betreute. „Ein großer Automobilhersteller hat<br />
mehr Entwicklungsingenieure als wir Studierende.“ Das große Ziel in<br />
München ist die Massentauglichkeit, doch jetzt geht es erst einmal darum,<br />
den MUTE zulassungsfähig zu machen.<br />
Den „Schluckspecht“ lässt das Kfz-Zulassungsamt sowieso<br />
nur tageweise auf die Straße – und das auch nur unter strengen Auflagen:<br />
immer mit Begleitfahrzeug, nie bei Regen, nur am Tag. Kein<br />
Wunder: Der Wagen hat weder Scheibenwischer noch Scheinwerfer<br />
und auch keine nennenswerte Knautschzone. In simulierten<br />
Crashtests schützte die leichte Hülle den Fahrer schon bei 30 Kilometern<br />
pro Stunde nicht mehr.<br />
Doch auch die ersten zugelassenen Elektro- und Hybridmodelle<br />
wie der Opel Ampera, der Nissan Leaf und der MiEV von Peugeot<br />
und Mitsubishi tun sich auf dem Markt schwer. Ihre Elektromotoren<br />
erreichen nicht die Energiedichte von Verbrennungsmotoren, das<br />
heißt: Die Autos können längst nicht so schnell und so lange fahren<br />
wie Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Auch Team Schluckspecht<br />
erreichte seinen Rekord nur, weil der Wagen nie schneller als 50 Kilometer<br />
pro Stunde fuhr und extrem leicht war: „Das Schwerste“, erklärt<br />
Michael Dold, „sind noch die Batterien. 160 Kilogramm wiegen<br />
Fahrgestell, Hülle und Räder, 180 Kilogramm die Batterien.“<br />
Ein Elektro-Kleinwagen kostet zwischen 20.000 und 30.000<br />
Euro und schafft 150 Kilometer mit einer Ladung. Mindestens sechs<br />
Stunden lang hängt er danach an einer ganz normalen Steckdose – Kosten<br />
pro Ladung: etwa sechs Euro. Ein entscheidender Vorteil gegenüber<br />
einem sparsamen Benziner ist das nicht gerade. Ob sich der Batterieantrieb<br />
am Ende durchsetzt, ist also noch gar nicht ausgemacht – solange<br />
die Akkus nicht deutlich leichter, sparsamer und effizienter werden,<br />
ist kein Durchbruch in Sicht. Deshalb denken die Forscher und<br />
Tüftler schon ans Auto von übermorgen, angetrieben zum Beispiel mit<br />
Wasserstoff – aus dem Auspuff entwiche dann nur Wasserdampf. „Der<br />
Betrieb solcher Fahrzeuge ist wesentlich aufwendiger als bei Verbrennungsmotoren“,<br />
sagt Ulrich Hochberg. „Bei Minusgraden friert die<br />
Brennstoffzelle ein, sie muss beheizt werden und, und, und.“ Und das<br />
ist noch das kleinste Hindernis: Für die Herstellung von Wasserstoff<br />
wird viel Energie benötigt. Das brennbare<br />
Gas lässt sich zudem nur unter hohem<br />
Druck transportieren.<br />
Team Schluckspecht lässt sich<br />
von derlei Einwänden nicht entmutigen:<br />
Ein Vorgänger-Prototyp fuhr bereits<br />
mit einem stahlummantelten<br />
Wasserstofftank, kaum größer als eine<br />
Mineralwasserflasche. Für 400 Kilometer<br />
hätte der Tank gereicht. Im alten<br />
„Schluckspecht“, der aussah wie eine<br />
abgeschnittene Zigarre, saß, nein, lag<br />
Sabine Binninger. Sie passte als Einzige<br />
hinein, und selbst sie musste den<br />
Rücken krümmen und die Hände um<br />
das Lenkrad krampfen. „Aber mir<br />
macht das nichts“, sagt sie. „Ich bin<br />
früher Seifenkistenrennen gefahren.“ Mithilfe<br />
eines digitalen Multimeters, das unter anderem<br />
