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Pressetext als PDF - Migros Museum

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Une Idée, une Forme, un Être –<br />

Poésie / Politique du corporel<br />

25. September – 28. November 2010<br />

Ai Weiwei – Regina José Galindo – Teresa Margolles – Gianni Motti –<br />

Eftihis Patsourakis – Pamela Rosenkranz – Martin Soto Climent – Loredana Sperini –<br />

Alina Szapocznikow<br />

Die Ausstellung vereint die Arbeiten von acht internationalen zeitgenössischen Künstlern<br />

sowie Werke von Alina Szapocznikow (1926–1973). Die Materialität der Arbeiten zeichnet sich<br />

dadurch aus, dass sie in engem Kontakt mit dem menschlichen Körper steht oder von diesem<br />

herstammt. Der Umgang mit diesen Materialien kann – im Gegensatz zu den visuellen<br />

Schockmechanismen der Abject Art der 1980er/1990er Jahre, wo Körperlichkeit ein Leitthema<br />

war – <strong>als</strong> formalästhetisch stark zurück genommen beschrieben werden. Dies führt zu einem<br />

Spannungsverhältnis zwischen der reduzierten Form und der Aufladung durch den<br />

abwesenden Körper. Dieses erneute Interesse an der Übertragung einer Körperlichkeit in<br />

Kunstwerke, an den «Abdrücken des Menschlichen», eröffnet eine kunsthistorische, eine<br />

sozialpolitische, aber auch eine poetische Rezeptionsmöglichkeit.<br />

Der menschliche Körper und seine «Spuren» waren in der westlichen Kunstgeschichte –<br />

beispielsweise in der Funktion eines anatomischen Untersuchungsgegenstands oder <strong>als</strong> zu<br />

verehrender Sinnkörper: <strong>als</strong> Reliquie – schon immer ein zentraler Topos. Der Diskurs um Reliquien –<br />

seien es Körperteile, Besitztümer eines Heiligen oder Berührungsreliquien – und, damit<br />

zusammenhängend, um die Vera Icon («das wahre Bild») hat im Katholizismus, aber auch im<br />

Buddhismus bis heute eine wichtige Bedeutung. Die Arbeiten knüpfen unter anderen an diesen<br />

Diskurs an und führen ihn weiter im Sinne einer «Bild-Anthropologie» (Hans Belting). Im Unterschied<br />

jedoch zur Vera Icon, die angebetet wird, zeichnen sich die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten<br />

durch ihren Janus-Charakter aus, der eine doppelte Lesart in sich birgt: eine sozialpolitische, aber<br />

auch eine poetische. Diese doppelte Lesart wird aufgrund eines auf formalästhetischer Ebene<br />

stattfindenden Exzesses in Form einer Zeichenreduktion ermöglicht. Die Werke referieren in der<br />

Einfachheit ihres Gestus auf eine konzeptuell-minimalistische Strategie und erfahren zugleich eine<br />

geschichtliche Aufladung. Dabei spielt für die in der Ausstellung gezeigten Künstler auch das Konzept<br />

des Readymade oder objet trouvé eine zentrale Rolle. Die Arbeiten können <strong>als</strong> Wissensspeicher, <strong>als</strong><br />

Erinnerungsgefässe oder <strong>als</strong> performative Kunstwerke verstanden werden, die auch an die Idee der<br />

Berührungsreliquie im klassischen Sinne anknüpfen.<br />

Das Werk von Ai Weiwei (*1957, China) setzt sich mit dem Wertewandel der chinesischen Kultur und<br />

deren politischer Instrumentalisierung auseinander, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />

einen Höhepunkt erreichte. Die organisierte Zerstörung von Kulturgütern während der Kulturrevolution<br />

(1966–1976) unter der Doktrin «das Alte durch das Neue ersetzen» endete zwar nach Maos Tod; die<br />

Zerstörung und Aushöhlung der chinesischen Kultur wird heute jedoch unter anderen Vorzeichen –<br />

dem wirtschaftlichen Fortschritt – weitergeführt. Eines der Hauptmotive im Werk von Ai Weiwei ist die<br />

politische und kulturelle Gewalt. Dabei greift er oftm<strong>als</strong> auf das Readymade zurück – etwa wenn er<br />

