DT Magazin | Ausgabe 3 - Spielzeit 2012/13 - Deutsches Theater
DT Magazin | Ausgabe 3 - Spielzeit 2012/13 - Deutsches Theater
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<strong>Ausgabe</strong> 3 - <strong>Spielzeit</strong> <strong>2012</strong>/20<strong>13</strong><br />
Wer darf rein und wer muss raus?<br />
dt<br />
<strong>Magazin</strong>
Kultur<br />
für Berlin.<br />
Täglich!<br />
Editorial<br />
In seinem Buch ‚Die Ausgeschlossenen‘ entwickelt der Soziologe Heinz Bude die These, dass eine<br />
immer größere Zahl von Menschen in dem Bewusstsein lebt, überflüssig zu sein. Die Gründe dafür sind<br />
unterschiedlich, gemeinsam aber ist den Betreffenden, dass ihnen eine angemessene Teilhabe am<br />
gesellschaftlichen Leben verwehrt bleibt. Ausgrenzungs- und Verlusterfahrungen haben sowohl<br />
die ehemals hochrangigen Banker gemacht, die Andres Veiel für sein dokumentarisches <strong>Theater</strong>stück<br />
‚Das Himbeerreich‘ befragt hat, als auch die Interviewpartner, deren Flucht- und Heimatgeschichten<br />
Tobias Rausch in ‚Fluchtpunkt Berlin‘ beleuchtet. Auf andere Art ausgeschlossen ist, wessen Stimme auf<br />
einmal nicht mehr gehört wird. Darin liegt das Erzählinteresse von Milan Peschel bei seiner Inszenierung<br />
von Sean O’Caseys ‚Juno und der Pfau‘, und davon erzählt, in anderer Weise, auch Eugen Ruge mit<br />
‚In Zeiten des abnehmenden Lichts‘, wenn er den Alltag in der DDR schildert. ‚Stallerhof‘ von Franz Xaver<br />
Kroetz schließlich verhandelt die Elternschaft geistig behinderter Menschen und fragt damit noch<br />
einmal auf andere Weise nach dem gesellschaftlichen Drinnen und Draußen.<br />
Inhalt<br />
Reines Banker-Bashing wäre heuchlerisch<br />
Andres Veiel inszeniert ‚Das Himbeerreich‘<br />
Seite 4<br />
Am Ende einer Utopie<br />
Gespräch mit Eugen Ruge über ‚In Zeiten des abnehmenden Lichts‘<br />
Seite 10<br />
Das Elend weglachen<br />
Milan Peschel und Magdalena Musial über ‚Juno und der Pfau‘ von Sean O’Casey<br />
Seite 16<br />
Orte ohne Rückkehr<br />
Tobias Rausch erkundet mit Jugendlichen die Bedeutung von Heimat und Flucht<br />
Seite 18<br />
Das Kind kommt in ein Heim<br />
Franz Xaver Kroetz Stücke ‚Stallerhof‘ und ‚Geisterbahn‘ werfen Fragen nach<br />
Elternschaft und Sexualität geistig behinderter Menschen auf<br />
Seite 20<br />
Wo fängt die Verantwortung des Einzelnen an?<br />
Max Claessen inszeniert ‚Ich denke an Yu‘ von Carole Fréchette<br />
Seite 22<br />
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Telefon (030) 290 21-555 · www.tagesspiegel.de/probe<br />
Impressum<br />
Herausgeber: <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong> Berlin, Schumannstraße <strong>13</strong>a, 10117 Berlin,<br />
Intendant: Ulrich Khuon, Geschäftsführender Direktor: Klaus Steppat,<br />
Redaktion: Claus Caesar, Gaby Schweer, Gestaltung: Milena Fischer, Sabine Meyer,<br />
Fotos: Arno Declair, Bild: Edward B. Gordon, Gesamtherstellung: Verlag Der Tagesspiegel GmbH,<br />
Druck: möller druck und verlag gmbh
Reines Banker-Bashing<br />
wäre heuchlerisch<br />
Andres Veiel (,Blackbox BRD‘, ,Der Kick‘, ,Wer wenn nicht wir‘) nimmt sich in seinem<br />
dokumentarischen Stück ,Das Himbeerreich‘ der opaken Welt der Hochfinanz an.<br />
Für die Koproduktion von Deutschem <strong>Theater</strong> und Schauspiel Stuttgart hat Veiel<br />
zahlreiche Banker interviewt und versucht, die Verbindungslinien zwischen ihren<br />
persönlichen Motiven und den gesellschaftlichen Strukturen aufzuzeigen.<br />
Ein Gespräch über Etagendiener, gierige Zahnärzte und Aktenordner voller Text.<br />
Andres Veiel<br />
Christoph Koch — Sie haben sich mit der RAF beschäftigt, mit<br />
Schauspielschülern und rechtsextremen Gewalttätern. Mit ihrem<br />
neuen Stück ‚Das Himbeerreich‘ widmen Sie sich den obersten<br />
Etagen der Finanzwelt. Wie wählen Sie Ihre Themen aus?<br />
Andres Veiel — Der Motor für meine Arbeiten sind immer meine<br />
eigenen Fragen. Bereits vor über zehn Jahren hat ein Vorstandsmitglied<br />
der Deutschen Bank mir gegenüber zugegeben: „Wir<br />
erzeugen immer mehr Geld ohne einen realen Gegenwert –<br />
natürlich läuft das auf einen Abgrund zu.“ Auf meine Frage, was<br />
die Konsequenz daraus sei, sagte er nur: „Die Kuh melken,<br />
solange sie Milch gibt.“ Die Fragen, die mich seither beschäftigen,<br />
lauten: Muss man das hinnehmen? Und: Wer bezahlt am<br />
Ende dafür?<br />
Koch — Sie haben für das Stück mit rund 25 teils ehemaligen<br />
Investmentbankern, Managern und Bankvorständen gesprochen.<br />
Wie konnten Sie die dafür gewinnen?<br />
Veiel — Ich wollte das Thema sehr konkret angehen und mit den<br />
Menschen in den Machtpositionen sprechen, die diese Entscheidungen<br />
tatsächlich fällen. Bei den Vorstandsmitgliedern von<br />
Banken war schnell klar, dass keiner vor einer Kamera sprechen<br />
würde.<br />
Koch — Nicht mal die ehemaligen?<br />
Veiel — Auch die sind meist noch vertraglich zu Stillschweigen<br />
verpflichtet und genießen nach wie vor zahlreiche Privilegien<br />
wie Büro, Fahrer oder Etagendiener. Diese Welt, in der man<br />
eigentlich bereits entmachtet ist, aber trotzdem noch Teil des<br />
Systems, ist das Himbeerreich. In einem <strong>Theater</strong>text konnte ich<br />
ihnen Anonymität zusichern und somit über interne Betriebsabläufe<br />
sprechen und sehr konkret werden, ohne dass man sie<br />
belangen kann. Es hat dennoch lange gedauert, ein gewisses<br />
Vertrauen herzustellen. Bei einigen konnte ich erst beim fünften<br />
Gespräch das Aufnahmegerät mitlaufen lassen, bei anderen saß<br />
ich bis zuletzt mit deren Anwälten beisammen und habe um<br />
einzelne Passagen gerungen.<br />
Koch — Warum wollten Sie das Thema überhaupt anhand einzelner<br />
Personen und Biographien erzählen?<br />
Veiel — Es geht mir nicht darum, nur die Gier von ein paar einzelnen<br />
anzuprangern. Ich wollte – ohne jetzt zu psychologisch<br />
werden zu wollen – auch schauen, wo diese Täter manchmal<br />
selbst auch Opfer sind. Es hat mich interessiert, warum sich<br />
Menschen wider besseren Wissens bereit erklärt haben, etwas<br />
mitzutragen, von dem sie wussten, dass es unverantwortlich ist.<br />
Von dem klar war, dass irgendwann die Allgemeinheit dafür aufkommen<br />
muss. Sei es der Steuerzahler oder der kleine Sparer,<br />
dessen Vermögen plötzlich entwertet wird.<br />
Koch — Haben Sie ein Beispiel für dieses Privatisieren von Gewinnen<br />
und das Sozialisieren von Verlusten?<br />
Veiel — Die Hypo Real Estate ist ein drastisches Beispiel. Das ist<br />
eine Bad Bank mit schlechten Papieren in zweistelliger Milliardenhöhe.<br />
Noch weiß niemand, ob das 20 oder 50 Milliarden sind,<br />
die da bis 2020 abseits des Bundeshaushalts versteckt sind.<br />
Irgendwann wird diese Summe ein riesiges Loch in den Bundeshaushalt<br />
reißen. Aber dann werden sich die, die dafür verantwortlich<br />
sind, vermutlich nicht mehr damit befassen müssen.<br />
Koch — Weil sie dann schon ins Himbeerreich hinübergewechselt<br />
haben. Wie ist es dort?<br />
Veiel — Einerseits ein himmlischer Zustand: Süße Früchte wachsen<br />
einem in den Mund, es ist für alles gesorgt. Gleichzeitig ist<br />
es ein Zustand, in dem diese Altvorstände und ehemaligen<br />
Entscheider plötzlich nicht mehr gefragt werden, an Bedeutung<br />
verlieren. Es ist ein Zustand des Wartens und der Einsamkeit.<br />
Der Tod rückt näher. Das Himbeerreich ist eine Art Vorhölle –<br />
oder ein Vorparadies, je nachdem wie man es sehen will.<br />
4<br />
—<br />
Interview Andres Veiel<br />
5<br />
—<br />
Das Himbeerreich
Koch — Ist es nicht ein bisschen einfach, die ganze Schuld für die<br />
aktuelle Krise nur einer Handvoll gieriger Investmentbanker in<br />
die Schuhe zu schieben?<br />
Veiel — Das tun wir auch nicht! So ein Banker-Bashing wäre<br />
