Begabungsförderung – alt bekannt und neu gefordert
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4<br />
zeit.schrift 15|2005<br />
fokus<br />
<strong>Begabungsförderung</strong> <strong>–</strong><br />
<strong>alt</strong> <strong>bekannt</strong> <strong>und</strong> <strong>neu</strong> <strong>gefordert</strong><br />
Die Förderung der Begabungen unserer Kinder <strong>und</strong><br />
Jugendlichen gehört zu den selbstverständlichen<br />
Hauptaufgaben jeder pädagogischen Arbeit. Was aber<br />
ist Begabung? Und was lässt sich tun, um die<br />
Worthülse «<strong>Begabungsförderung</strong>» mit schulischem<br />
Inh<strong>alt</strong> zu füllen?<br />
Wenn man im Schulhaus das Thema «<strong>Begabungsförderung</strong>»<br />
anspricht, gibt es zwei typische Antworten:<br />
Erstere verwechselt das Thema sofort mit<br />
der Förderung Hochbegabter, die zweite meint<br />
mit etwas entrüstetem Unterton, der in Mode geratene<br />
Begriff bezeichne ja nur etwas, das schon<br />
immer den Kern guter Bildung ausmachte. Der<br />
ersten Antwort lässt sich entgegnen, dass Begabtenförderung<br />
nur ein Teil der umfassenderen <strong>Begabungsförderung</strong><br />
ist. Der zweiten Antwort muss<br />
man zustimmen <strong>–</strong> wobei es durchaus angebracht<br />
sein kann, im Fluss der zeitlich <strong>und</strong> inh<strong>alt</strong>lich verschiedenen<br />
pädagogischen Strömungen wieder<br />
einmal inne zu h<strong>alt</strong>en <strong>und</strong> sich auf das Wesentliche,<br />
das auch zeitlos ist, zu besinnen. Was also<br />
ist Begabung, <strong>und</strong> wie lässt sie sich fördern, um<br />
letztlich zu einem erfüllenden Leben der Lernenden<br />
beizutragen?<br />
Begabungs-, Begabten- <strong>und</strong> Hochbegabtenförderung<br />
Zuerst einmal ist festzuh<strong>alt</strong>en, dass zwischen den<br />
Begriffen Begabungs-, Begabten- <strong>und</strong> Hochbegabtenförderung<br />
fliessende Übergänge bestehen<br />
<strong>–</strong> <strong>und</strong> somit die Fokussierung auf nur eine Gruppe<br />
vorerst fehl am Platz ist. Im Lichte <strong>neu</strong>ropsychologischer<br />
Erkenntnisse lässt sich der schillernde<br />
Begriff «Begabung» nach Stadelmann 1 wie folgt<br />
umschreiben: «Begabung beinh<strong>alt</strong>et zwei Komponenten:<br />
• einerseits das Potenzial, die Kompetenz eines<br />
Menschen, bestimmte Leistungen zu erbringen.<br />
Dies entspricht zu jedem Zeitpunkt dem Entwicklungsstand,<br />
der spezifischen Vernetzung<br />
<strong>und</strong> Funktionsfähigkeit des Gehirns aufgr<strong>und</strong><br />
der bisherigen Lernbiografie<br />
• andererseits die permanente Wechselwirkung<br />
des Potenzials mit der sozialen Umwelt, mit der<br />
Umgebung (= lernen). Dadurch wird das Gehirn<br />
im Rahmen seiner Plastizität laufend verändert,<br />
was einer laufenden Veränderung des Potenzials,<br />
der Kompetenz des Menschen entspricht.»<br />
1<br />
Stadelmann, Willi: «<strong>Begabungsförderung</strong> in der Schule<br />
ist ohne Schulentwicklung nicht möglich» in Journal für<br />
Begabtenförderung 1/2004, Luzern<br />
2<br />
www.dinsle.ch<br />
9 Intelligenzen nach Howard Gardner<br />
Gardner verfolgt die Idee der multiplen Intelligenzen,<br />
die er aus verschiedenen Studien<br />
über W<strong>und</strong>erkinder, Hirngeschädigte, normale<br />
Erwachsene <strong>und</strong> auch über «idiots savants»<br />
entwickelt hat. Von diesem Gr<strong>und</strong>gedanken<br />
ausgehend schliesst er auf 9 verschiedene Intelligenzen,<br />
die aber nicht bewertet oder<br />
gegeneinander ausgespielt werden sollen.<br />
• Sprachliche Intelligenz ist die Fähigkeit, sich<br />
treffsicher auszudrücken, zu reflektieren<br />
<strong>und</strong> andere zu verstehen (häufig bei Dichtern,<br />