Spannungswerte misst, verkabelt das<br />
Team jetzt im Labor den Star des letzten Eco-<br />
Marathons: einen Radnabenmotor. Dieser<br />
Elektromotor verbirgt sich nicht unter der<br />
Motorhaube, sondern im Rad, hinter der Felge.<br />
Bei vier Rädern macht das bis zu vier Motoren.<br />
„Die lassen sich alle einzeln bedienen<br />
– man kann in Kurven die Motoren auf einer<br />
Seite stärker hochfahren oder mit den übrigen<br />
ausgleichen, wenn ein Rad durchdreht“, erklärt<br />
Michael Dold. Der Witz: Den elektrischen<br />
Radnabenmotor haben nicht etwa die<br />
Schluckspechte erfunden. Ferdinand Porsche<br />
hat ihn bereits auf der Pariser Weltausstellung<br />
vorgestellt – im Jahr 1900.<br />
Warum also hat man das damals nicht<br />
weiterentwickelt, warum knüpfen Studierende<br />
in Offenburg erst 113 Jahre später wieder daran<br />
an? „Öl war im Überfluss vorhanden“, sagt Ulrich<br />
Hochberg beim Chili-Essen in der Mensa.<br />
Heute kommt das Ende des Rohstoffes Öl in<br />
Sicht, die Benzinpreise schmerzen die Autofahrer, und Industrie und<br />
Politik geraten unter Druck. Mit Förderprogrammen und Subventionen<br />
könne sich das Elektroauto tatsächlich durchsetzen, glaubt<br />
Hochberg. „Vor 20 Jahren hätte ich gesagt: Windparks? Blödsinn!<br />
Vor zehn Jahren hätte ich der Fotovoltaik keine große Zukunft gegeben.<br />
Und jedes Mal habe ich mich geirrt.“<br />
Dem Elektroauto traut er dennoch nicht so recht. „In 20 Jahren<br />
werden wir überwiegend sparsame Diesel- und Hybridautos<br />
auf der Straße sehen“, sagt der Universitätsprofessor. „Obwohl,<br />
schreiben Sie lieber zehn. Meine Prognosen sind schon oft genug<br />
widerlegt worden.“<br />
Wovon wird<br />
das Auto von morgen<br />
angetrieben?<br />
Strom?<br />
Wasserstoff?<br />
Manche glauben,<br />
eine fast vergessene<br />
Technik aus<br />
dem frühen<br />
20. Jahrhundert<br />
wird zurückkehren.<br />
HOCHSCHUL<br />
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Continental wünscht<br />
ein erfolgreiches neues Jahr!<br />
Are you auto-motivated?<br />
Welcome!<br />
Bewegt vom Motor des Fortschritts und mit dem Fokus auf den automobilen Megatrends Sicherheit,<br />
Umwelt, Information und kostengünstige Autos entwickelt Continental die Zukunft der Mobilität für<br />
jedermann.<br />
Willkommen an einem Ort, an dem Sie mit Ihren Ideen die Welt verändern können:<br />
www.continental-karriere.de • www.facebook.com/ContinentalKarriere<br />
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2012 STUDENT SURVEY
16 FAKTEN ÜBER DIE IT-BRANCHE<br />
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Telefone und Ballerspiele und wäre doch vermutlich ohne eine alte<br />
Marine-Reservistin und einen Rechner mit LEGO-Gehäuse nie so<br />
erfolgreich geworden. Willkommen in der IT-Branche!<br />
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Mit rund 880.000 Arbeitsplätzen ist die<br />
IT-Branche nach dem Maschinenbau der<br />
zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland. 2011<br />
setzten deutsche Unternehmen mit Produkten<br />
und Diensten aus den Bereichen IT, Telekommunikation<br />
und Unterhaltungselektronik<br />