Teile wie Holztüren und Fenster zerstörter Häuser aus der Ming- und Qing-Dynastie (1368–1911) für<br />

die Skulptur Template (2007) verwendet. Die Fragestellung «Wie kann das Alte überleben, ohne zu<br />

einem Fetisch und dadurch instrumentalisierbar zu werden?» verfolgt Ai Weiwei mit seiner Vases-<br />

Werkgruppe: Auf Antiquitätenmärkten kaufte er neolithische, zwischen 5000 bis 7000 Jahre alte<br />

Vasen und Töpfe, die er mit Industriefarbe einfärbte. So «travestierte» er die Antiquitäten, beraubte<br />

sie ihres Status <strong>als</strong> Fetisch und überführte sie von der Historie in die Gegenwart. Ai Weiwei bezieht<br />

sich dabei aber nicht auf die blinde Zerstörungswut der maoistischen Kulturrevolution, sondern<br />

reaktiviert mit seiner einfachen, aber wirkungsvollen Geste mehrere Erzählebenen in den Vasen: ihre<br />

Vergangenheit <strong>als</strong> Antiquitäten ebenso wie das Überleben, aber auch das Weiterleben im neuen<br />

Kunstkontext.<br />

Bekannt wurde Regina José Galindo (*1974, Guatemala) mit ihren Performances, die in der Tradition<br />

der Body Art stehen. So liess die Künstlerin für die Performance Yesoterapia (2006) ihren Körper für


fünf Tage vollständig eingipsen oder für Himenoplastia (2004) eine Hymenoplastik, eine<br />

Rekonstruktion des Jungfernhäutchens, an sich durchführen. José Galindo verweist mit ihren Arbeiten<br />

auf nach wie vor herrschende patriarchale Gesellschaftsstrukturen und die damit einhergehende<br />

Diskriminierung der Frau, die soziale Ungerechtigkeit, die Zensur und die Staatsmacht. Die Arbeit La<br />

Conquista (2005) – zwei Langhaarperücken, präsentiert auf weiss gestrichenen Stangen –<br />

versinnbildlicht die anhaltende Ausbeutung von Frauen in Drittwelt- und Schwellenländern durch die<br />

westliche «Kolonialmacht»: Die eine Perücke wurde aus Haar von guatemaltekischen Frauen<br />

angefertigt, die andere aus Haar von indischen Frauen. José Galindo verweist damit auf die<br />

Problematik, dass viele Frauen in diesen Ländern aus wirtschaftlicher Not gezwungen sind, ihre<br />

langen Haare an die Schönheitsindustrie zu verkaufen, und dadurch ein für sie wichtiges Symbol ihrer<br />

Identität aufgeben zu müssen. José Galindo selbst spricht von einer modernen Form der<br />

«Skalpierung» – die ursprünglich eine Macht- und Siegesdemonstration der Eroberer war. Die Gewalt<br />

gegen die Frau klingt in dieser Arbeit noch auf einer weiteren Ebene an, wenn man sich an die<br />

sogenannten Femizide, die systematische Ermordung von Frauen vergegenwärtigt, die seit der<br />

Jahrtausendwende vor allem in Mexiko (Ciudad Juárez) und Guatemala (Guatemala City)<br />

vorherrschen. 1 Oftm<strong>als</strong> wird den schwer verstümmelten Leichen das Haar abgeschnitten, um dieses<br />

zu verkaufen.<br />

Seit Beginn der 1990er Jahre arbeitet die Künstlerin und Gerichtsmedizinerin Teresa Margolles<br />

(*1963, Mexiko) <strong>als</strong> Freiwillige in einem Obduktionshaus in Mexico City, wo täglich zahlreiche, oftm<strong>als</strong><br />

anonyme Opfer von Gewaltverbrechen angeliefert werden. Diese Umstände sind die Ausgangslage<br />

für die Arbeiten von Margolles, die meistens aus «Restsubstanzen» von Toten bestehen. Die<br />

formalästhetische Nüchternheit der Arbeiten steht dabei in einer oftm<strong>als</strong> spannungsgeladenen<br />