Schriftstellern, Journalisten, Rechtsanwälten<br />
<strong>und</strong> Sprachwissenschaftern).<br />
• Musikalische Intelligenz umfasst musikalische<br />
Kompetenzen wie Komposition, Instrumentenbeherrschung,<br />
Rhythmus oder Melodie<br />
(häufig bei Dirigenten, Musikern <strong>und</strong><br />
Komponisten).<br />
• Logisch-mathematische Intelligenz zeigt<br />
sich durch ein besonderes Abstraktionsvermögen<br />
<strong>und</strong> die Fähigkeit, mit Zahlen, Mengen,<br />
mentalen Operationen <strong>und</strong> Beweisketten<br />
umzugehen (häufig bei Wissenschaftern,<br />
Computerfachleuten <strong>und</strong> auch Philosophen).<br />
• Räumliche Intelligenz ermöglicht, Visuelles<br />
richtig wahrzunehmen <strong>und</strong> damit in Gedanken<br />
zu experimentieren (häufig bei Architekten,<br />
Künstlern, Bildhauern, Schachspielern<br />
<strong>und</strong> auch Kartographen).<br />
Begabung ist also ein dynamischer Begriff, <strong>und</strong> er<br />
ist nicht auf die Person selbst bezogen, sondern<br />
auf ihre Fähigkeiten <strong>und</strong> ihr Verh<strong>alt</strong>en. Demzufolge<br />
macht es wenig Sinn, eine Schülerin oder<br />
einen Schüler pauschal als begabt oder hochbegabt<br />
zu bezeichnen. Nützlicher ist, differenzierter<br />
beispielsweise das grosse Wissen <strong>und</strong><br />
Interesse an Literatur festzustellen, oder die Faszination<br />
für musikalische Werke oder für naturwissenschaftliche<br />
Phänomene. Dies bedeutet<br />
auch, dass es fehl am Platz wäre, mit Checklisten<br />
auf Begabtensuche zu gehen <strong>–</strong> zentral ist ein waches<br />
Wahrnehmen <strong>und</strong> Beobachten der Lernenden<br />
durch die Lehrperson. Und ist eine Begabung<br />
als solche erkannt, können für den Unterricht gemeinsam<br />
konkrete Förderziele abgeleitet werden.<br />
• Körperlich-kinästhetische Intelligenz bedeutet<br />
die Beherrschung, Kontrolle <strong>und</strong> Koordination<br />
des Körpers <strong>und</strong> einzelner Körperteile<br />
(häufig bei Chirurgen, Sportlern,<br />
Schauspielern <strong>und</strong> Tänzern).<br />
• Intrapersonale Intelligenz zeigt sich darin,<br />
Impulse zu kontrollieren, eigene Grenzen zu<br />
kennen <strong>und</strong> mit den eigenen Gefühlen klug<br />
umzugehen (häufig bei Künstlern, Schauspielern<br />
<strong>und</strong> Schriftstellern).<br />
• Interpersonale Intelligenz bezieht sich auf<br />
die Mitmenschen. Es ist die Fähigkeit, andere<br />
Menschen zu verstehen <strong>und</strong> mit ihnen<br />
einfühlsam zu kommunizieren (häufig bei<br />
Therapeuten, Politikern, Lehrern, Verkäufern).<br />
• Naturalistische Intelligenz ist die Fähigkeit,<br />
Lebendiges zu beobachten, zu unterscheiden<br />
<strong>und</strong> zu erkennen sowie eine Sensibilität<br />
für Naturphänomene zu entwickeln (häufig<br />
bei Biologen, Botanikern, Förstern, Tierärzten<br />
<strong>und</strong> auch Köchen).<br />
• Existenzielle Intelligenz bedeutet, die wesentlichen<br />
Fragen unseres Daseins zu erkennen<br />
<strong>und</strong> Antworten darauf zu suchen (bei<br />
spirituellen Führern, philosophischen Denkern).<br />
Quellen: Amt für Volksschulen St. Gallen;<br />
www.begabung.ch
zeit.schrift 15|2005<br />
fokus<br />
5<br />
Unerkannte <strong>und</strong> verkannte Begabungen<br />
Die Schule als Ort der <strong>Begabungsförderung</strong> <strong>–</strong> das<br />
tönt gut, <strong>und</strong> niemand würde sich ernsthaft dagegen<br />
stellen. Doch so einfach ist die Praxis<br />
nicht. Von den vielfältigen Begabungen, die ein<br />
Mensch mit sich bringt oder entwickelt hat, können<br />
in der Schule nicht alle zur Geltung kommen.<br />
Müssen sie auch nicht, denn die Entwicklung<br />
zum Jugendlichen <strong>und</strong> Erwachsenen findet ja<br />