148 Milliarden Euro um; 2012 werden es<br />
rund 152 Millia rden Euro sein.<br />
Fünf Rechner für alle<br />
Thomas J. Watson, damaliger Chef von IBM, verkündete 1943: „Ich denke,<br />
auf dem Weltmarkt gibt es einen Bedarf für fünf Computer – mehr nicht.“ Ken<br />
Olsen, Gründer von Digital Equipment Corporation, meinte 1977 zu wissen:<br />
„Es gibt für keinen einzigen Menschen einen Grund, zu Hause einen Computer zu<br />
haben.“ Und Microsoft-Gründer Bill Gates war sich 1994 sicher: „Im Inter<strong>net</strong> ist<br />
kein Geld zu verdienen.“<br />
HIER IST NOCH PLATZ<br />
Allein in Deutschland gibt es derzeit 43.000 offene Stellen für IT-Experten<br />
wie Systemadministratoren und Datenbank-, Software- oder Web-Entwickler.<br />
Unternehmen müssen deshalb einiges bieten – vor allem im Süden der<br />
Republik wird gut bezahlt. Das durchschnittliche Jahresgehalt von IT-Leitern<br />
liegt dort bei 115.200 Euro. Gute Zeiten also für Job-Sucher.<br />
2007<br />
2008<br />
2009<br />
DAS JAHRHUNDERT-HANDY<br />
Anteil des iPhones<br />
am Gesamtgewinn<br />
von Apple von<br />
2007 bis 2012<br />
1 %<br />
2010<br />
9 %<br />
2011<br />
22 %<br />
2012<br />
39 % 48 %<br />
53 %<br />
Design: Andreas Bergmann / Quelle: Apple<br />
2007 kam das erste iPhone auf den Markt. Heute ist es die Haupteinnahmequelle<br />
von Apple (siehe Grafik). Der Umsatz mit dem Kulthandy ist größer als<br />
das gesamte Geschäft von Microsoft: Von Juni 2011 bis Juni 2012 brachte das<br />
iPhone Apple 74,3 Milliarden US-Dollar; Microsoft kam nur auf 73 Milliarden<br />
US-Dollar. Das iPhone allein wäre damit groß genug, in die Fortune-500-Liste<br />
der umsatzstärksten Unternehmen der Welt aufgenommen zu werden.<br />
HOCHSCHUL<br />
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42
GOODBYE, COMPUTER<br />
Der PC, vermuten Experten, könnte bald verschwinden.<br />
Cloud Computing, also die Nutzung<br />
extern bereitgestellter Hardware, Software und<br />
Datenspeicher (zum Beispiel über ein Netzwerk wie das<br />
Inter<strong>net</strong>), sowie Mobile Devices wie Tablets und Smartphones<br />
werden seinen Platz einnehmen.<br />
Stein auf Stein<br />
Der erste Server von Google bestand<br />
aus mehreren miteinander verbundenen<br />
PCs. Das improvisierte Rechenzentrum<br />
hatte eine selbst gebastelte<br />
Ummantelung aus LEGO-Steinen.<br />
Alter Finne<br />
1991 entschied sich der damals 22-jährige<br />
Linus Torvalds aus Helsinki dazu, den<br />
Quellcode des von ihm programmierten<br />
Betriebssystems Linux offenzulegen.<br />
Seither geschieht ein kleines Wunder: Das<br />
Programm wird von Freiwilligen auf der<br />
ganzen Welt weiterentwickelt, obwohl kein<br />
Nutzer dafür bezahlt. Die weit über tausend<br />
verfügbaren Linux-Programme, die<br />
fast alle gängigen Anwendungsbereiche<br />
abdecken, sind kostenlos. Dabei stecken<br />
in Linux mittlerweile über 73.000 Personenjahre<br />
Arbeit.<br />
DER RIESE<br />
SAP ist weltweit Marktführer in Sachen<br />
Unternehmenssoftware und laut „Software<br />
Top 100“-Ranking der weltweit viertgrößte<br />
Software hersteller. Das meiste Geld verdient<br />
der Walldorfer Konzern aber nicht mit<br />