Wechselwirkung mit den stark emotionalen Reaktionen des Betrachters. Die Künstlerin ist jedoch in<br />

erster Linie nicht an der Provokation interessiert, sondern an einer Kritik der sozialen Ungerechtigkeit,<br />

die auch nach dem Tod weiterexistiert. Margolles verbindet in ihren Werken Anklage und Katharsis mit<br />

der Absicht einer Ehrung. Die anonymen Leichen, die täglich in Mexico City in die Leichenhäuser<br />

gelangen, verschwinden häufig in Massengräbern oder werden kremiert; das Gleiche gilt für Tote,<br />

deren Familien nicht genügend finanzielle Mittel für eine Beerdigung aufbringen können. Der Einsatz,<br />

die Veränderungen und die Auflösung des toten Körpers werden in den Arbeiten Margolles zu<br />

Stellvertretern für Wertesysteme, aus denen gesellschaftliche und politische Strukturen abgelesen<br />

werden können; gleichzeitig aber fungieren sie – durch ihre Transposition in den White Cube – auch<br />

<strong>als</strong> eine Form des Erinnerns. Immanenter Werkbestandteil ist auch jeweils eine erklärende Aussage –<br />

für die Arbeit 37 cuerpos (2007) lautet diese: «Reststücke von Fäden, mit denen Körper von<br />

Personen, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind, nach der Autopsie vernäht wurden. Jedes<br />

Fadenstück entspricht einem Körper.»<br />

Die zentrale Arbeitsstrategie von Gianni Motti (*1958, Italien/Schweiz) ist weniger vom Bestreben<br />

geleitet, ein physisches Kunstwerk herzustellen, <strong>als</strong> vielmehr, Geschichten in Umlauf zu bringen, die<br />

sich durch ihre virale Verbreitung immer mehr zu Legenden und Gerüchten entwickeln. Dieses<br />

subversive, ephemere Verhalten pendelt fortwährend zwischen dem Rationalen und Irrationalen,<br />

zwischen Ironie und Provokation. Im Jahr 1999 etwa gab er sich <strong>als</strong> indonesischer Botschafter an der<br />

UN-Menschenrechtskommission aus und initiierte eine Debatte über ethnische Minderheiten; ein<br />

andermal porträtierte er Sektenführer Raël (2004). In der Ausstellung wird die Arbeit Mani Pulite –<br />

eine Seife, die mutmasslich aus Silvio Berlusconis Bauchfett hergestellt wurde – erstm<strong>als</strong> seit 2005<br />

wieder gezeigt. Berlusconi unterzog sich 2004 in einer Tessiner Schönheitsklinik einer Fettabsaugung.<br />

Angeblich soll soll Motti das Fett anschliessend einem Angestellten dieser Klinik erhalten haben. Mani<br />

Pulite ist einerseits ein ironischer Kommentar auf einen tragikomischen Politiker, der seine<br />

Verjüngungskur in den Medien ausschlachtete, zugleich aber eitel genug war, bestimmte<br />

Porträtaufnahmen den Presseagenturen abzukaufen, um so zu verhindern, dass sie an die<br />

Öffentlichkeit gelangten. Andererseits verweist der Werktitel auf die Schmiergeldaffären Italiens zu<br />

Beginn der 1990er Jahre. Eher untypisch für Mottis Schaffen erscheint die Bronze Belgium Landing<br />

(First Step in Belgium) (2010). Im Zuge einer Ausstellungseinladung in Belgien bereiste der Künstler<br />

erstmalig das Land. Beim Aussteigen aus dem Flugzeug wurde auf seinen Wunsch der erste<br />

Fussabdruck auf belgischem Boden festgehalten, indem er in ein flüssiges Zementbeet trat. Der so<br />

entstandene Abdruck ist nicht nur ein humorvoller Verweis auf die Tradition der «Spurenkultur» von<br />

1 Dabei sind nicht Morde im häuslichen Rahmen gemeint, sondern solche im öffentlichen Raum. 2001 wurden in Guatemala-<br />

City zwölf Sexarbeiterinnen umgebracht; auf ihren Körpern wurden sexistisch-frauenverachtende Äusserungen eingeritzt.<br />

Dieses erste Verbrechen löste eine Reihe von Folgeverbrechen aus. In den Jahren zwischen 2001 und 2008 wurden über 3000<br />

Frauen ermordet.