einerseits zu einfach, gleichzeitig fände ich das heuchlerisch.<br />
In dem Stück thematisieren wir genauso die Verantwortung der<br />
Politik, die den Geist gewissermaßen erst aus der Flasche gelassen<br />
hat. Und es geht auch um das allgemeine Klima des ständigen<br />
Wachstums, das die gegenwärtige Krise überhaupt erst<br />
ermöglicht hat.<br />
Koch — Weil alle mitzocken wollten, nicht nur die ganz Großen?<br />
Veiel — Ja, da gehört ja der Zahnarzt genauso dazu, der sich<br />
nicht mit den zwei Prozent Zinsen auf seinem Sparbuch zufrieden<br />
geben will. Weil er denkt: Da muss doch mehr drin sein, ich<br />
bin doch kein Idiot. Oder der Stadtkämmerer, der Immobilien an<br />
einen amerikanischen Fonds verkauft und sie dann für die nächsten<br />
99 Jahre zurückleast. Dieses Gefühl, schlauer zu sein als die<br />
anderen, ein gutes Geschäft aufgetan zu haben, das die anderen<br />
nur nicht verstehen – dabei durchschaut man die Produkte selber<br />
nicht, die man den Investmentbankern da abkauft.<br />
Koch — „Was muss passieren, damit was passiert?“ lautete eine<br />
Ihrer zentralen Fragestellungen, als Sie sich mit der RAF beschäftigten.<br />
Wie beurteilen Sie die Demonstrationen in Spanien<br />
und Griechenland, bei denen es in letzter Zeit immer häufiger<br />
auch zu Gewalt kam?<br />
Veiel — Mein Eindruck ist, dass da nur wenige protestieren und<br />
zum Beispiel in Spanien vorwiegend die Älteren. Das bröckelt<br />
schnell wieder und ist außerdem ein regional sehr begrenzter<br />
Protest. Die Gewerkschaften in Deutschland rufen eben nicht<br />
zum Generalstreik auf, sondern es sind leider nur die unmittelbar<br />
Betroffenen, die auf die Straße gehen.<br />
Koch — In Deutschland gibt es einerseits eine große Wut über<br />
diese Gier und Geschäftemacherei, gleichzeitig wird oft geklagt,<br />
das Thema sei zu komplex. Können Sie das nachvollziehen?<br />
Veiel — Dieses ständige Betonen, wie komplex alles ist, ist auch<br />
ein bequemer Weg, um den Leuten, deren Lebensversicherungen<br />
gerade wertlos geworden sind, zu sagen: „Ihr versteht es ja<br />
eh nicht und wisst es auch nicht besser.“ Andererseits stimmt<br />
es natürlich: Eine Sprache, die mit Begriffen wie Derivat oder stochastischer<br />
Volatilität operiert, ist bewusst darauf angelegt,<br />
dass die Finanz-Elite nicht verstanden werden will. Und vor dieser<br />
Tintenfischwolke aus Vokabular resignieren viele.<br />
Koch — Es wäre unter anderem die Aufgabe des Journalismus,<br />
diese Komplexität aufzubrechen und solche Themen anschaulich<br />
zu erklären. Hat der Journalismus Ihrer Meinung nach versagt?<br />
Veiel — Insbesondere im Wirtschaftsjournalismus mangelte es<br />
lange Jahre an der Unabhängigkeit im Urteil. Das merkt man daran,<br />
dass ebenso wie in der Politik auch im Journalismus kaum<br />
jemand diese Krise vorhergesehen hat. Es war beinahe ketzerisch<br />
dieses uneingeschränkte Wachstumsdenken zu hinterfragen.<br />
Blase, welche Blase? Alle glaubten an die „trickle down<br />
economy“ ...<br />
Eine Sprache, die mit Begriffen wie<br />
Derivat oder stochastischer<br />
Volatilität operiert, ist darauf angelegt,<br />
nicht verstanden zu werden.<br />
Koch — ... das, was oben verdient wird, kommt irgendwann unten<br />
an.<br />
Veiel — Der Bankier braucht schließlich Hausangestellte, lässt<br />
sich eine Yacht bauen und stellt Leibwächter in Lohn und Brot.<br />
Irgendwann, so der Glaube, kommt der Segen also bei allen an.<br />
Und wenn das jemand in Frage stellte, hieß es sofort: Neidkultur!<br />
Wir leben außerdem in einer Zeit, die die Information vorsätzlich<br />
immer weiter dekontextualisiert. Scheinbar ist alles<br />
zugänglich, aber immer nur als Phänomen. Immer seltener werden<br />
Dinge in Zusammenhang gestellt, werden Ursachen aufgespürt<br />
– auch im Journalismus.<br />
Koch — Sie betreiben für Ihre Arbeiten – egal, ob Film oder <strong>Theater</strong>stück<br />
– einen sehr großen Rechercheaufwand. Wie stellen<br />
Sie sicher, dass Sie bei diesen Unmengen an Archivmaterial, an<br />
Interviews und so weiter, nicht den Blick für das Wesentliche<br />
verlieren?<br />
Veiel — Die Interviews zum Beispiel werden wortwörtlich Einszu-eins<br />
transkribiert, jedes Fitzelchen. Daraus entstehen ganze<br />
Aktenordner voller Text. Die lese ich dann noch einmal durch<br />
und merke schnell, an welchen Stellen ich sie spannend finde.<br />
Das ist eher ein Bauchgefühl.<br />
Koch — Wie muss man sich das ganz konkret vorstellen? Textmarker?<br />
Klebezettel? Karteikasten?<br />
Veiel — Was ich relevant finde, markiere ich mit Textmarker.<br />
Dann gibt es die Ausrufezeichen: Besonders spannende Textstellen<br />
markiere ich mit einem Ausrufezeichen. Zwei und drei<br />
Ausrufezeichen sind die Steigerungsformen. Dann suche ich<br />
Stellen, mit denen man das montieren kann: Wozu passt das<br />
thematisch? Gibt es da einen Gegenspieler?<br />
Koch — Dann wandert es vom Aktenordner in den Computer?<br />
Veiel — Ja, dann entsteht eine grobe Fünf-Akt-Struktur und ich<br />
fange an entsprechend zu montieren. Dann pumpe ich immer<br />
mehr Material in diese Struktur. Später lese ich es durch und<br />
nehme wieder etwas raus, wenn ich zum Beispiel merke, dass<br />
ich ins Mäandern gerate oder dass ein Beispiel statt dreien auch<br />
genügt. Dann wandern Dinge in einen Materialberg, der unter<br />
dem eigentlichen Text steht. Manchmal geht es auch wieder<br />
umgekehrt: Dann merke ich, dass ich etwas weggenommen<br />
habe, das zum Verständnis fehlt. Also wandert es aus dem Materialberg<br />
wieder nach oben. Es ist ein permanentes Zerstören,<br />
das sich später in der Arbeit mit den Schauspielern fortsetzt.<br />
Koch — Wie wählen Sie Ihre Gesprächspartner aus?<br />
Veiel — Durch Recherche und Vorgespräche, manchmal ist es<br />
aber auch einfach nur ein glücklicher Zufall, dass ich auf jemanden<br />
stoße. Einen Bankmitarbeiter habe ich beim Occupy-Camp<br />
getroffen. Der stand da im Anzug herum und diskutierte. Das<br />
fand ich natürlich interessant, dass der sich dem so aussetzt.<br />
Dieser Mitarbeiter – kein Vorstandsmitglied, mittlere Händlerebene<br />
– hat das ,Himbeerreich‘ sehr bereichert.<br />
Koch — Kann man wirklich alles verstehen, wenn man nur lang<br />
genug recherchiert und mit genügend Menschen spricht? Oder<br />
gibt es Dinge – wie beispielweise den grausamen Mord, den Sie<br />
für ‚Der Kick‘ analysierten –, die immer einen Rest Unbegreiflichkeit<br />
behalten?<br />
Veiel — Bei ‚Der Kick‘ habe ich ja zuerst das <strong>Theater</strong>stück und<br />
den Film gemacht und bin dann noch mal in das Dorf gefahren.<br />
Da habe ich gemerkt, dass es bei dieser Geschichte Aspekte gibt,<br />
die ich mir noch nicht angesehen hatte. Und erst als ich durch<br />
weitere Gespräche die Großelterngeneration, den historischen<br />
Aspekt und das Dorf als räumlichen Körper noch mit hineingenommen<br />
habe, konnte ich das Buch schreiben und dann das<br />
Thema irgendwann auch loslassen. Aber selbst ganz am Ende<br />
bleiben immer noch Fragen.<br />
Koch — Wie ertragen Sie die Gewalt, die so oft Ihr Thema ist? Wie<br />
halten Sie es aus, sich jahrelang bis ins letzte Detail damit auseinanderzusetzen,<br />
wie ein Jugendlicher einem Menschen mehrmals<br />
auf den Kopf springt?<br />
Veiel — Bei ‚Der Kick‘ bin ich tatsächlich an meine eigenen Grenzen<br />
gekommen und fand viele der Bilder in meinem Kopf unerträglich.<br />
Beim ‚Himbeerreich‘ ist es nicht ganz so schlimm. Da<br />
gibt es auch eine gewisse Fassungslosigkeit – die interessanterweise<br />
nicht geringer wird, je mehr ich erfahre, sondern immer<br />
größer. Aber es gibt auch, zumindest stellenweise, ein Verstehen,<br />
warum der eine oder andere so gehandelt hat, wie er gehandelt<br />
hat.<br />