der Entwicklung von Software, sondern mit<br />
dem Support.<br />
Friedliches Netz<br />
Für 2010 wurde das World<br />
Wide Web für den Friedensnobelpreis<br />
vorgeschlagen.<br />
Der Preis ging jedoch nicht<br />
an den Informatiker Tim<br />
Berners-Lee, der als Erfinder<br />
des Inter<strong>net</strong>s gilt, sondern<br />
an den chinesischen<br />
Schriftsteller Liu Xiaobo.<br />
Lius Auszeichnung löste in<br />
China eine Welle der Begeisterung<br />
aus, vor allem auf<br />
Renren, der chinesischen<br />
Variante von Facebook.<br />
SINKFLUG<br />
Noch 1981 kostete 1 GB Festplattenspeicher<br />
300.000 US-Dollar. 1994<br />
war dieselbe Speicher kapazität für<br />
1.000 US-Dollar zu haben. Heute gibt<br />
es 1 GB für 0,03 US-Dollar.<br />
DER STAAT<br />
ALS SPION<br />
Jeder hat sein Handy ständig dabei und<br />
in Gebrauch. Das freut die deutschen<br />
Strafverfolgungsbehörden. Mit technischen<br />
Tricks wie „stillen SMS“ und<br />
„IMSI-Catchern“ können sie die Besitzer<br />
über deren Mobil telefone orten und dann<br />
deren Gespräche abhören. Von 2006 bis<br />
2011 verschickten Verfassungsschutz,<br />
Bundeskriminalamt und Zoll nach offiziellen<br />
Angaben 1,7 Millionen stille<br />
SMS. In Wirklichkeit sind es vermutlich<br />
sehr viel mehr. Denn der Bundeswehr-<br />
Nachrichtendienst MAD und die Bundespolizei<br />
legen ihre Zahlen dazu nicht offen.<br />
HOCHSCHUL<br />
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43
DIE PIONIERIN<br />
Frauen und Technik – das soll nicht passen? Die<br />
1906 geborene Amerikanerin Grace Hopper<br />
bewies – wie viele andere Pionierinnen – das<br />
Gegenteil. 1952 entwickelte Hopper den ersten<br />
Compiler, also eine Software, die Programmiersprachen<br />
in Binärcode übersetzt. Bis dahin<br />
mussten Programmierer ihre Kommandos direkt<br />
im Binärcode eingeben, also als Serie von Nullen<br />
und Einsen. Hopper arbeitete als Forscherin<br />
an der Harvard-Universität. Gleichzeitig gehörte<br />
sie ab 1943 der Reserve der US-Marine an. Dass<br />
sie eine Frau war, müssen ihre (männlichen) Kollegen<br />
gelegentlich übersehen haben: 1969 wurde<br />
Hopper der „Man of the Year Award“ der Data<br />
Processing Management Association verliehen<br />
– eine von über 90 Auszeichnungen, die sie in<br />
ihren 86 Lebensjahren erhielt.<br />
DIE HAUT<br />
MERKT SICH ALLES<br />
DNA statt Festplatte: Forschern der<br />
Harvard-Universität ist es gelungen, 700<br />
Terabyte an Daten in einem einzelnen<br />
Kubikmillimeter DNA zu speichern. Damit<br />
konnten sie den bisherigen Rekord<br />
für Speicherdichte um den Faktor 1.000<br />
erhöhen. Die Forscher machten 70 Milliarden<br />
Kopien eines Buches und legten<br />
sie erfolgreich in der DNA ab. Auf diese<br />
Weise könnte man etwa brisante Informationen<br />
vergleichsweise unbemerkt transportieren,<br />
etwa in die Haut integriert.<br />
ATTACKE!!!<br />
Mit mehr als einer Milliarde US-Dollar<br />
Umsatz war es eines der erfolgreichsten<br />
Computerspiele überhaupt: Der<br />
Ego-Shooter „Call of Duty: Black Ops“<br />
verkaufte sich 2010 binnen der ersten<br />
24 Stunden rund 5,6 Millionen Mal.<br />
Jetzt schlug der kalifornische Hersteller<br />
