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40 Jahre Arbeiterstatut - AFI-IPL

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Jahr 3 Nr. 24 2010<br />

Beilage zu „Dimension Arbeit“<br />

Allegato a „Dimensione Lavoro“<br />

Registriert Landesgericht Bozen<br />

Registrato il Tribunale di Bolzano<br />

Nr. 23/1996 st.<br />

NEWSLETTER 24 (EX 05/2010)<br />

20.05.2010<br />

ARBEITSFÖRDERUNGSINSTITUT<br />

Körperschaft öffentlichen Rechts für Forschung,<br />

Bildung und Information im Bereich Arbeit.<br />

ISTITUTO PROMOZIONE LAVORATORI<br />

Ente di diritto pubblico per la ricerca, formazione ed<br />

informazione nell'ambito del lavoro.<br />

<strong>40</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Arbeiterstatut</strong>: Nach wie vor Garant für Freiheit, Würde und<br />

Schutz der ArbeitnehmerInnen<br />

Am 20. Mai 1970, vor nunmehr <strong>40</strong> <strong>Jahre</strong>n, ist das Gesetz 300 („Bestimmungen zum Schutz der Freiheit und Würde der<br />

Arbeitnehmer, der Gewerkschaftsfreiheit und der gewerkschaftlichen Betätigung an den Arbeitsplätzen sowie Bestimmungen<br />

zur Arbeitsvermittlung“) in Kraft getreten, besser bekannt unter der Benennung „<strong>Arbeiterstatut</strong>“. Es handelt sich hierbei<br />

um einen für das italienische Arbeitsrecht grundlegenden Bestand von Bestimmungen. Nach den Auseinandersetzungen<br />

im „Heißen Herbst“ 1969 erarbeitete eine Kommission um den Arbeitsrechtler Gino Giugni einen Gesetzestext, der die<br />

Werte der Freiheit, der Würde, der Sicherheit und der Beruflichkeit der abhängig Beschäftigten in der Arbeitswelt zur Geltung<br />

bringen sollte. Nach wie vor regelt das <strong>Arbeiterstatut</strong> wichtige Aspekte der Beziehungen zwischen ArbeitgeberInnen<br />

und ArbeitnehmerInnen; es bildet zudem die legislative Grundlage für die betriebliche Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen.<br />

Das <strong>Arbeiterstatut</strong> hat die italienische Arbeitswelt demokratisiert, indem es die Würde der ArbeitnehmerInnen<br />

schützt und versucht, die Verhandlungsposition der abhängig Beschäftigten und der sie repräsentierenden gewerkschaftlichen<br />

Interessenvertretungen im Betrieb zu stärken. Heute steht das <strong>Arbeiterstatut</strong> vor Herausforderungen, die aus<br />

der Fragmentierung des Arbeitsmarktes, dem wirtschaftlichen Strukturwandel und der schwachen Verankerung der Gewerkschaften<br />

in den kleineren Betrieben resultieren.<br />

Dieser Newsletter enthält<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

eine Einführung in das <strong>Arbeiterstatut</strong>,<br />

einen Beitrag von Luca Nogler, Ordinarius für Arbeitsrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität<br />

Trient, in dem das Gesetz einer kritischen Würdigung unterzogen wird,<br />

Positionsbestimmungen der Südtiroler Gewerkschaftsbünde über den Stellenwert des Gesetzes und den Anpassungsbedarf,<br />

eine Liste mit aktuellen Publikationen und Links zum Thema.<br />

Das <strong>Arbeiterstatut</strong><br />

gen auf Lebenszeit der Normalfall waren, noch relevant<br />

sein? Ist es notwendig oder sinnvoll, Rechte, die wohl niemand<br />

mehr infrage stellen wird und die in der italienischen<br />

Martina Gufler 1 und Werner Pramstrahler 2 , <strong>AFI</strong>-<strong>IPL</strong><br />