Koch — Wie hat sich Ihre Arbeitsweise in den letzten zehn Jahren<br />
verändert?<br />
Veiel — Ich habe die generelle Erfahrung gemacht, dass es immer<br />
schwieriger wird, an den Zentren der Macht dokumentarisch<br />
zu arbeiten. Durch zwischengeschaltete PR-Agenturen und<br />
durch ein gewachsenes Misstrauen gegenüber jeder Art von<br />
Transparenz ist das kaum noch möglich. Wenn es über die reine<br />
Selbstdarstellung von Erfolgen hinausgehen soll, wenn Entscheidungen<br />
hinterfragt oder wenn Machtzentren transparent<br />
gemacht werden sollen – dann merke ich, dass ich mit der Kamera<br />
dort nicht mehr reinkomme. ‚Black Box BRD‘ war vermutlich<br />
die letzte Chance für so etwas. Auch ‚Das Himbeerreich‘<br />
wäre dokumentarisch undenkbar gewesen. Niemand, der mit<br />
mir gesprochen hat, hätte das auch vor einer Kamera erzählt.<br />
Daher also ein Hoch auf das <strong>Theater</strong> – die Bühne ist genau der<br />
richtige Ort für diesen wichtigen Stoff.<br />
Andres Veiel gehört zu den wichtigsten deutschen Filmregisseuren der<br />
Gegenwart. Veiels kritisch-analytischer Blick prägt seine Arbeiten, angefangen<br />
bei seinen Dokumentarfilmen wie ,Black Box BRD‘ bis hin zu seinem<br />
jüngsten Spielfilm ,Wer wenn nicht wir‘. Mit der Inszenierung von ,Der<br />
Kick‘ gelang ihm zudem ein Meisterwerk des dokumentarischen <strong>Theater</strong>s,<br />
das zum Berliner <strong>Theater</strong>treffen eingeladen und auf Gastspielen weltweit<br />
gezeigt wurde.<br />
(Stück) Das Himbeerreich von Andres Veiel<br />
Uraufführung<br />
Koproduktion mit dem Schauspiel Stuttgart<br />
(Berlin-Premiere) 16. Januar 20<strong>13</strong> (Ort) <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong><br />
(Vorstellungen) 17., 20., 28.1.; 12.2.<br />
(Inhalt) Eine ganz besondere Etage einer großen deutschen Bank. Büros<br />
von Vorstandsmitgliedern – manche sind bereits in Rente, andere stehen<br />
noch in der Verantwortung. Die Krise ist inzwischen auch hier angekommen;<br />
jeder hat seine eigene Geschichte, seine eigene Deutung der<br />
Ereignisse. Der eine hat aufgrund der Krise seinen Job verloren oder ist<br />
freiwillig gegangen, der andere ist durch sie reich geworden. Der eine<br />
weiß, was jetzt zu tun wäre, wird aber nicht mehr gefragt. Er misstraut<br />
denen, die in der Verantwortung stehen, weil sie glauben, es besser zu<br />
wissen. Die anderen in der Verantwortung wissen auch, was zu tun<br />
wäre, aber handeln sie danach? Sie folgen bestimmten Interessen, aber<br />
welche sind das eigentlich?<br />
(Es spielen) Manfred Andrae, Joachim Bißmeier, Jürgen Huth, Sebastian<br />
Kowski, Ulrich Matthes, Susanne-Marie Wrage<br />
(Regie) Andres Veiel (Bühne) Julia Kaschlinski (Kostüme) Michaela Barth<br />
(Chorleitung) Stefan Streich (Dramaturgie) Ulrich Beck, Jörg Bochow<br />
Gefördert von der Kulturstiftung des Bundes<br />
6<br />
—<br />
Interview Andres Veiel<br />
7<br />
—<br />
Das Himbeerreich
Joachim Bißmeier, Manfred Andrae, Jürgen Huth, Sebastian Kowski, Ulrich Matthes, Susanne-Marie Wrage in ,Das Himbeerreich‘
<strong>DT</strong> — Dein Roman ,In Zeiten des abnehmenden Lichts‘ hat viele<br />
Berührungspunkte mit deiner Biographie und der Geschichte<br />
deiner Familie: Gab es einen Punkt, an dem du das Gefühl hattest,<br />
jetzt habe ich den Abstand und die literarische Freiheit,<br />
eine Familiengeschichte in Zeiten der DDR zu erzählen?<br />
Eugen Ruge — Das hat sehr lange gedauert. Zunächst war es so,<br />
dass ich gar keine Lust auf DDR-Geschichten hatte. Ich bin ja<br />
damals nicht umsonst abgehauen. Ich dachte, ich kann über dieses<br />
Land keine Silbe mehr schreiben, weil es einfach uninteressant<br />
ist. Das war 1988, ziemlich exakt ein Jahr vor der Wende. Es<br />
dauerte Jahre, ehe ich anfing ein erstes Kapitel auszuprobieren.<br />
2006 starb dann mein Vater, ein wichtiger Moment aus ganz verschiedenen<br />
Gründen, aber auch, weil mir bei der Auflösung des<br />
<strong>DT</strong> — Bei aller Liebe und Empathie, die Familiengeschichte beginnt<br />
mit einer sehr heftigen Auseinandersetzung: Alexander<br />
besucht seinen demenzkranken Vater Kurt und wünscht ihm<br />
mehr oder weniger den Tod an den Hals. Da hast du schon<br />
in Kauf genommen, dass man den Sohn sehr unsympathisch<br />
findet …<br />
Ruge — Der Roman braucht diesen Ausgangspunkt, um loszugehen.<br />
Es ist sozusagen eine umgekehrte Fallhöhe. Von dort aus<br />
schlägt die Entwicklung Alexanders einen Bogen bis zum<br />
Schluss, wo er sozusagen versöhnt ist mit der Welt und seinem<br />
Vater. Es fängt also ganz tief unten an, in dem Moment, in dem<br />
er eine tödliche Diagnose bekommt. Insofern stehen sich zu<br />
Beginn zwei Todkranke gegenüber, der Vater demenzkrank, der<br />
Am Ende einer Utopie<br />
Ein Gespräch mit Eugen Ruge über ,In Zeiten des abnehmenden Lichts‘<br />
<strong>DT</strong> — Die Figuren, von denen du erzählst, sind gleichzeitig stark<br />
beeinflusst und betroffen von politischen Entwicklungen. Der<br />
Mikrokosmos Familie wird also auch zum Spiegel der „großen<br />
Geschichte“.<br />
Ruge — Genau darum habe ich mich bemüht. Ich habe versucht,<br />
auf wahrhaftige Weise die Geschichte einer Familie im zweiten<br />
Teil des 20. Jahrhunderts zu erzählen, ihre kleinen Geschichten.<br />
Und dafür verbürge ich mich. Was das jetzt auslöst, was die<br />
Geschichte dieses Mikrokosmos über sich selbst hinaus erzählt,<br />
das geht mich eigentlich nichts mehr an. Ein Beispiel: Wenn zu<br />
mir jemand sagt, „ist ja ne tolle Metapher, dieses Haus, das der<br />
Wilhelm so langsam kaputt renoviert, eine tolle Metapher für die<br />
DDR!“, da sage ich, „ja, stimmt eigentlich“, doch im Moment des<br />
Schreibens war es einfach so, dass ich das kenne – so ähnlich,<br />
nicht genauso – und natürlich spüre, dass es gut und treffend ist,<br />
insofern kann ich mich für alles, was ich über dieses Haus<br />
schreibe, verbürgen. Für die Metapher verbürge ich mich nicht,<br />
auch nicht dafür, ob es überhaupt eine Metapher ist oder sein<br />
soll.<br />
<strong>DT</strong> — Dennoch fängt ja das Leben vieler deiner Figuren vor der<br />
DDR an und geht auch nach dem Ende der DDR weiter. Wie sehr<br />
ging es dir auch um die Geschichten davor und danach?<br />
Haushalts sehr vieles durch die Hände ging, das mit der Familie<br />
zusammenhing. Mir wurde bewusst, dass die Dinge, die ich in<br />
der Hand halte und die für mich noch etwas bedeuten, für die<br />
nächste Generation schon bedeutungslos sind. Und das Bedürfnis,<br />
etwas davon bewahren zu wollen, war ein sehr starker Antrieb<br />
zum Schreiben.<br />
<strong>DT</strong> — Es ging also mehr um das Bewahren-Wollen von Erfahrungen<br />
als um eine Art Vergangenheitsbewältigung?<br />
Ruge — Ich hatte, Gott sei Dank, persönlich keine Schuld angehäuft<br />
und musste in dem Sinne nichts verarbeiten. Andererseits<br />
war ich auch nicht aktiv oppositionell. Ich war zwar oft unvorsichtig,<br />
hatte immer eine große Klappe, schon von der Schule an,<br />
und mitunter auch Schwierigkeiten, aber nie richtig ernste<br />
Probleme mit der Staatssicherheit. Es war also für mich keine<br />
Sache des Aufarbeitens oder Verarbeitens, sondern vielmehr der<br />
Wunsch, etwas zu bewahren von verschiedenen Erfahrungen,<br />
Lebensgefühlen und aussterbenden Arten, die Welt zu sehen.<br />
<strong>DT</strong> — Das merkt man den Figuren auch an, dass sie mit einer<br />
großen Empathie geschrieben sind, bei allen Macken und<br />
Schwierigkeiten …<br />
Ruge — Ich wundere mich oft, dass manche Leser das gar nicht<br />
so sehen, sondern vieles zuerst als ganz schrecklich und grausam<br />
empfinden. Dabei sind die Figuren eigentlich alle mit viel<br />
Liebe und Empathie geschildert, allein schon dadurch, dass ich<br />