Activision Blizzard alle bisherigen<br />
Rekorde. Im November 2012 brachte er<br />
„Call of Duty: Black Ops II“ auf den<br />
Markt: Binnen der ersten 24 Stunden<br />
setzte der Action-Blockbuster weltweit<br />
500 Millionen US-Dollar um.<br />
WAS<br />
GEHÖRT<br />
WEM?<br />
Ob „Siri“, Schweizer-Bahnhofsuhr-Design oder Touchscreen – Ideen-Klau<br />
ist in der Smartphone-Industrie an der Tagesordnung. Und der Streit darum<br />
auch. Es ist ein Kampf um Patente, in dem (fast) jeder jeden bekriegt.<br />
Apple und Google investieren inzwischen mehr Geld in Patentstreite und<br />
Patentanmeldungen als in Forschung und Entwicklung. Erklärtes Motto<br />
von Apple dabei ist: Alles patentieren, was möglich ist. Auch wenn Apple<br />
gar nicht der Erfinder ist. Insgesamt gab die Smartphone-Industrie in den<br />
letzten zwei Jahren 20 Milliarden US-Dollar für ihren „Patentkrieg“ aus –<br />
das entspricht acht Raumfahrtmissionen mit dem Mars-Roboter Curiosity.<br />
Ob Facebook oder Krankenhaus,<br />
Online-Shop oder Börse – überall<br />
auf der Welt fallen jeden Tag<br />
Tril lionen von Daten an.<br />
Schätzungen zufolge verdoppelt sich das digitale Datenvolumen<br />
heute alle zwei Jahre. Die große Kunst ist es deshalb in<br />
Zukunft, den Datenwust zu filtern und zu analysieren. IT-<br />
Unternehmen wie SAP rüsten sich daher schon jetzt mit<br />
Technologien für die Speicherung, die Verwaltung und vor<br />
allem für die sinnvolle Auswertung riesiger Datenmengen,<br />
im Fachjargon Big Data genannt. Viele Unternehmen sitzen<br />
nämlich inzwischen auf re gelrechten Datenbergen. Das Berliner<br />
Universitätsklinikum Charité zum Beispiel durchsucht<br />
heute rund 80 Milliarden Datensätze pro Sekunde.<br />
HOCHSCHUL<br />
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44
RECRUITING-EVENTS VON JANUAR BIS APRIL 2013<br />
ZUKUNFTSENERGIEN NORDWEST, BREMEN<br />
Jobs mit Zukunft: Knapp 100 Aussteller aus<br />
dem Bereich der erneuerbaren Energien werben<br />
auf der Messe um neue Kräfte.<br />
Wann: 01. und 02.03.2013, 10 bis 17 Uhr (Sa. bis 16 Uhr)<br />
Wo: Messe Bremen, Halle 7<br />
Mehr: www.zukunftsenergien-nordwest.de<br />
ZUKUNFTSENERGIEN<br />
NORDWEST, BREMEN<br />
JOB & C A R E E R M A R K E T,<br />
HANNOVER MESSE<br />
JOB & CAREER MARKET, HANNOVER MESSE<br />
Alles, was angehende Ingenieure brauchen: Aussteller,<br />
Vorträge und ausreichend Anschauungsmaterial.<br />
Der Job & Career Market ist die Pflichtveranstaltung<br />
des Jahres. Regelmäßiges Highlight:<br />
die F. A. Z.-Karriereberatung<br />
für Absolventen und Professionals.<br />
Wann: 08. bis 12.04.2013, 9 bis 18 Uhr<br />
Wo: Hannover Messe, Halle 18<br />
Mehr: www.hannovermesse.de/jcm<br />
www.fazjob.<strong>net</strong>/kb-jcm für die Karriereberatung<br />
CAR-CONNECTS, BOCHUM<br />
Gas geben für die Karriere. Mehr als 100 Unternehmen<br />
aus der Automobilindustrie suchen Nachwuchs.<br />
Eine vorherige Registrierung ist erforderlich.<br />
Wann: 30.01.2013, 10 bis 17 Uhr<br />
Wo: RuhrCongress Bochum<br />
Mehr: www.uni-due.de/connects<br />
CAR-CONNECTS,<br />
BOCHUM<br />
T5 JOBMESSE, STUTTGART<br />
Wieder in Stuttgart: die T5 JobMesse für<br />