Stars und Berühmtheiten bei repräsentativen Besuchen, sondern referiert auch auf die Geschichte<br />

Belgiens <strong>als</strong> Kolonialmacht.<br />

In seinen Werken nimmt Eftihis Patsourakis (*1967, Griechenland) Themen wie Erinnerung und<br />

Vergessen, Geschichtsschreibung und deren Auflösung auf. Als Arbeitsmaterial dienen ihm dafür in<br />

mehreren Arbeitsserien Familienfotoalben, die er in Brockenhäusern kauft. Das Fotoalbum kann <strong>als</strong><br />

Mittel zur Geschichtskonstruktion schlechthin im privat-familiären Rahmen gelesen werden, das<br />

jedoch nur so lange aktiv ist, <strong>als</strong> es auch Nachfahren gibt, die dies durch oral history unterstützen. Die<br />

Fotoalben fungieren <strong>als</strong> Zeugen vergangener Existenzen und Momente und zeichnen<br />

Familienstammbäume nach. In seiner fortlaufenden Werkgruppe Curtain (2009) dienen ihm jedoch<br />

nicht etwa die gefundenen Fotografien oder die Hauptseiten dieser Alben <strong>als</strong> Arbeitsmaterial, sondern<br />

die feinen, pergaminartigen Zwischenseiten. Diese sind gerade wegen ihrer Fragilität sehr anfällig für<br />

Risse und Falten. Patsourakis' Interesse liegt in diesen feinen, durch Unachtsamkeit beim<br />

Durchblättern entstandenen Spuren, die er mit verschiedenen Neonfarben reliefartig herausarbeitet.<br />

Durch diesen formalästhetischen Eingriff löst er auch ein Spannungsverhältnis aus: Die<br />

Neonfarbigkeit, die man mit Zukunft und «Modernität» konnotiert, trifft auf das nostalgische Moment<br />

des Durchblätterns, des Auffrischens von Erinnerungen und der gleichzeitigen Abnützung des Objekts<br />

bzw. des unbeabsichtigten erneuten Spurenhinterlassens.<br />

Formalästhetische Merkmale wie Spiegelungen, Faltungen, Möbiusschleifen und Leerstellen sind für<br />

Pamela Rosenkranz (*1979, Schweiz) in ihren konzeptuellen Arbeiten von grosser Bedeutung: An sie<br />

knüpfte sie einen an die zeitgenössische Philosophie angelehnten Diskurs über die Präsenz und die<br />

Absenz von Körpern. Als Medium benutzt die Künstlerin seit einigen Jahren unter anderem das<br />

Fotogramm, das durch seine Haptik besonders für diesen Diskurs geeignet ist. Anders <strong>als</strong> bei der<br />

Fotografie, wo eine Kamera benutzt wird, handelt es sich beim Fotogramm um eine direkte Belichtung<br />

von lichtempfindlichen Materialien wie Film oder Fotopapier – der Träger steht <strong>als</strong>o in direktem<br />

Kontakt mit dem Abzubildenden. In ihrer Serie Spills (seit 2007) zerkaut die Künstlerin verschiedenste<br />

Medikamente vom Antidepressivum bis hin zu Vitamintabletten und spuckte diese anschliessend auf<br />

das Fotopapier aus. Dort hinterliess die Aktion einen einmalig-expressionistischen Abdruck aus<br />

Tablettenresten und Spucke. Die Farbfotogrammserie More Core (2010) nimmt ebenfalls Tabletten <strong>als</strong><br />