erzählerisch stark in die Figuren hineingegangen bin und ihre<br />
Perspektive einnehme. ,In Zeiten des abnehmenden Lichts‘ ist<br />
kein nostalgisches Buch. Es geht darum, das Leben dieser Menschen<br />
zu verstehen und etwas weiterzugeben von den Erfahrungen,<br />
die sie gemacht haben.<br />
Sohn krebskrank: am Ende einer Familiengeschichte, am Ende<br />
der Geschichte eines Landes, am Ende der Geschichte einer<br />
Utopie.<br />
<strong>DT</strong> — Im weiteren Verlauf meiden die Figuren des Romans<br />
Konflikte eher, ja, sie fliehen regelrecht davor. Insofern ist diese<br />
Familiengeschichte auch eine Fluchtgeschichte. Lässt sich Alexanders<br />
Flucht in den Westen als Symptom dafür verstehen?<br />
Ruge — Auf jeden Fall. Und auch nach Mexiko flieht er zunächst.<br />
Er reist bis ans Ende der Welt, bis zum Pazifik, wo es dann nicht<br />
mehr weitergeht. Zwar begibt er sich zwischendurch auf die<br />
Suche nach Orten, an denen seine Großmutter während ihrer<br />
Zeit im mexikanischen Exil war. Er flieht durch die halbe Welt<br />
und kommt irgendwann einfach zur Ruhe. Und in dem Augenblick,<br />
in dem die Flucht aufhört, beginnt die Annahme: seines<br />
Lebens, seiner Geschichte, seiner Identität, aber auch seines<br />
möglichen Endes. Das ist ein Prozess, mit dem er noch nicht<br />
fertig ist, wenn das Buch aufhört.<br />
<strong>DT</strong> — Diese Haltung von erinnerndem Verständnis ist ungewöhnlich<br />
für Romane über die untergegangene DDR.<br />
Ruge — Es verengt auch die Sicht, wenn man immerzu versucht,<br />
die DDR so oder so zu beurteilen. Sicher muss man über die<br />
Staatssicherheit sprechen und über den Repressionsapparat,<br />
aber darüber ist auch schon sehr viel gesprochen worden. Ich<br />
habe versucht zu beschreiben, dass es in einer Diktatur auch<br />
einen Alltag gab. Würde man über Nacht alle Archive der CIA<br />
öffnen und die ganze Geschichte der Vereinigten Staaten nur<br />
unter diesem Blickwinkel betrachten, dann bekäme man eben<br />
auch ein verzerrtes Bild von den USA.<br />
Ruge — Ich hatte schon lange das Bedürfnis, ein Buch zu schreiben,<br />
das die Binnenperspektive auf die DDR aufbricht, indem es<br />
die DDR in einen größeren historischen und geopolitischen Kontext<br />
stellt. Deshalb der Beginn in Mexiko, Russland, deshalb<br />
diese Figuren, die wiederkommen und Erfahrungen aus anderen<br />
Ländern mitbringen, die räumlich und zeitlich über die DDR<br />
hinaus reichen. Die DDR ist eingebettet in größere Zusammenhänge,<br />
weil das Leben der Menschen, von denen ich erzähle, von<br />
diesen Zusammenhängen geprägt ist. Und so ist es im Text eben<br />
möglich, dass die wirklich großen Verbrechen des Sozialismus,<br />
die Gräuel der Stalin-Ära miterzählt werden, die ganz andere<br />
Dimensionen haben als die Verbrechen der Stasi. Dem entgegen<br />
steht eine ganz andere Perspektive, etwa die der russischen<br />
Großmutter, in deren Augen die DDR ein wunderbares Land ist,<br />
ein geradezu paradiesisches Land mit einem für sie unvorstellbaren<br />
Reichtum. Diese Frau ist in Sibirien groß geworden und<br />
hat ein unglaublich schweres Leben hinter sich. Und jetzt kommt<br />
sie in die DDR, und da gibt es alles, unwahrscheinliche Dinge,<br />
Milch in Tüten und so viel man haben will. Sie versteht gar nicht<br />
den Unterschied, wenn ihre Tochter Irina sagt: Im Westen kann<br />
man alles kaufen! Durch solche unterschiedlichen Blickwinkel<br />
versuche ich eben, andere Kontexte herzustellen, die ich persönlich<br />
sehr wichtig finde. Und sicher war das auch eine der Dringlichkeiten,<br />
aus denen heraus das Buch entstanden ist.<br />
Interview: Juliane Koepp und John von Düffel<br />
Eugen Ruge, Sohn des bekannten DDR-Historikers Wolfgang Ruge, wurde<br />
1954 in der Stadt Soswa im Ural geboren und studierte Mathematik an der<br />
Humboldt-Universität. Bevor er 1988 aus der DDR in den Westen ging,<br />
arbeitete er beim DEFA-Studio für Dokumentarfilm. Seit 1989 ist er hauptberuflich<br />
fürs <strong>Theater</strong> und für den Rundfunk als Autor und Übersetzer tätig.<br />
Für das Prosamanuskript ,In Zeiten des abnehmenden Lichts‘ und den<br />
daraus entstandenen Roman erhielt Ruge 2009 den Alfred-Döblin-Preis<br />
sowie 2011 den Aspekte-Literaturpreis und den Deutschen Buchpreis.<br />
(Stück) In Zeiten des abnehmenden Lichts<br />
von Eugen Ruge<br />
(Uraufführung) 28. Februar 20<strong>13</strong> (Ort) <strong>Deutsches</strong> <strong>Theater</strong><br />
(Es spielen) Margit Bendokat, Markus Graf, Christian Grashof,<br />
Gabriele Heinz, Judith Hofmann, Alexander Khuon, Bernd Stempel<br />
(Regie) Stephan Kimmig (Bühne) Katja Haß (Kostüme) Anja Rabes<br />
(Dramaturgie) Juliane Koepp<br />
Eugen Ruge<br />
10<br />
—<br />
Interview Eugen Ruge<br />
11<br />
—<br />
In Zeiten des abnehmenden Lichts
„Es gibt wunderbare Schauspielmomente,<br />
die vor allem Nina Hoss<br />
als Ranjewskaja zu verdanken sind.<br />
Sie stattet die Rolle der Gutsbesitzerin,<br />
für die sie eigentlich<br />
zu jung ist, mit einer strahlenden<br />
Kühle aus, einer somnambulen<br />
Würde, in der sich die Tschechowsche<br />
Melancholie stolz und stilvoll<br />
bewahrt. Das ist so schön.“ zitty<br />
„Loher und Kriegenburg gelingt<br />
eine schlaglichtartige<br />
Bestandsaufnahme unserer<br />
turbokapitalistischen Gesellschaft:<br />
wie ökonomischer Druck die<br />
Menschen und ihre Beziehungen<br />
vergiftet.“ Berliner Morgenpost<br />
Januar<br />
So <strong>13</strong>.<br />
Mo 14.<br />
Di 15.<br />
18.30 Uhr Fluchtpunkt Québec Podiumsgespräch<br />
19.00 Uhr Shakespeare Spiele für Mörder,<br />
Opfer und Sonstige<br />
19.30 Uhr Verbrennungen von Wajdi Mouawad<br />
20.00 Uhr Das Jahr magischen Denkens<br />
nach Joan Didion<br />
19.30 Uhr Hans Schleif Eine Spurensuche<br />
20.00 Uhr Bin oder Die Reise nach Peking<br />
von Max Frisch, Lesung<br />
20.00 Uhr Coriolanus von William Shakespeare<br />
Mi 16. 19.30 Uhr Das Himbeerreich Premiere<br />
von Andres Veiel<br />
20.00 Uhr Verbrecher aus verlorener Ehre<br />
nach Friedrich Schiller<br />
20.00 Uhr Carmen Kittel von Georg Seidel<br />
Do 17. 19.30 Uhr Das Himbeerreich B-Premiere<br />
19.30 Uhr Verbrecher aus verlorener Ehre<br />
20.00 Uhr Lenz von Georg Büchner<br />
Fr 18.<br />
Sa 19.<br />
19.30 Uhr Der Kirschgarten von Anton Tschechow<br />
19.30 Uhr Junges <strong>DT</strong> Odyssee nach Homer<br />
20.00 Uhr Antwort aus der Stille<br />
nach der Erzählung von Max Frisch<br />
22.00 Uhr no one knows selfmade disco<br />
19.30 Uhr Muttersprache Mameloschn<br />
von Marianna Salzmann<br />
20.00 Uhr Ödipus Stadt<br />
von Sophokles, Aischylos, Euripides<br />
20.00 Uhr Tape von Stephen Belber<br />
22.00 Uhr A Night at the Movies Musik und Stories<br />
Spiel plan<br />
<strong>13</strong>. Januar bis 12. Februar 20<strong>13</strong><br />
Sa 26.<br />
So 27.<br />
Mo 28.<br />
Di 29.<br />
Mi 30.<br />
Do 31.<br />
19.30 Uhr Maria Stuart (letztes Mal)<br />
von Friedrich Schiller<br />
20.00 Uhr Ihre Version des Spiels von Yasmina Reza<br />
20.00 Uhr er nicht als er von Elfriede Jelinek<br />
22.00 Uhr Home is where the Heart is Musik<br />
15.00 Uhr Der Kirschgarten<br />
19.00 Uhr Antwort aus der Stille<br />
19.30 Uhr Tschick nach Wolfgang Herrndorf<br />
19.30 Uhr Das Himbeerreich<br />
19.00 Uhr Junges <strong>DT</strong> Maskenzeiten (letztes Mal)<br />
19.30 Uhr Idomeneus von Roland Schimmelpfennig<br />
20.00 Uhr Juno und der Pfau Premiere<br />
von Sean O’Casey<br />
19.30 Uhr Muttersprache Mameloschn<br />
19.30 Uhr Demokratie von Michael Frayn<br />
20.00 Uhr Junges <strong>DT</strong> Fluchtpunkt Berlin<br />
von Tobias Rausch<br />
20.00 Uhr 1933 – Ende des großen Welttheaters<br />
Lesung<br />
19.30 Uhr Shakespeare Spiele für Mörder,<br />
Opfer und Sonstige<br />
20.00 Uhr Geschichten von hier I: Glaube Liebe<br />