Verfassung sowie der Charta von Nizza 3 geschützt sind, in<br />

1. Das Jubiläum als Anlass für Einschätzungen<br />

einem <strong>Arbeiterstatut</strong> zu verankern?<br />

Das <strong>Arbeiterstatut</strong> ist sehr wohl noch bedeutungsvoll. Es<br />

Das <strong>40</strong>jährige Bestehen eines Gesetzes ist in diesen Tagen<br />

wird nach wie vor angewandt, es ist prägend für das italienische<br />

Arbeitsrecht als Ganzes, es schützt „zeitlose“ Werte,<br />

Anlass für Bewertungen, Kommentare sowie kritische<br />

Würdigungen. Als <strong>Arbeiterstatut</strong> bezeichnet man das Gesetz<br />

vom 20. Mai 1970 Nr. 300, das, wenngleich mehrfach<br />

es hatte einen besonders ausgeprägten sozialen Einfluss.<br />

Mit Hinblick auf die jetzige arbeitsrechtliche Gesetzeslage<br />

durch sukzessive Gesetze oder aufhebende Referenden<br />

kann festgehalten werden, dass das Statut eine Reihe von<br />

abgeändert, nach wie vor in Kraft ist. Es ist durchaus<br />

Lösungen von größter gesellschaftlicher und rechtlicher<br />

nachvollziehbar, dass ein aus dem Jahr 1970 stammendes<br />

Relevanz vorweggenommen hat.<br />

Gesetz, dessen Gegenstand, nämlich die Arbeitswelt, in<br />

der sich im Besonderen die Beziehung ArbeitnehmerIn- 2. Zur inhaltlichen Struktur<br />

ArbeitgeberIn und die Gewerkschaften seitdem grundlegend<br />

verändert haben, auf den ersten Blick als „überholtes Das <strong>Arbeiterstatut</strong> ist ein „verfassungsdurchführendes“<br />

Relikt“ erscheinen mag. Inwiefern kann unter den aktuellen<br />

Umständen, gekennzeichnet durch die Schnelllebigkeit sung (so die Würde und Gleichheit der Menschen, die Mei-<br />

Gesetz, da es die Prinzipien der republikanischen Verfas-<br />

und die Unberechenbarkeit der Märkte, die zunehmende nungsfreiheit und das Diskriminierungsverbot) auch in der<br />

Variabilität der Beschäftigungsverhältnisse und die Prekarität<br />

am Arbeitsmarkt ein Gesetz, das in erster Linie die Geltung verhilft. Es enthält zum einen individuelle Rechte<br />

Arbeitswelt, insbesondere der betrieblichen Realität, zur<br />

Arbeitsbeziehungen in großen Industrieunternehmen regelte,<br />

zudem aus einer Zeit stammt, in der Festanstellun- die gewerkschaftliche Betätigung regelt. Wie der italieni-<br />

der ArbeitnehmerInnen und zum anderen einen Teil, der<br />

sche Arbeitsrechtler Giorgio Ghezzi kommentiert hat, ist<br />

1 dies nötig: Damit die ArbeitnehmerInnen ihre Rechte ef-<br />

Absolventin der Studienrichtung Wirtschafts- und Sozialwissenschaften<br />

der Freien Universität Bozen, leistet derzeit ein Praktikum am<br />

3<br />

<strong>AFI</strong>-<strong>IPL</strong>.<br />

Die im Jahr 2000 verabschiedete Charta von Nizza enthält die<br />

2 Mitarbeiter des <strong>AFI</strong>-<strong>IPL</strong> und Koordinator dieses Newsletters. Grundrechte der europäischen Union, seit 1.1.2009 ist der Grundrechtskatalog<br />

in Kraft.<br />

<strong>AFI</strong>-<strong>IPL</strong> NEWSLETTER info@afi-ipl.org www.afi-ipl.org http://forum.afi-ipl.org


2<br />

fektiv ausüben können, ist es notwendig, dass die Vertretungen<br />

der ArbeitnehmerInnen, die Gewerkschaften, ihre<br />

Aktivität ausüben können. Das italienische <strong>Arbeiterstatut</strong><br />

ist somit eines jener Gesetze, das die betrieblichen Interessenvertretungen<br />