Arbeitsmaterial auf. Allerdings werden diese unbearbeitet direkt auf dem Fotopapier angeordnet,<br />

sodass sie <strong>als</strong> abstrahiertes Augenpaar gelesen werden können. Aus der Ferne erinnern die<br />

grellfarbenen Punktpaare etwa an Augendarstellungen bei Androiden aus Science-Fiction-Filmen wie<br />

The Terminator (1984). Diese scheinbar ironische Referenz durch die Farbgebung der Tabletten –<br />

ursprünglich ein Warnsignal vor der Konsumation – ist nicht zufällig, wenn man sich vor Augen hält,<br />

dass die chemikalischen Substanzen <strong>als</strong> Protagonisten in der Modifikation von Geist und Körper<br />

gelten.<br />

Für seine Objekte und skulpturalen Installationen benutzt der Künstler Martin Soto Climent (*1977,<br />

Mexiko) meist einfache Objekte und Gegenstände, die er auf der Strasse gefunden oder in<br />

Secondhand-Shops gekauft hat. Diese Objekte ordnet er – zum Teil unverändert, manchmal mit<br />

minimalen Eingriffen – in neuen Konstellationen <strong>als</strong> Skulpturen oder auch <strong>als</strong> Installationen im<br />

Ausstellungsraum an. Für die Arbeit Desire (2009) benutzt Soto Climent Brillenetuis und faltet diese<br />

so, dass sie aussehen, <strong>als</strong> kämen aus ihren Öffnungen lüsterne Zungen hervor. Diese<br />

Neukontextualisierungen knüpfen beim surrealistischen Gedankengut und ihrem Verhältnis zum<br />

Objekt an: Bereits die Surrealisten untersuchten das Objekt <strong>als</strong> Erinnerungsfragment – <strong>als</strong> eine<br />

Möglichkeit, individuelle Erinnerungen und nicht gesellschaftlich sanktionierte zu evozieren, eine<br />

eigene Assoziationskraft anzutreiben und zu entfalten. Dazu musste jedoch das Objekt eine<br />

aufladende Geste durch den Künstler erfahren, deren Energieübertragung mit derjenigen der<br />

Berührungsreliquie vergleichbar ist. Die Objekte brechen mit ihrem ursprünglichen Verwendungszeck,<br />

sollen erstaunen, Überraschung auslösen. André Breton beschrieb das in einem seiner Manifeste so:<br />

«Objectivation de l’activité de rêve, son passage dans la réalité.»<br />

Bekannt wurde Loredana Sperini (*1970, Italien/Schweiz) mit ihren Zeichnungen und Stickereien, die<br />

fein ziselierte Figuren oder Figurengruppen darstellen, die im Begriff sind, sich aufzulösen, sich mehr<br />

und mehr in wurzelartigen Geflechten verweben und sich in einer entzeitlichten Raumsituation<br />

befinden. Gerade mit dem Medium der Handstickerei – einem traditionsverhafteten, zeitaufwendigen<br />

Handwerk – konnte Sperini auf formalästhetischer Ebene ein Äquivalent finden, welches eine<br />

«verlangsamte», fast schon eingefrorene Zeitlichkeit innehat. Das Sichtbarmachen von Zeit und deren<br />

Instabilität ist eines der Hauptinteressen Sperinis. 2007 beginnt Loredana Sperini eine neue<br />

Werkgruppe, eine Serie von kleinen Skulpturen, die aus Porzellanskulpturresten bestehen und von ihr<br />

neu zusammengesetzt werden. Dabei entstehen ähnlich wie in den Stickereien seltsam hybride


Körper. Die einzelnen Porzellanstückchen stammen von sogenannten Trümmerbergen: Berge von<br />

Bombentrümmern aus dem Zweiten Weltkrieg, in denen noch heute nach Wertgegenständen<br />

gegraben wird. Sperini nimmt das «Körpertrauma» des 20. Jahrhunderts auf mit diesem historischmenschlich<br />

aufgeladenen Material.<br />

Mit ihren halbfigurativen, amorphen Skulpturen aus Polyester und Polyurethan gehört Alina<br />