Hoffnung Ein Projekt von Frank Abt<br />
Fr 1. 19.30 Uhr Die Perser von Aischylos<br />
20.00 Uhr Biografie: Ein Spiel<br />
Sa 2. 20.00 Uhr Kaminski ON AIR: Der Ring<br />
des Nibelungen Rheingold<br />
Live-Hörspiel nach Richard Wagner<br />
Februar<br />
„Maren Eggert erspielt Nawal<br />
einen luftleeren Raum, in dem<br />
deren große Einsamkeit wie tiefe<br />
Humanität ruhig und genau<br />
deutlich werden.“ FAZ<br />
„Kimmig schafft einen<br />
zweistündigen packenden Schiller-<br />
Thriller, eine Angst-Auslotung,<br />
die in Zeiten von Terrorkrieg<br />
und Folter-Gefängnissen nicht<br />
aufdringlich aktualisiert und trotz<br />
dem brandaktuell wirkt.“ zitty<br />
„Jedes Gefühl wird verschlagen,<br />
jede Geste vergrößert: Solberg lässt<br />
seine Schauspieler überdrehen,<br />
comedysieren, persiflieren wo und<br />
wie es nur geht – und hängt seinem<br />
Schiller doch an den Lippen.“<br />
Berliner Zeitung<br />
So 20.<br />
Mo 21.<br />
Di 22.<br />
Mi 23.<br />
Do 24.<br />
Fr 25.<br />
19.00 Uhr Lenz<br />
19.30 Uhr Das Himbeerreich<br />
20.00 Uhr Tilla von Christoph Hein<br />
19.00 Uhr Junges <strong>DT</strong> Kind ohne Zimmer<br />
von Annett Gröschner<br />
19.30 Uhr Shakespeare Spiele für Mörder,<br />
Opfer und Sonstige<br />
20.00 Uhr Biografie: Ein Spiel von Max Frisch<br />
19.30 Uhr Onkel Wanja von Anton Tschechow<br />
20.00 Uhr Freiboxen Abend mit dem Ensemble<br />
20.15 Uhr Der literarische Abend Gerbrand Bakker<br />
19.30 Uhr Faust. Der Tragödie Erster Teil<br />
von Johann Wolfgang von Goethe<br />
20.00 Uhr Ich denke an Yu von Carole Fréchette<br />
19.30 Uhr Fahr zur Hölle, Ingo Sachs (letztes Mal)<br />
Ein Actionmusical von Studio Braun<br />
20.00 Uhr Coriolanus<br />
19.30 Uhr Am Schwarzen See von Dea Loher<br />
19.30 Uhr Carmen Kittel<br />
20.00 Uhr Tilla<br />
So 3. 20.00 Uhr Kaminski ON AIR: Der Ring<br />
des Nibelungen Walküre<br />
Di 5. 20.00 Uhr Kaminski ON AIR: Der Ring<br />
des Nibelungen Siegfried<br />
Mi 6. 20.00 Uhr Kaminski ON AIR: Der Ring<br />
des Nibelungen Götterdämmerung<br />
Sa 9. 19.30 Uhr Joseph und seine Brüder<br />
nach dem Roman von Thomas Mann<br />
20.00 Uhr Juno und der Pfau<br />
So 10.<br />
Mo 11.<br />
Di 12.<br />
11.00 Uhr Gregor Gysi trifft<br />
Christiane Nüsslein-Volhard<br />
19.00 Uhr Burn Baby Burn Premiere<br />
von Carine Lacroix<br />
19.30 Uhr Ihre Version des Spiels<br />
20.00 Uhr Am Schwarzen See<br />
19.30 Uhr Burn Baby Burn<br />
19.30 Uhr Antwort aus der Stille<br />
20.00 Uhr Das Himbeerreich<br />
20.00 Uhr Juno und der Pfau<br />
Den ausführlichen Spielplan finden Sie unter www.deutschestheater.de<br />
Das Käthchen von Heilbronn<br />
von Heinrich von Kleist<br />
zum letzten Mal am 14. Februar<br />
12<br />
—<br />
Spielplan<br />
<strong>13</strong><br />
—<br />
Spielplan
Anita Vulesica und Michael Schweighöfer in ,Juno und der Pfau‘
Das Elend weglachen<br />
Regisseur Milan Peschel und Bühnenbildnerin Magdalena Musial<br />
über ,Juno und der Pfau‘<br />
Juliane Koepp — ‚Juno und der Pfau‘ spielt in Dublin 1922 und ist<br />
eine Familiengeschichte über verarmte Proletarier im irischen<br />
Bürgerkrieg. Wie geht ihr mit dieser zeitlichen und räumlichen<br />
Distanz um?<br />
Milan Peschel — Einerseits ist das Stück durch den Text verortet,<br />
den wir tatsächlich sehr genau nehmen. Man sollte sich allerdings<br />
heute darin spiegeln können. Aber die Schauspieler<br />
bringen natürlich immer ihre eigene, heutige Welt mit. Mein<br />
<strong>Theater</strong> ist deswegen immer auch im Hier und Jetzt angesiedelt.<br />
Ansonsten hätte ich auch Angst, dass es museal wird.<br />
Magdalena Musial — Was nicht heißt, dass man nicht auch mal<br />
Szenen aus der Vergangenheit zitieren oder Soldaten in historischen<br />
Kostümen auftreten lassen könnte.<br />
Koepp — O’Casey erzählt von gescheiterten und nicht von<br />
vornherein sympathischen Figuren, von Alkoholikern, Arbeitsverweigerern,<br />
Verrätern. Trotzdem – oder vielleicht deshalb –<br />
entwickelt man eine Menge Sympathie für sie.<br />
Peschel — Man merkt, dass O’Casey seine Figuren liebt, mit all<br />
ihren Fehlern und Schwächen. Er verrät sie nie. Es ist der Wille<br />
zum Überleben, der seine Figuren so stark macht.<br />
Musial — Und die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Aber<br />
O’Casey beschreibt diese Sehnsucht nie unmittelbar, etwa mit<br />
Hilfe von inneren Monologen. Er verdeutlicht das immer situativ.<br />
Peschel — Die Sprache von O’Casey ist sehr besonders, weil sie<br />
teilweise ins Lyrische geht, wenn Joxer und Boyle sich unterhalten.<br />
Und zugleich ist sie konkret und unglaublich komisch, sehr<br />
pointiert geschrieben und hat teilweise etwas von Vaudeville-<br />
Nummern. Das ist wunderbar.<br />
Musial — Man hört, dass das nicht alles erfunden ist. Er kennt<br />
diese Leute, und die Sätze, und das, was sie sprechen, das hat<br />
er mal gehört; da sitzt jeder Satz.<br />
Koepp — Die Wünsche der Figuren bleiben unerfüllt, das Glück,<br />
nach dem sie streben, wird ihnen verwehrt. Aber eben mit einer<br />
unglaublichen Komik.<br />
Peschel — Wer nichts mehr zu verlieren hat, lacht am meisten.<br />
Das ist auch ein Weglachen des Elends. Und wir im Publikum<br />
lachen auch am meisten darüber, wenn einer stolpert und dann<br />
die Nase blutet. Das macht Komik aus.<br />
Musial — Unglück ist komisch.<br />
Peschel — Nicht umsonst sagt Jack Boyle im Stück „Die richtigen<br />
Dubliner wissen eben mehr über Tommy Mix und Charlie<br />
Chaplin als von St. Peter und St. Paul“.<br />
Koepp — Entspricht das dem <strong>Theater</strong>, das ihr gern machen wollt?<br />
Peschel — Ich möchte eigentlich eine Art Volkstheater machen,<br />
intellektuelles Volkstheater, kein Stadl, sondern ein <strong>Theater</strong>, das<br />
etwas übers Volk erzählt und mit volkstümlichen Mitteln arbeitet,<br />
was sehr deftig ist und dann auch wieder ganz zart. Das<br />
Deftige und das Zarte nebeneinander, das Brutale und das Liebevolle.<br />
So wie unser Leben eben so ist (lacht).<br />
Koepp — Habt ihr nicht zu kämpfen mit der Fremdheit der<br />
irischen Geschichte, mit den vielen Klischees?<br />
Peschel — Für mich sind diese Klischees sehr wichtig. Man kann<br />
sie bedienen und mit ihnen spielen, und man kann sie dann auch<br />
wieder genussvoll auseinander nehmen. Irland war für mich<br />
immer präsent, obwohl ich aus dem Osten komme und früher ja<br />
nicht einfach dorthin reisen konnte. O’Casey galt damals als<br />
Schriftsteller für die Arbeiterklasse und wurde viel gespielt,<br />
gerade auch hier am Deutschen <strong>Theater</strong>. Und obwohl Irland geographisch<br />
recht weit von uns entfernt liegt, hatte ich stets den<br />
Eindruck, dass die Entfernung gar nicht so groß ist. Vielleicht<br />
liegt das daran, dass die Insel immer eine Art englische Kolonie<br />
war und sich am Rand von Westeuropa befand, ähnlich wie<br />
Polen, Mazedonien oder die Slowakei.<br />
Koepp — Ihr wollt mit dem Stück auch etwas über die Ränder<br />
Europas erzählen.<br />
Musial — Für uns gibt es in den kleinen Staaten Mittel- und<br />
Osteuropas unheimlich viele Parallelen zu Irland oder auch zu<br />
Schottland. Wir haben uns in der Vorbereitung intensiv mit der<br />
Geschichte Irlands und dem Verhältnis zu Großbritannien auseinandergesetzt,<br />
mit dem Osteraufstand und den vielen Kämpfen.<br />
Das ist bis heute brennend aktuell. Ich bin ja in Polen groß<br />
geworden, und auch dort gibt es starke Nachbarn wie Deutschland<br />
oder Russland, gegen die man sich als relativ kleines Land<br />
irgendwie wehren muss. In Polen läuft eine Diskussion darüber,<br />
welche Zivilisation und welche Werte wegweisend sein sollen.<br />
Vernachlässigen wir unsere eigene Kultur und orientieren uns<br />