der ArbeitnehmerInnen unterstützt –<br />

vergleichbar dem österreichischen Arbeitsverfassungsgesetz<br />

und dem deutschen Betriebsverfassungsgesetz.<br />

3. Zeitlose Werte und vorausschauende Regelungen<br />

<br />

Rechte und Würde auch in der Arbeitswelt<br />

Eine Kernbestimmung des Statuts ist der Schutz der<br />

Meinungsfreiheit und der Würde des Arbeitnehmers<br />

(Artikel 1). Diese Grundausrichtung wird folglich von vielen<br />

Spezifizierungen untermauert wie z. B. dem Verbot von<br />

Nachforschungen über die Gesinnung, dem Verbot von<br />

diskriminierenden Maßnahmen, den Regelungen, die bestimmte<br />

Verhaltensweisen von vereidigtem Werksschutz<br />

und Aufsichtspersonal verbieten, den Bestimmungen in<br />

Bezug auf Audio- und Videoüberwachung, Leibesvisitationen<br />

und Disziplinarmaßnahmen. Diese Grundsätze haben<br />

nichts von ihrer Vitalität und von ihrer Fähigkeit verloren,<br />

den Schutz der Würde der Personen zu gewährleisten,<br />

ohne dabei die berechtigten Ansprüche von Unternehmen<br />

in Bezug auf Leistungskontrollen und Sicherheit der Betriebsanlagen<br />

zu vernachlässigen. Sie machen das Statut<br />

weiters zu einem Wegbereiter für den Schutz der Diskretion<br />

am Arbeitsplatz: So hat das Gesetz zur ‚privacy’ diesen<br />

Ansatz aufgegriffen und in viel energischerer und stärkerer<br />

Weise umgesetzt. Man könnte einwenden, dass diese<br />

Bestimmungen nicht mehr infrage gestellt werden bzw.<br />

dass realistisch gesehen niemand solche zivilgesellschaftlichen<br />

Normen des ersten Abschnitts abschaffen will. „Ich<br />

weiß nicht“, merkt der bekannte Arbeitsrechtprofessor<br />

Mario Napoli an, „wie viele Möglichkeiten von Rückschritten<br />

es doch gibt“. Unter dem Aspekt der Würde der ArbeitnehmerInnen<br />

kann auch der Artikel 18 gesehen werden:<br />

Kündigungen sollen nicht willkürlich ausgesprochen werden<br />

können, sondern unterliegen einer gerechtfertigten<br />

Begründung. Die inhaltlichen wie prozeduralen Feinheiten<br />

des Artikel 18 zielen darauf ab, ungerechtfertigte Kündigungen<br />

durch eine vollständige Wiedergutmachung zu<br />

sanktionieren. 4<br />

<br />

Beruflichkeit<br />

In einer sich fragmentierenden Arbeitswelt behält der Artikel<br />

13 über die Aufgaben des/der Arbeitnehmers/in<br />

seine Aktualität: Die abhängig Beschäftigten dürfen nur für<br />

jene Arbeitsaufgaben herangezogen werden, für die sie<br />

eingestellt wurden oder für Aufgaben, die eine höhere<br />

Einstufung voraussetzen. Heute mag diese Regelung<br />

selbstverständlich erscheinen, in erster Linie weil sich die<br />

Sichtweise des Arbeitsmarktes im Hinblick auf die Beruflichkeit<br />

und den Schutz derselben geändert hat. Dieser<br />

4 Es sei daran erinnert, dass die ArbeitnehmerInnen in Betrieben<br />

über 15 Beschäftigten das Recht auf „Wiedergutmachung“<br />

in Form einer vollen Wiedereingliederung und einer<br />

Entschädigung haben, während seit dem Gesetz 108/1990<br />

in Betrieben unter 15 Beschäftigten die Wahl zwischen erneuter<br />

Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses oder Entschädigung<br />

besteht.<br />

Ansatz des Gesetzgebers hat sich jedenfalls als wertvoll<br />

herausgestellt. 5<br />

<br />

Diskriminierungsverbot<br />

Der Artikel 15, der diskriminierende Absprachen und<br />

Maßnahmen für nichtig erklärt, war eine sehr vorausschauende<br />

Regelung. Niemand kann den geradezu prophetischen<br />

Charakter der Verfügung leugnen. Der Gesetzgeber<br />

des Statuts war vor allem um die Nicht-<br />

Diskriminierung auf der Basis von Gewerkschaftszugehörigkeit<br />

bemüht, hat aber auch schon eine schützende Hand<br />

gegen Diskriminierung aufgrund von politischer oder religiöser<br />

Einstellung oder Zugehörigkeit erhoben. Im heute<br />

aktuellen Artikel werden außerdem Diskriminierungen<br />

aufgrund von Rasse, Sprache, Geschlecht, Behinderung,<br />

Alter, sexueller Orientierung sowie persönlicher Einstellung<br />

unterbunden. Diese Bestimmung, wenn auch nicht in allen<br />

Bereichen durchsetzbar, wofür der nach wie vor bestehende<br />

gender pay gap Beleg ist, wurde zu einer Schlüsselbestimmung<br />

des Arbeitsrechts.<br />

4. Der Vorrang der Gewerkschaften und die hohe<br />

Relevanz kollektivvertraglicher Regelungen<br />

Der dritte Abschnitt des <strong>Arbeiterstatut</strong>s („Über die gewerkschaftliche<br />