Szapocznikow (1926–1973, Polen/Frankreich) neben Eva Hesse (1936–1970) und Louise Bourgeois<br />

(1911–2010) zu den wichtigen Protagonistinnen der Kunst des vergangenen Jahrhunderts, die für<br />

eine postsurrealistische Körperlichkeit zwischen Poesie und Trauma einstehen. In den 1970er Jahren<br />

entstanden mehrere Arbeiten, die sich durch ihren konzeptuellen Charakter auszeichnen. Ihre 21-<br />

teilige Fotoarbeit Photosculpture (1971) basiert auf der Idee, einen Kaugummi und seinen<br />

Transformationsprozess durch das Kauen der Künstlerin über einen Nachmittag hinweg zu<br />

dokumentieren – das Kauen wird dabei zum Akt der kontinuierlichen Kreation, aber auch Zerstörung.<br />

Ihren Skulpturen ähnlich, entstehen dabei bizarre Formen, die an Ernst Haeckels kunstvolle<br />

Naturdarstellungen erinnern. Die Fotodokumentation zum Cendrier d’ambiance (1972) – einer nie im<br />

Ausstellungskontext durchgeführten Performance – entstand für eine von Annette Messager<br />

kuratierten Gruppenausstellung, nachdem die Künstlerin an Krebs erkrankt war. Die Einfachheit der<br />

Versuchsanordnung besticht: Während der Eröffnung sollte ein Stück Butter <strong>als</strong> Aschenbecher<br />

dienen. Das Eindringen des glühenden Zigarettenstummels in die weiche Masse wird dabei zur<br />

poetischen Metapher, die auch eine gesellschaftspolitische Lesart birgt – <strong>als</strong> Antagonismus, Feuer<br />

und Wasser, die aufeinandertreffen, aber auch <strong>als</strong> Synthese, <strong>als</strong> Akt der Verschmelzung.<br />

Kurator der Ausstellung: Raphael Gygax<br />

KÜNSTLERGESPRÄCH MIT LOREDANA SPERINI: Am Mittwoch, 27. Oktober, um 19 Uhr findet in der Ausstellung ein<br />

Gespräch mit Loredana Sperini unter der Leitung von Raphael Gygax statt.<br />

KÜNSTLERGESPRÄCH MIT PAMELA ROSENKRANZ: Am Mittwoch, 10. November, um 19 Uhr findet in der Ausstellung ein<br />

Gespräch mit Pamela Rosenkranz unter der Leitung von Raphael Gygax statt.<br />

VORTRAG VON JUDITH WELTER: FAMA VOLAT – SPEKULATION, GERÜCHT UND ANEKDOTE ALS<br />

KÜNSTLERISCHES MATERIAL: Ausgehend von den in der Ausstellung gezeigten Positionen wird Judith Welter,<br />

Kunsthistorikerin und Sammlungskonservatorin am migros museum für gegenwartskunst, am Mittwoch, 24. November, um 19<br />

Uhr einen Vortrag zum Thema des Ephemeren in der zeitgenössischen Kunst halten.<br />

ÖFFENTLICHE FÜHRUNGEN: Sonntag, 26. September, 10. und 24. Oktober, 7. und 28. November, um 15 Uhr sowie<br />

Donnerstag, 7. Oktober und 25. November, um 18.30 Uhr.<br />

FAMILIENFÜHRUNGEN: Sonntag, 3. Oktober und 7. November, um 13.30 Uhr. Die Führung dauert 1,5 Stunden und ist<br />

inhaltlich auf Familien ausgerichtet. Die Führungen werden durch spielerische Übungen ergänzt.<br />

ÖFFNUNGSZEITEN: Di / Mi / Fr 12–18, Do 12–20, Sa / So 11–17 Uhr. Donnerstags 17–20 Uhr kostenloser Eintritt.<br />

migrosmuseum.ch // hubertus-exhibitions.ch<br />

Das migros museum für gegenwartskunst ist eine Institution des <strong>Migros</strong>-Kulturprozent. kulturprozent.ch

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