an England oder Frankreich? Gibt es aus unserer Kultur und Geschichte<br />
eigentlich überhaupt etwas zu sagen oder zu erzählen?<br />
Peschel — Der polnische Autor Andrzej Stasiuk stellt genau diese<br />
Frage: Was ist denn jetzt mit Osteuropa? Nur weil keiner aus<br />
dem Westen nach unserer Geschichte fragt, heißt das, dass es<br />
da auch nichts zu erzählen gibt? Er beschreibt das Leben der<br />
jungen Leute von Polen bis nach Albanien, und, wir kennen das<br />
ja, Coca-Cola ist überall. Das ist auch das Interessante an dem<br />
Stück. Einerseits ein extrem politisiertes Thema, andererseits<br />
aber haben die Figuren – wie man selbst manchmal auch – einfach<br />
die Schnauze voll davon. Man möchte, dass Schluss damit<br />
ist, dass man einfach auch unbegrenzt konsumieren und shoppen<br />
und ein normales westeuropäisches Leben führen kann.<br />
Dass man dazugehört.<br />
Koepp — Ein Teil der Widersprüche, in denen die Figuren existieren.<br />
Peschel — Dazu gehört auch, was sie uns voraushaben, nämlich,<br />
dass sie sich so extrem zu ihren Wurzeln bekennen. Dass sie<br />
hochhalten, was einen ausmacht, die Kultur, die Lieder, die sie<br />
singen …<br />
Musial — ... O’Casey stellt die Frage, was an einem Menschen<br />
wertvoll oder interessant ist, wenn er so ist wie die Leute im<br />
Stück und nichts besitzt. Wir sehen, wie die Figuren miteinander<br />
umgehen, wie sie sich anrotzen, wie sie miteinander lachen<br />
und trinken. Das ganz normale Leben. Wir sehen zwei Männer,<br />
die befreundet sind, natürlich können sie sich verraten oder<br />
auseinandergehen, aber trotzdem sind sie befreundet. Sie sind<br />
eine Familie, das ist allmählich schon etwas Besonderes.<br />
Koepp — Magdalena, für die Bühne hast du trotzdem eine starke<br />
Setzung gewählt, einen Raum extremer Unbehaustheit …<br />
Musial — Ich habe natürlich alle Anweisungen O’Casey’s gelesen,<br />
was ihm wichtig ist und wo was stehen soll. In Dublin gab<br />
es in einem Musikclub oben auf dem Dachboden genau so ein<br />
Zimmer, wie O’Casey es im Stück beschreibt. Das hat mich<br />
Magdalena Musial, Milan Peschel<br />
fasziniert. Dann haben wir auch eine Inszenierung von ‚Juno und<br />
der Pfau‘ im Abbey Theatre gesehen, total schön, mit großen<br />
Wänden, sehr beeindruckend. Aber wir wollen etwas über heute<br />
erzählen: deswegen das Unfertige des Raums. Der Wunsch, dass<br />
man aus dem Material, das dort liegt ist, ein Haus bauen könnte,<br />
aber man kommt nicht dazu, weil immer irgendwas fehlt, dieser<br />
Gedanke war für mich interessanter, als etwas Fertiges hinzustellen.<br />
Peschel — Das zentrale Element hast du ja auf die Bühne gestellt,<br />
der Herd ist da. Für Juno als Hüterin des Herdes und der Ehe …<br />
Musial — ... es ist immer noch eine Landschaft, und ich liebe<br />
Landschaften auf der Bühne, auch mit artifiziellen Mitteln<br />
geschaffene Landschaften. Ich erinnere mich an eine alte Fotografie:<br />
ein Ofen aus weißen Steinen inmitten einer grünen Landschaft,<br />
und eine alte Frau backt darin Brot. Das ist der Rest, der<br />
geblieben ist und den wir benutzen, das Zentrum der Familie<br />
und des Familienlebens.<br />
(Stück) Juno und der Pfau von Sean O’Casey<br />
(Premiere) 29. Januar 20<strong>13</strong> (Ort) Kammerspiele<br />
(Vorstellungen) 9., 12.2.<br />
(Es spielen) Elias Arens, Moritz Grove, Katrin Klein, Ole Lagerpusch,<br />
Bernd Moss, Katharina Marie Schubert, Michael Schweighöfer,<br />
Anita Vulesica, Katrin Wichmann<br />
(Regie) Milan Peschel (Bühne und Kostüme) Magdalena Musial<br />
(Dramaturgie) Juliane Koepp<br />
16<br />
—<br />
Interview Milan Peschel und Magdalena Musial<br />
17<br />
—<br />
Juno und der Pfau
Orte ohne Rückkehr<br />
Tobias Rausch erkundet mit Jugendlichen die Bedeutung von Heimat und Flucht<br />
Warum verlässt man seine Heimat?<br />
Wann und wie trifft man diese folgenreiche<br />
Entscheidung? Wo fühlt man sich<br />
Zuhause, wenn man in einem anderen<br />
Land aufgewachsen ist? Was zieht einen<br />
zurück und was verhindert diese Rückkehr?<br />
Wie erlebt man den Verlust eines<br />
Staats, für den man gelebt und gearbeitet<br />
hat? Vier persönliche Antworten.<br />
Vier sehr unterschiedliche Geschichten<br />
von Orten ohne Rückkehr.<br />
1. Fliehkräfte – „Innerhalb<br />
von 20 Minuten war ich mir sicher.“<br />
Was war für dich der ausschlaggebende<br />
Punkt, den Iran 2001 zu verlassen?<br />
M.: 80% der Jugendlichen wollten damals<br />
raus aus diesem Land! Die haben nur<br />
Möglichkeiten gesucht. Ich gehörte definitiv<br />
zu diesen 80%, die einfach die Nase<br />
voll hatten, dass sie nicht normal Alkohol<br />
trinken, dass sie nicht in Clubs gehen können,<br />
dass Musik auf der Straße verboten<br />
Eine Inszenierung des Jungen <strong>DT</strong><br />
ist, dass Tanzen verboten ist, dass sich<br />
mit der Freundin zu treffen verboten ist.<br />
Man kann verhaftet werden. Man kann<br />
ausgepeitscht werden. Das sind sowieso<br />
Sachen, die immer nerven. Aber dann kam<br />
dazu, dass ich gedacht habe: Okay, auch<br />
wenn ich nicht ins Gefängnis komme,<br />
kriege ich definitiv Studienverbot. Ich<br />
habe keinen Bock auf diese Menschen,<br />
auf dieses ständige Maskentragen, Lügen,<br />
diese Paranoia. Ich konnte mir mich im<br />
Jahr 2002 im Iran nicht vorstellen.<br />
Gab es einen bestimmten Moment, in<br />
dem du beschlossen hast: Ich werde jetzt<br />
gehen?<br />
M.: Ja. Ich war auf dem Weg nach Hause,<br />
als mich ein Freund angesprochen hat,<br />
der Schleuser kannte. Und er hat gesagt:<br />
Ich kenne wirklich Leute, die dich rausbringen<br />
können. Und: Ich würde mitkommen!<br />
Innerhalb von 20 Minuten, war ich<br />
mir sicher, ich will. Meine Mutter ist sofort<br />
in Tränen ausgebrochen. Sie hat geweint,<br />
aber sie hat gesagt: Wenn du dich ent-<br />
scheidest zu gehen, dann geh!<br />
M. (33 Jahre) hat 2001 aus politischen Gründen<br />
den Iran verlassen.<br />
2. Zerrissenheit –<br />
„Wo ist meine Heimat?“<br />
Ensemble<br />
Ist Bosnien für dich noch Heimat?<br />
O.: Das ist eine wirklich sehr, sehr schwierige<br />
Frage: Wo bin ich jetzt Zuhause?<br />
Mein Herz ist immer noch in Bosnien, und<br />
mein Herz sagt: „Das ist meine Heimat“ –<br />
aber mein Kopf ist in Deutschland, und in<br />
dieser Art und Weise ist Deutschland<br />
meine Heimat. Ich bin hier aufgewachsen,<br />
meine Schwester, meine Familie sind hier.<br />
Alles, was wir geschafft haben, und alles,<br />
was ich heute bin, habe ich Deutschland<br />
zu verdanken. Aber Bosnien ist … dadurch,<br />
dass mein Herz eben diese ganzen<br />
Jahre lang mitgelitten hat, und dadurch,<br />
dass soviel Blut von meiner Familie da<br />
unten geflossen ist – ich werde Bosnien<br />
nie aus meinem Herzen streichen können.<br />
Nachdem ich meinen Vater damals, 2004,<br />
dort begraben habe, habe ich mir immer<br />
gewünscht: Ich will wieder zurück. Der<br />
Plan war ja, dass die ganzen Moslems und<br />
Bosnier verschwinden, dass dieses ganze<br />
Land den Serben gehört. Aber Leute wie<br />
mein Vater und meine Familie, meine<br />
Nachbarn und die ganzen Bosnier, die<br />
dafür gekämpft haben, dass das nicht<br />
passiert … es sind so viele gestorben. Ja,<br />
wozu hat mein Vater dann sein Leben gelassen?<br />
Er hat sein Leben dafür gelassen,<br />
dass ich immer noch eine Heimat habe,<br />
dass ich dort leben kann. Aber ich tu es<br />
heute nicht – und das ist so ein Konflikt,<br />
den ich mit mir selber habe, wo ich nicht<br />
weiß, was ich machen soll.<br />
O. (30 Jahre) ist 1992 aus Srebrenica vor dem<br />
Bosnienkrieg geflohen. Der Leichnam seines Vaters<br />
wurde erst 2004 gefunden und identifiziert.<br />
3. Entfremdung –<br />
„Ich war einfach anders.“<br />
Du warst 2008 dann das erste Mal wieder<br />
im Kosovo?<br />