Betätigung“) erfüllt den Zweck, die Gewerkschaften<br />

als Vertretungen der ArbeitnehmerInnen und als<br />

Träger der Verhandlungsrechte zu stärken. Indem das<br />

<strong>Arbeiterstatut</strong> kollektive Vertretungen und die Kollektivvertragstätigkeit<br />

– und nicht etwa spontane Willensbekundungen<br />

von ArbeitnehmerInnen - unterstützt, hat es einen<br />

Beitrag zur Rationalisierung und Institutionalisierung der<br />

Interessengegensätze zwischen ArbeitgeberInnen und<br />

abhängig Beschäftigten geleistet. GewerkschaftsaktivistInnen<br />

und Mitglieder werden vor Diskriminierung geschützt.<br />

Von zentraler Bedeutung ist der Art. 19, der den Gewerkschaften<br />

– und nicht etwa direkt den ArbeitnehmerInnen<br />

allein – das Recht zuspricht, betriebliche gewerkschaftliche<br />

Vertretungen zu gründen. Ein Ausgleich zwischen der Willensbekundung<br />

der ArbeitnehmerInnen und der Kanalisierung<br />

durch Verbände (Gewerkschaftsbindung) wurde angestrebt:<br />

Die Initiative zur Gründung wird von den ArbeitnehmerInnen<br />

im Betrieb getragen, die Vertretung ist allerdings<br />

gewerkschaftsgebunden ist. Grundabsicht des <strong>Arbeiterstatut</strong>s<br />