Absol venten, die in der Life-Science-<br />
Branche einsteigen möchten.<br />
Wann: 13.03.2013, 10 bis 16 Uhr<br />
Wo: Haus der Wirtschaft, Stuttgart<br />
Mehr: www.t5-interface.de<br />
SUSTAINABILITY CAREER FAIR, MÜNCHEN<br />
Nachhaltigkeit als Karriereperspektive. Veranstaltet<br />
von den Studierenden des Masterstudienganges<br />
Sustain able Resource Management der TU München.<br />
Bietet die Chance zum Netzwerken und Weiterkommen.<br />
Wann: 04.03.2013, 10 bis 16 Uhr<br />
Wo: Campus TU München, Arcisstraße<br />
Mehr: www.scareerfair.com<br />
SUSTAINABILITY<br />
C A R E E R FA I R &<br />
JURACON, MÜNCHEN<br />
T 5 J O B M E S S E ,<br />
STUTTGART<br />
JURACON, MÜNCHEN<br />
Exklusives Recruiting-Event für angehende Juristen.<br />
Unbedingt vorher anmelden und Gesprächstermine mit<br />
Kanzleien und Unternehmen vereinbaren.<br />
Wann: 12.03.2013, 10 bis 17 Uhr<br />
Wo: Hotel Sofitel, München<br />
Mehr: www.iqb.de/events<br />
APPS FÜR JOB UND EXAMEN<br />
ZEUGNISCHECK<br />
(IPHONE, IPAD)<br />
„Er hat sich stets bemüht.“ Wer solche<br />
Formulierungen in seinem Arbeitszeugnis<br />
überprüfen will, kann auf die kostenlose„Zeugnis<br />
check“-App des Rechtsportals janolaw zurückgreifen.<br />
Insgesamt erkennt der Zeugnisauswerter<br />
4.000 Standardformulierungen. Eine<br />
Alternative ist die kostenlose „Zeugnis App“<br />
von Haufe, die nicht nur für das iPhone, sondern<br />
auch für Windows-Handys erhältlich ist.<br />
www.janolaw.de/newsletter/<br />
tipps_und_infos_zeugnisknacker.html<br />
EVERNOTE PEEK (IPAD)<br />
Mit der Gratis-App kann man sein<br />
eigenes Lernmaterial herstellen.<br />
Um es abzufragen, nutzt man das Smart Cover.<br />
Man hebt es an, liest die Frage – und wenn man<br />
das Smart Cover noch weiter anhebt, erhält<br />
man die Antwort. Die Gratis-App ist ideal dafür,<br />
Vokabeln, Begriffsdefinitionen und Formeln<br />
zu lernen.<br />
www.evernote.com/intl/de/peek<br />
NOVA ELEMENTS<br />
(IPAD)<br />
Welche Elemente schwimmen in<br />
einer Tasse Kaffee? Warum sieht das Periodensystem<br />
so aus, wie es aussieht? Solche Fragen<br />
klärt die englischsprachige Gratis-App „NOVA<br />
ELEMENTS“ der amerikanischen Senderkette<br />
PBS. Wer es lieber deutschsprachig mag, dürfte<br />
Gefallen am AK MiniLabor finden, einer kostenlosen<br />
Chemie-App für Android-Handys.<br />
http://itunes.apple.com<br />
www.kappenberg.com<br />
HOCHSCHUL<br />
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45
Susanne Öhlmann, 27, und Kind Joshua, * 20.10.2012<br />
Berlin<br />
studiert evangelische Theologie, Humboldt-Uni, Berlin<br />
Mein letztes Mal komplett unabhängig sein<br />
Als ich geboren wurde, hat mein Vater noch studiert. Vielleicht<br />
wollte ich deshalb schon immer im Studium Kinder<br />
bekommen. Da kann man seine Zeit noch flexibler einteilen.<br />
Außerdem würde mein Freund Philipp bald mit seinem Master<br />
fertig sein. Dann hätten wir beides: Zeit und Geld. Also<br />
haben wir losgelegt und kurz vor der Geburt geheiratet.<br />
Trotzdem waren wir wohl eher naiv. Wie aufwändig es<br />
sein würde, auch nur für ein Wochenende bei unseren Eltern<br />
Windeln, den Kinderwagen, Mützen und Jacken einzupacken,<br />