S.: Genau. Also wir waren acht Jahre lang<br />
nicht mehr unten, weil wir einfach kein<br />
Geld hatten, beziehungsweise das Geld,<br />
das man verdient, das viele Geld, schickt<br />
man ja nach unten. Irgendwann hatte<br />
mein Cousin seine Beschneidungsfeier<br />
und dann sind wir zurückgeflogen. Und es<br />
war nicht gut, also es war … Ich weiß gar<br />
nicht, was ich erwartet hab, aber es war<br />
alles … Es hat sich genau das bestätigt,<br />
was ich vermutet hatte. Ich war einfach<br />
anders als die Leute unten. Ich hatte andere<br />
Gedankengänge. Man erinnert sich<br />
eigentlich noch an alles, ich kann die<br />
Stadt blind ablaufen, immer noch. Alles<br />
sah so viel kleiner aus. Ich passe da nicht<br />
mehr rein. Wahrscheinlich wäre ich auch<br />
so geworden, wenn ich da geblieben<br />
wäre. Zum Beispiel, mein Cousin fragt<br />
meine Cousine nach einem Glas Wasser<br />
und sie sagt nur, warte kurz, und dann<br />
verpasst er ihr eine Ohrfeige. Für die ist<br />
das ganz normal, er ist halt der Junge und<br />
dann hat die Schwester auf ihn zu hören.<br />
Und für mich ergibt das keinen Sinn. Ich<br />
war seitdem auch nicht mehr da und ich<br />
werde da auch keinen Fuß mehr reinsetzen<br />
in dieses Land, in diese Stadt.<br />
S. ist vor 15 Jahren mit seiner Mutter und seinem<br />
Bruder aus dem Kosovo geflohen, nachdem er<br />
als Achtjähriger auf einer Demonstration verletzt<br />
wurde.<br />
4. Verlust –<br />
„Plötzlich war das alles nichts mehr.“<br />
Wie ist das, wenn man Jahrzehnte lang<br />
dafür gearbeitet hat, dass dieser Staat<br />
existiert und der jetzt quasi kampflos aufgegeben<br />
wird?<br />
W.: Ja, das war ja für viele ein Problem.<br />
Der eine oder andere Kommandeur hat<br />
sich während der Wende einfach erschossen,<br />
der hat das mental nicht verkraftet.<br />
Man ist ja von Kindesbeinen ausgebildet<br />
worden für sein Land und man kennt gar<br />
nichts anderes. Und plötzlich existiert das<br />
alles nicht mehr.<br />
Wieviel haben Sie später von der Auflösung<br />
des Stützpunktes und dann auch<br />
dem Abriss der Siedlung mitbekommen?<br />
W.: Gar nichts. War auch gut so. Ursprünglich<br />
sollten diese Dienststellen Ausländerheime<br />
werden. Die Bundeswehr wollte<br />
sie dann nicht übernehmen. Diese Art<br />
Hinterland oder Heimat … ist mit dem<br />
Ende des Kalten Krieges ja weggefallen.<br />
So. Und die sorgfältig gepflegte und gewartete<br />
Technik, die wirklich lupenrein<br />
gehalten wurde, war nichts mehr wert.<br />
Die waren zur Verschrottung freigegeben.<br />
Also, man tut alles, damit dieses Staubkorn<br />
entfernt wurde und gefettet und<br />
sonst was, und plötzlich kommt die Eisensäge<br />
und alles ist nichts mehr wert. Das<br />
waren Millionen-Werte, die das Volk gekauft<br />
hat. Und plötzlich wurde es eben<br />
verhökert und zersägt und verschrottet.<br />
Na gut, egal. Bunker wurden zugeschüttet<br />
und die Siedlung ist praktisch dem<br />
Erdboden gleich gemacht worden. Wir<br />
sind voriges Jahr mal da gewesen und<br />
anhand von bestimmten Baumkonstellationen<br />
konnte man erkennen, hier war der<br />
Eingang zur Verkaufsstelle oder zum Club,<br />
das war die Wache, da ist noch dies und<br />
das. So, ja. Der Rest ist nichts. Und da ist<br />
nun natürlich Natur, die wächst darüber.<br />
Aber der Hügel, wo eben der Bunkerbereich<br />
war, das war alles erhalten. „Hier<br />
sieh mal. Da unter der Erde haben wir<br />
gewohnt.“ Kann man sich nicht mehr vorstellen<br />
(lacht). Ja, zurück zur Natur. Ganz<br />
komisch. Ganz komisch. Das hätte man<br />
nie für möglich gehalten. Nie! Man war ja<br />
so erzogen, tatsächlich sein Leben für die<br />
Heimat zu geben. Wir hätten ja alle durch<br />
die Bank alles für die Menschen gemacht.<br />
So. Für die gute Sache. Dafür sind wir<br />
erzogen worden. Plötzlich war das alles<br />
nichts mehr.<br />
W. hat als Major der NVA auf einer geheimen<br />
Raketenabwehrstellung der DDR gearbeitet und<br />
dort gelebt.<br />
Protokoll: Birgit Lengers<br />
(Stück) Fluchtpunkt Berlin<br />
Eine Recherche von Tobias Rausch<br />
(Uraufführung) 9. Januar 20<strong>13</strong><br />
(Ort) Kammerspiele<br />
(Vorstellungen) 10., 30.1.; 15., 26.2.<br />
(Gastspiel Frankfurt a. M.) 5.2.<br />
(Inhalt) Die Menschheit ist in Bewegung.<br />
Grenzüberschreitend. 43,7 Mio. Menschen haben<br />
2011 ihre Heimat verlassen. Viele beabsichtigen,<br />
irgendwann zurückzukehren. Aber was,<br />
wenn keine Rückkehr möglich ist, weil die Orte<br />
unbewohnbar geworden oder verschwunden<br />
sind?<br />
Aus der Beschäftigung mit der sozialen und<br />
mentalen Realität unserer Gesellschaft hat<br />
Tobias Rausch eine spezifische Form des Recherchetheaters<br />
entwickelt, in dem aktuelle<br />
Themen auf der Basis zahlreicher Interviews<br />
untersucht werden. In dem <strong>Theater</strong>projekt<br />
,Fluchtpunkt Berlin‘ erforscht er zusammen<br />
mit 18 Jugendlichen Fluchtgeschichten, provisorische<br />
Un-Orte, den Transitzustand im Hier<br />
und Jetzt. Im Vordergrund steht die Frage,<br />
welche Bedeutung Sesshaftigkeit und die Vorstellung<br />
von „Heimat“ für uns haben, und was<br />
passiert, wenn diese aus unterschiedlichen<br />
Gründen verloren ist.<br />
(Es spielen) Leonie Adam, Matilda Bostelmann,<br />
Ruby Commey, Judith Ehrhardt, Alexander<br />
Finger, Kristina Fricke, Caroline Hellwig,<br />
Tatjana Kranz, Mehmet Kücük, Franz Schönberger,<br />
Hanna Friederike Stange, Ingraban von<br />
Stolzmann, Rojda Tekin, Thao Tran, Johannes<br />
Waitz, Finja-Marie Wilke, Robert Will, Anna<br />
Maria Wuenst<br />
(Regie) Tobias Rausch (Bühne) Michael Böhler<br />
(Kostüme) Jelka Plate (Musik) Matthias Herrmann<br />
(Dramaturgie) Birgit Lengers (Recherche)<br />
Katja von der Ropp, Katharina Wessel, Natali<br />
Seelig<br />
Werkauftrag für die Frankfurter Positionen 20<strong>13</strong><br />
– eine Initiative der BHF-Bank-Stiftung.<br />
18<br />
—<br />
Tobias Rausch<br />
19<br />
—<br />
Fluchtpunkt Berlin
Das Kind kommt in ein Heim<br />
Franz Xaver Kroetz Stücke ‚Stallerhof‘ und ‚Geisterbahn‘ werfen Fragen nach Elternschaft<br />
und Sexualität geistig behinderter Menschen auf<br />
(Stück) Stallerhof<br />
von Franz Xaver Kroetz<br />
(Premiere) 23. Februar 20<strong>13</strong><br />
(Ort) Kammerspiele<br />
(Es spielen) Thorsten Hierse, Markwart<br />
Müller-Elmau, Matthias Neukirch, Isabel<br />
Schosnig, Mereika Schulz<br />
(Regie) Frank Abt (Bühne) Anne Ehrlich<br />
(Kostüme) Marie Roth (Musik) Moritz Krämer<br />
(Dramaturgie) Meike Schmitz<br />
Beppis Sohn Georg ist etwas über ein Jahr<br />
alt, als der Brief vom Vormundschaftsgericht<br />
eintrifft. Darin wird verfügt, den<br />
Jungen in ein Münchner Kinderheim einzuweisen.<br />
Die Gründe dafür liegen auf der<br />
Hand: Beppi ist minderjährig und geistig<br />
behindert, der Vater des Kindes vor kurzem<br />
verstorben. Für die junge Mutter ist<br />
die Nachricht ein Schock. Ein Jahr lang<br />
hat sie mit aller Kraft darum gekämpft, ihr<br />
Kind behalten zu dürfen. Sie hat sich gegen<br />
ihre Eltern aufgelehnt, ist vom heimischen<br />
Hof in die Stadt gezogen und hat<br />
begonnen, sich eine eigene Existenz auf-<br />
zubauen. Und nun soll alles umsonst gewesen<br />
sein?<br />
Franz Xaver Kroetz Dramen ‚Stallerhof‘<br />
und ‚Geisterbahn‘, deren Handlung hier<br />
kurz skizziert wurde, spielen Anfang der<br />
70er Jahre. Seitdem wurde einiges für die<br />
Integration behinderter Menschen und ihr<br />
Recht auf Selbstbestimmung getan. Beispielsweise<br />
ersetzt das 1992 erlassene<br />
Betreuungsgesetz die bisherigen Regelungen<br />
zu Entmündigung und Vormundschaft<br />
durch die flexible Maßnahme der<br />
Betreuung. Dennoch – so machen verschiedene<br />
Studien und Beschreibungen<br />