nicht nur im schulischen Bereich statt … Problematisch<br />
kann es aber dort werden, wo Begabungen<br />
unterschiedlich bewertet werden <strong>und</strong> vermeintlich<br />
weniger wichtige mangels Ansehen<br />
<strong>und</strong> Erfolgserwartung zu schlummern oder gar zu<br />
verkümmern beginnen. Dieser Gefahr versuchen<br />
pädagogische Konzepte vorzubeugen, welche<br />
eine «ganzheitliche Bildung» anstreben. Als Beispiel<br />
sei die bereits Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
entwickelte Montessori-Pädagogik erwähnt,<br />
welche den Begabungen aller Kinder gerecht<br />
werden wollte. Konsequenterweise wurde hier<br />
auf einen vereinheitlichenden Lehrplan verzichtet,<br />
ebenso auf den oft nivellierenden Frontalunterricht<br />
<strong>–</strong> Ziel war die totale Individualisierung<br />
der Lernprozesse 2 .<br />
Eine zweite Schattenseite von Begabungen<br />
dürfte allen Lehrpersonen schon begegnet sein <strong>–</strong><br />
Störefriede in der Klasse oder Leistungsabfall bei<br />
eigentlich guten Lernenden. Denn auch gut individualisierter<br />
Unterricht wird nie dem Lerntempo<br />
<strong>und</strong> -vermögen von jedem Lernenden gerecht<br />
werden <strong>–</strong> <strong>und</strong> so können, nach Remo Largo, drei<br />
Arten von reaktivem Verh<strong>alt</strong>en auftreten: Verh<strong>alt</strong>ensauffälligkeit<br />
nach innen oder nach aussen,<br />
psychosomatische Erkrankung oder Minderleistung.<br />
Unerwünschtes Verh<strong>alt</strong>en kann so Begabungen<br />
anzeigen, welche ans Licht treten wollen,<br />
jedoch keinen Platz erh<strong>alt</strong>en. Die Anführenden<br />
einer etwas wilden Klasse zeigen Führungswillen,<br />
die stetigen «Dreinschwatzer» sprudeln vor Kreativität.<br />
Die Kunst begabungsfördernden Unterrichts<br />
wäre dann weder zu tolerieren noch zu<br />
verbieten, sondern den Rahmen so zu verändern,<br />
dass die eigentlichen Begabungen zu erwünschtem<br />
Verh<strong>alt</strong>en führen <strong>und</strong> sich entwickeln können.<br />
Leicht geschrieben, schwieriger getan…<br />
Begabungsfördernde Schule<br />
Damit stellt sich nun die Frage, wie denn eine begabungsfördernde<br />
Schule <strong>–</strong> mit entsprechendem<br />
Unterricht <strong>–</strong> konkretisiert werden kann. Auf der<br />
«Eine begabungsfördernde Schule<br />
braucht zunächst eine engagierte<br />
Schulleitung <strong>und</strong> motivierte Lehrpersonen.»<br />
Ebene des schulischen Angebots kann man von<br />
zwei sich ergänzenden Konzepten ausgehen: Das<br />
so genannte «Enrichment» bedeutet eine Anreicherung<br />
der Schul- <strong>und</strong> Unterrichtsangebote, so<br />
dass die individuellen Begabungen mit entsprechenden<br />
Lernangeboten gefördert werden können.<br />
Parallel ermöglicht das Konzept der «Akzeleration»<br />
Lernenden mit besonderen Begabungen<br />
eine Verkürzung der Zeit, in welcher sie ihre Lernziele<br />
erreichen können. Einige aus verschiedenen<br />
Quellen zusammengetragenen Ideen sind nebenstehend<br />
aufgelistet <strong>und</strong> können Denkanstösse<br />
liefern. Doch bevor eine in diesem Sinne begabungsfördernde<br />
Schule verwirklicht werden<br />
kann, braucht es zunächst eine engagierte Schulleitung<br />
<strong>und</strong> motivierte Lehrpersonen. Stadelmann<br />
zählt im erwähnten Beitrag als «Erkennungsmerkmale<br />
einer begabungsfördernden<br />
Schule» als ersten Punkt auf: «Die Schulleitung<br />
steht hinter dem Anliegen der <strong>Begabungsförderung</strong><br />
<strong>und</strong> wirkt ermutigend, unterstützend <strong>und</strong><br />
anregend.» Und etwas weiter: «Das Lehrerteam<br />
ist sich bewusst, dass <strong>Begabungsförderung</strong> ein<br />
Prozess ist, auf den sich die ganze Schule einlässt.<br />