konnte ich mir nicht vorstellen. Aber das war gut so,<br />
sonst hätten wir uns vielleicht zu viele Sorgen gemacht oder<br />
gar nicht versucht, ein Kind zu bekommen.<br />
Erst als der Geburtstermin da war und Joshua nicht kommen<br />
wollte, ist mir plötzlich klar geworden, dass wir vieles<br />
bald nicht mehr machen können. Deshalb haben wir spontan<br />
eine Havelradtour gemacht. Danach hatte ich Philipp mit meinem<br />
bald-geht-das-nicht-mehr-Gerede so angesteckt, dass wir<br />
die nächsten Tage nur noch bei Freunden, auf Parties und im<br />
Kino verbracht haben. Zwei Wochen später war Joshua da.<br />
Ich finde nicht, dass mein Leben jetzt ernster ist. Wir<br />
fahren immer noch zu Big-Band-Wochenenden, treffen<br />
Freunde und ich gehe schwimmen. Aber natürlich ist mit<br />
Kind und ohne Fahrrad alles viel umständlicher und Philipp<br />
und ich müssen uns jetzt immer absprechen. Jeder Termin,<br />
den einer von uns macht, ist auch ein Termin für den anderen,<br />
der dann auf Joshy aufpasst. Zurzeit bleibt er meistens bei<br />
mir. Philipp hat gerade mehr zu tun als ich. Er arbeitet zwei<br />
Tage die Woche und bereitet sich auf die Promotion vor. Mein<br />
Leben ist momentan ja eher geruhsam. Wir haben uns so geeinigt,<br />
dass ich gerade zwei Veranstaltungen an der Uni besuche,<br />
weil ich nur noch einen Schein brauche. In der Zeit passt<br />
Philipp auf Joshua auf. Im Frühjahr fange ich an für mein Examen<br />
in evangelischer Theologie zu lernen. Das dauert in der<br />
Regel ein Jahr. Dann wird es umgekehrt sein und Joshy bleibt<br />
die meiste Zeit bei Philipp.<br />
Länger zu Hause bleiben will ich auf keinen Fall. Ich<br />
brauche mehr geistige Herausforderung als Schnullerdebatten.<br />
Deshalb freue ich mich in der Uni sogar schon über Themen,<br />
die mich früher nie interessiert haben.<br />
Außerdem möchte ich gern wieder etwas zu unserem<br />
Einkommen beitragen. Am Anfang ist es mir schwergefallen,<br />
mir Pullover von „Philipps Geld“ zu kaufen, weil ich meinen<br />
Nebenjob an der Ganztagsschule zum Ferienbeginn aufgegeben<br />
hatte. Jetzt bekomme ich das Elterngeld auf mein Konto.<br />
Das gibt mir das Gefühl, auch etwas beitragen zu können.<br />
Meistens denke ich über all diese Abhängigkeiten aber<br />
gar nicht nach. Ich vermisse nichts, auch wenn ich manchmal<br />
Verabredungen absagen muss. Selbst wenn wir für Joshua<br />
keinen Kitaplatz finden und ich mein Examen noch um ein<br />
halbes Jahr verschieben müsste, wäre das okay für mich. Ein<br />
Leben ohne ihn kann ich mir nämlich nicht mehr vorstellen.<br />
Unglaublich, welch pures Vertrauen mir dieser kleine<br />
Mensch entgegenbringt. Manchmal frage ich mich, womit<br />
ich das verdient habe. Und genieße es, ein Kind zu haben.<br />
P r o t o k o l l : G a b r i e l e M e i s t e r , f o t o : p r i v a t<br />
H O C H S C H U L<br />
A N Z E I G E R<br />
46
Das Leben von Yusuf<br />
oder Rosa oder Sun oder<br />
Ramon oder Li oder Schirin<br />
oder Korash oder Anna oder<br />
Fabio oder Jassem oder<br />
Dana ist in Gefahr.<br />
Ohne Pressefreiheit können wir nur raten.<br />
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