Mereika Schulz, Markwart Müller-Elmau<br />
von Einzelschicksalen deutlich – ruft das<br />
Thema Sexualität und Elternschaft geistig<br />
behinderter Menschen nach wie vor<br />
große Verunsicherung und Ratlosigkeit<br />
hervor, und eine Mutter mit Handicap<br />
sähe sich heute mit ganz ähnlichen Vorurteilen<br />
konfrontiert wie Beppi in ‚Stallerhof‘.<br />
Das zeigen internationale Studien, die die<br />
deutliche Benachteiligung von Menschen<br />
mit geistiger Behinderung in Sorgerechtsverfahren<br />
belegen. Für Deutschland liegen<br />
entsprechende Untersuchungen zwar<br />
noch nicht vor, aber viele dokumentierte<br />
Einzelfälle weisen in diese Richtung.<br />
Und das, obwohl die gesetzlichen Bestimmungen<br />
Menschen mit einer Behinderung<br />
das gleiche Recht auf Elternschaft<br />
zusprechen wie anderen auch: „Niemand<br />
darf wegen seiner Behinderung benachteiligt<br />
werden.“ (Grundgesetz, Artikel 3).<br />
Daraus folgt, dass die Normen der elterlichen<br />
Sorge für alle Eltern gelten. „Gegen<br />
den Willen der Erziehungsberechtigten<br />
dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes<br />
von der Familie getrennt werden,<br />
wenn die Erziehungsberechtigten versagen<br />
oder die Kinder aus anderen Gründen<br />
zu verwahrlosen drohen.“ (Grundgesetz,<br />
Artikel 6). Es ist dabei unerheblich, ob ein<br />
Mensch ein Handicap hat oder nicht.<br />
Grundsätzlich gilt: Eltern haben das Recht<br />
und die Pflicht für ihre Kinder zu sorgen,<br />
auch dann, wenn sie selbst gesetzlich betreut<br />
werden. Um ein Zusammenleben<br />
mit dem Kind zu gewährleisten, ist der<br />
Staat dazu verpflichtet, den betreuten<br />
Eltern gegebenenfalls die nötige Hilfe zur<br />
Seite zu stellen. Auch international gibt<br />
es Vereinbarungen, die das Recht behinderter<br />
Menschen auf Elternschaft stärken.<br />
So erließ die UN-Generalversammlung<br />
1993 folgende Bestimmung: „Behinderten<br />
soll die Möglichkeit der Erfahrung ihrer<br />
Sexualität, sexueller Beziehungen sowie<br />
der Elternschaft nicht vorenthalten werden.<br />
Die Staaten sollen Maßnahmen zur<br />
Änderung der in der Gesellschaft noch immer<br />
vorherrschenden negativen Einstellung<br />
gegenüber der Ehe, Sexualität und<br />
Elternschaft Behinderter, insbesondere<br />
behinderter Mädchen und Frauen fördern.“<br />
Ursula Pixa-Kettner, Professorin für Behindertenpädagogik,<br />
hat 2005 eine Studie<br />
über die Lebensverhältnisse geistig<br />
behinderter Eltern und ihrer Kinder in<br />
Deutschland veröffentlicht. Danach wurden<br />
zwischen 1990 und 2005 insgesamt<br />
1.584 Elternschaften mit 2.199 Kindern dokumentiert.<br />
Im Vergleich zu einer Vorläuferstudie<br />
aus dem Jahr 1993 bedeutet dieses<br />
Ergebnis eine Zunahme von über 40%.<br />
Von den 2.199 Kindern leben 57% mit mindestens<br />
einem Elternteil zusammen, 22%<br />
sind in Pflegefamilien untergebracht, 15%<br />
leben in Heimen, bei der Herkunftsfamilie<br />
oder bei Adoptiveltern. Von den Eltern,<br />
die mit ihren Kindern zusammenleben,<br />
wohnen 70% in einer eigenen Wohnung,<br />
50% von ihnen werden professionell betreut.<br />
Im Vergleich mit der Vorläuferstudie<br />
kann auch hier eine positive Tendenz<br />
verzeichnet werden: 1993 lebten nur 40%<br />
der Kinder mit ihren Eltern zusammen,<br />
46% davon in einer eigenen Wohnung.<br />
Dennoch, auch das verdeutlicht die zitierte<br />
Studie, ist die Zahl von Eltern mit<br />
geistiger Behinderung noch immer sehr<br />
gering. Setzt man die Anzahl der Elternschaften<br />
ins Verhältnis zur Gesamtzahl<br />
geistig behinderter Menschen in Deutschland<br />
im entsprechenden Alter, ergibt sich,<br />
dass etwas mehr als 1% dieser Gruppe<br />
Kinder bekommen. Nur die Hälfte der<br />
Familien wird betreut. Dies hängt unter<br />
anderem damit zusammen, dass die Angebote<br />
regional sehr unterschiedlich sind.<br />
Nicht selten hat die Unterbringung in<br />
einer Mutter-Kind-Einrichtung deshalb einen<br />
unfreiwilligen Ortswechsel zur Folge.<br />
Auch heute noch ist die Elternschaft geistig<br />
behinderter Menschen also weit davon<br />
entfernt, Normalität zu sein. Die Chancen,<br />
dass Eltern mit einer geistigen Behinderung<br />
in den eigenen vier Wänden mit<br />
ihren Kindern zusammenleben, sind aber<br />
zumindest größer als vor 40 Jahren. In<br />
‚Stallerhof‘ und ‚Geisterbahn‘ sind der<br />
Bauerntochter Beppi noch alle Fluchten<br />
versperrt und ihr Kampf um Elternschaft<br />
endet in der denkbar schlimmsten Tragödie:<br />
Als sie den Bescheid des Gerichts<br />
erhält, bekommt sie Angst um Georg, will<br />
ihn beschützen vor dem Zugriff der ihr unbekannten<br />
Mächte und sieht schließlich<br />
keinen anderen Ausweg mehr als ihren<br />
Sohn zu töten.<br />
Text: Meike Schmitz<br />
20<br />
—<br />
Franz Xaver Kroetz<br />
21<br />
—<br />
Stallerhof
Bücher • Musik • Filme<br />
Stöbern. Entdecken. Erleben.<br />
Wo fängt die Verantwortung<br />
(Stück) Ich denke an Yu<br />
von Carole Fréchette<br />
(Deutsche Erstaufführung)<br />
11. Januar 20<strong>13</strong><br />
(Ort) Box<br />
(Vorstellungen) 12., 23.1; 14., 17.2.<br />
(Es spielen) Helmut Mooshammer,<br />
Naemi Simon, Simone von Zglinicki<br />
(Regie) Max Claessen (Ausstattung) Linda<br />
Tiebel (Dramaturgie) Malin Nagel<br />
Ihr Leben lang war Madeleine politisch<br />
und sozial engagiert. Jetzt ist sie von<br />
einem Hilfsprojekt hoch im Norden Kanadas<br />
in die Stadt zurückgekehrt, ausgebrannt<br />
und frustriert. Im Umzugsgewühl<br />
des Einzelnen an?<br />
Max Claessen inszeniert ,Ich denke an Yu‘ von Carole Fréchette<br />
stößt sie auf eine Zeitungsnotiz: „Gestern<br />
wurde der ehemalige Journalist Yu Dongyue,<br />
38, der seit den Demonstrationen<br />
1989 auf dem Tiananmen-Platz im Gefängnis<br />
war, auf freien Fuß gesetzt. Yu war zu<br />
20 Jahren Haft verurteilt worden, weil er<br />
am 23. Mai 1989 mit roter Farbe gefüllte<br />
Eier auf das riesige Mao-Porträt am Tiananmen-Platz<br />
geworfen hatte. Yu wurde<br />
im Gefängnis vielfach misshandelt und<br />
hat infolgedessen seine geistige Gesundheit<br />
eingebüßt.“ Die Nachricht lässt Madeleine<br />
nicht mehr los. Geradezu manisch<br />
beginnt Madeleine den Fall Yu Dongyue<br />
via Internet zu recherchieren. Ihre junge<br />
Sprachschülerin, die Chinesin Lin, und ihr<br />
Nachbar Jérémie sind ihr dabei erst einmal<br />
nur lästig. Doch mehr und mehr wird<br />
Yu Dongyue zum Bezugspunkt ihrer Begegnungen<br />
und Gespräche.<br />
Die in Kanada, insbesondere im französischsprachigen<br />
Québec, bekannte Auto-<br />
Naemi Simon, Helmut Mooshammer, Simone von Zglinicki<br />
rin Carole Fréchette lässt in diesem Stück<br />
Madeleine, Jérémie und Lin das eigene<br />
Denken auf den Prüfstand stellen, ein aufwühlendes,<br />
anspruchsvolles und auch<br />
heikles Unterfangen. Wo fängt die Verantwortung<br />
des Einzelnen an? Lohnt sich<br />
politischer Aktivismus? Ist soziales Engagement<br />
jenseits des eigenen Erfahrungshorizonts<br />
sinnvoll? Und was wissen wir<br />
darüber, was in China 1989 geschah, und<br />
was heute dort geschieht?<br />
Eine besondere Aktualität erhält das<br />
Stück durch das gerade erschienene Buch<br />
des Friedenspreisträgers Liao Yiwu ‚Die<br />
Kugel und das Opium. Leben und Tod am<br />
Platz des himmlischen Friedens‘, in dem<br />
u.a. auch Vorgeschichte, Ausführung und<br />
das bittere Ende des Farbattentats auf<br />
das Mao-Porträt am Tiananmen-Platz vor<br />
23 Jahren dokumentiert ist.<br />
Text: Christa Müller<br />
WO ALLE<br />
IMMER WIEDER<br />
HIN WOLLEN<br />
Friedrichstraße<br />
Mo-Fr 9-24 Uhr<br />
Sa 9-23:30 Uhr<br />
JAHRE<br />
22<br />
—<br />
Ich denke an Yu<br />
www.kulturkaufhaus.de
Edward B. Gordon für<br />
,Das Himbeerreich‘