… <strong>Begabungsförderung</strong> wird vom Lehrerteam<br />
als pädagogische H<strong>alt</strong>ung verstanden <strong>und</strong><br />
gelebt.» Welchen Stellenwert eine Schule der <strong>Begabungsförderung</strong><br />
geben will, kann <strong>und</strong> soll auch<br />
gemeinsam diskutiert werden. Vorteilhaft für die<br />
Zürcher Mittel- <strong>und</strong> Berufsschulen ist sicher, dass<br />
Teilautonomie, Feedbackkultur <strong>und</strong> Qualitätssicherung<br />
schon recht gut funktionieren, <strong>und</strong> bei<br />
Schulentwicklungsprozessen in diesen Gebieten<br />
auch begabungsfördernde Aspekte diskutiert<br />
werden.<br />
Ungewisser Ausblick<br />
In der Literatur <strong>und</strong> bei Tagungen zum Thema <strong>Begabungsförderung</strong><br />
dominieren bis jetzt Beiträge<br />
aus dem Volksschulbereich <strong>–</strong> hier werden erste<br />
Begabungen in der Bildung erkannt, zudem in einem<br />
entwicklungspsychologisch sehr wichtigen<br />
Lebensabschnitt. In Mittel- <strong>und</strong> Berufsschulen<br />
gewinnt das Thema aber ebenfalls an Bedeutung,<br />
<strong>und</strong> das ist zu begrüssen. Denn «Begabung» ist ein<br />
dynamischer Begriff, <strong>und</strong> auch auf der Sek-II-Stufe<br />
gibt es vieles zu verlieren <strong>und</strong> zu gewinnen.<br />
Während einen also die angelaufene pädagogische<br />
Diskussion ermutigt, bereiten auf der andern<br />
Seite die finanzpolitisch bedingten Kostensenkungsmassnahmen<br />
der letzten Jahre Sorgen.<br />
Denn die beiden für die begabungsfördernde<br />
Schule hauptsächlichen Postulate nach Individualisierung<br />
<strong>und</strong> Differenzierung des Angebots sind<br />
aus Kostengründen in Gefahr: das Auflösen von<br />
Fachstellen wie Musik, die Reduktion handwerklicher<br />
<strong>und</strong> hauswirtschaftlicher Angebote, Einsparungen<br />
bei Projekten, Projektwochen <strong>und</strong> Exkursionen,<br />
die Minderung der Wahlfachangebote<br />
<strong>–</strong> das sind eben alles Elemente, die neben der rein<br />
kognitiven Entwicklung eine breite <strong>Begabungsförderung</strong><br />
im Sinne Gardners unterstützen würden.<br />
Martin Better<br />
<strong>Begabungsförderung</strong> in der Mittel- oder<br />
Berufsschule<br />
Möglichkeiten im Unterricht<br />
• Individualisierender Unterricht<br />
• Erweiterte Lehr- <strong>und</strong> Lernformen<br />
• Differenzierung im Unterricht<br />
mit Lerngruppen, Niveaugruppen<br />
• Stärken- anstatt Defizitorientierung<br />
• Interessenfragebogen, Themenmitgest<strong>alt</strong>ung<br />
durch Lernende<br />
• Förderung von selbstgesteuertem Lernen<br />
• Ersatzaufgaben statt Zusatzaufgaben<br />
(kein sinnloses Üben)<br />
• Offene Aufgabenstellungen mit verschiedenen<br />
Lösungswegen<br />
• Vortests, um festzustellen, ob Lernziele<br />
bereits vorher erfüllt werden<br />
• Möglichkeit für eigene Projekte mit<br />
Zielvereinbarung<br />
• Wettbewerbe<br />
• Förderorientierte Leistungsbeurteilung<br />
Möglichkeiten in der Schule<br />
• Priorisierung/Unterstützung durch<br />
Schulleitung<br />
• Thema innerhalb der Schulentwicklung<br />
• Motivierende Raumgest<strong>alt</strong>ung<br />
(helle grosse Räume)<br />
• Verstärkte Zusammenarbeit im Lehrkörper<br />
• Projektgemeinschaften, auch klassen-/<br />
berufsübergreifend<br />
• Überfachliche Projekte<br />
• Ressourcennutzung bei allen an der Schule<br />
Beteiligten<br />
• Vielseitiges Freifach- <strong>und</strong> Stützkursangebot<br />
• Ressourcenraum (mit Literatur, Spielen,<br />
Biographien)<br />
• Lesezirkel<br />
• Philosophie-Café<br />
• Mathematik-Club<br />
• Künstler-Atelier<br />
• Schreib-Atelier<br />
• Fachausstellungen<br />
• Konversationsgruppen in Fremdsprachen