ist es, eine Verknüpfung von betrieblicher und<br />

überbetrieblicher Verantwortung herbeizuführen: Die betrieblichen<br />

Interessenvertretungen sollen nicht auf Kosten<br />

überbetrieblicher Interessen der ArbeitnehmerInnen handeln.<br />

6<br />

5 Der Schutzmechanismus des Statutes bezieht sich nur auf<br />

bereits abgeschlossene Verträge. Der Schutz der Beruflichkeit<br />

(verstanden als Korrespondenz zwischen Studientitel<br />

und auszuführender Tätigkeit) während der Anbahnung des<br />

Arbeitsverhältnisses ist nicht gegeben, sondern hängt im<br />

Wesentlichen von der Stärke der jeweiligen Verhandlungsposition<br />

ab.<br />

6 Der Ausgleich von betrieblichen Interessen und ihren vielfältigen<br />

Lösungen sowie überbetrieblich geltenden Standards<br />

ist eine permanente Herausforderung für die Gewerkschaften.<br />

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3<br />

Das Statut förderte vor allem die großen umfassenden<br />

Gewerkschaftsbünde, die sektorenübergreifend agieren. 7<br />

Auch in diesem Fall stand die Absicht Pate, zum einen den<br />

italienischen Gewerkschaftspluralismus anzuerkennen,<br />

zum anderen war es wichtig, einer weiteren Fragmentierung<br />

der Gewerkschaftsorganisationen keinen Vorschub zu<br />

leisten, um ein effizientes Entscheidungs- und Verhandlungssystem<br />

einführen zu können.<br />

Die heutige gewerkschaftliche Vertretungsstruktur der<br />

ArbeitnehmerInnen im Betrieb, die Einheitlichen Gewerkschaftsvertretungen<br />

(EGV-RSU), sind somit sowohl<br />

ArbeitnehmerInnen– wie gewerkschaftliche Vertretungen<br />

– anders als die österreichischen und deutschen<br />

Betriebsräte, die ausschließlich eine ArbeitnehmerInnenvertretung<br />

sind. 8<br />

Es ist ein Zeichen der flexiblen kollektiven Arbeitsbeziehungen<br />

Italiens, dass eine Reihe von Informations- und<br />

Mitwirkungsrechten der betrieblichen Interessenvertretungen<br />

mit kollektivvertraglichen Abkommen – und anders als<br />

in den deutschsprachigen Nachbarländern nur zu einem<br />

geringen Teil per Gesetz – geregelt sind. Vielmehr hat der<br />

italienische Gesetzgeber die Materie an die Kollektivvertragsparteien<br />

delegiert. Allerdings scheinen der Ausbau<br />

und die Wahrnehmung der Informations- und Mitwirkungsrechte<br />

derzeit eine eher untergeordnete Rolle zu spielen.<br />

5. Der Artikel 28 als Prototyp für viele nachfolgende<br />

Gesetzesbestimmungen<br />

Abschließend soll an einen weiteren Aspekt aus dem kollektiven<br />

Arbeitsrecht erinnert werden: Der Artikel 28 sieht<br />

das Verbot gewerkschaftsfeindlichen Verhaltens von Seiten<br />

der ArbeitgeberInnen vor, und zwar mithilfe eines sofort<br />

vollstreckbaren Richterurteils, das die ArbeitgeberInnen<br />

dazu anhält, ihre gesetzeswidrigen Handlungen zu unterlassen<br />

und deren Auswirkungen rückgängig zu machen.<br />

Dieser Artikel wurde zum Prototyp, zum Modellinstrument<br />

für andere Gesetze zur Verhinderung von unrechtem Handeln<br />

und für viele Antidiskriminierungsbestimmungen. Er<br />

wird von vielen ArbeitsrechtlerInnen als die eigentliche<br />

Schlussbestimmung des Statuts gesehen.<br />

6. Autonomiestatut und <strong>Arbeiterstatut</strong>: Konflikte<br />

regeln, nicht unterdrücken<br />

Die zeitliche Nähe der Verabschiedung des <strong>Arbeiterstatut</strong>s<br />

1970 und des Südtiroler Autonomiestatuts zwei <strong>Jahre</strong> später<br />

legt den Schluss nahe, dass beide Statute Ausdruck<br />

einer umfassenden Demokratisierung Italiens waren: so-<br />

7 Die italienische Rechtssprechung hat das Konzept des „sindacato<br />

maggiormente rappresentativo“ formuliert, das zunehmend vom Konzept<br />

des „sindacato comparativamente più rappresentativo“ in Frage<br />

gestellt wird. Eine prägnante Zusammenfassung der Problematik im<br />

Hinblick auf das Prinzip der Koalitionsfreiheit und der Geltung der<br />

Kollektivverträge liefert Fontana 2010 (insbes. 14 – 18).<br />

8 Vor dem interkonföderalen Abkommen über die Gründung der EGV-<br />

RSU (Dez 1993) war es eine offene Frage, wer bei Betriebsverhandlungen<br />

die ArbeitnehmerInnen vertritt. Nach wie vor offen ist die von<br />

Runggaldier bereits 1992 angesprochene Frage, ob es in Italien die<br />

Einführung eines dualen Systems der Interessenvertretung (Trennung<br />

von ArbeitnehmerInnen- und Gewerkschaftsvertretung) im Betrieb<br />

und zu einer stärkeren gesetzlichen Festlegung von Informationsrechten<br />

kommen soll.<br />

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wohl in Bezug auf die Arbeitswelt als auch auf den Umgang<br />

mit den nationalen Minderheiten. Bei allen Diskussionen<br />

über den Anpassungsbedarf bleibt die Grundausrichtung<br />

nach wie vor gültig: ein Regelwerk, das soziale Interessengegensätze<br />

nicht verleugnet, sondern in geordnete Bahnen<br />

lenkt und somit zu einem permanenten Ausgleich führt<br />

und das in der Lage ist, die berechtigten Interessen der<br />

ArbeitgeberInnen und der ArbeitnehmerInnen auf die selbe<br />

Stufe der Legitimität stellt. In einer Zeit, in der die Dringlichkeit<br />

einer Regulierung der Finanzmärkte außer Streit<br />

steht, zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die Arbeitsmärkte<br />

und die Beziehungen zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen<br />

nach wie vor geregelt sind.<br />

Das <strong>Arbeiterstatut</strong> <strong>40</strong> <strong>Jahre</strong> später<br />

Luca Nogler, Ordinarius für Arbeitsrecht an der Rechtswissenschaftlichen<br />

Fakultät der Universität Trient<br />

1. Sicherheit und Menschenwürde<br />

Das <strong>Arbeiterstatut</strong> war das erste italienische Gesetz, mit<br />

dem der Verfassungsgrundsatz umgesetzt wurde, laut<br />

dem die privatwirtschaftliche Betätigung keine Beeinträchtigung<br />

der Sicherheit oder der Menschenwürde des Einzelnen<br />

mit sich bringen darf (Art. 41 Abs. 2 der Verfassung).<br />

Ein Großteil der Bestimmungen im Abschnitt 1 betrifft daher<br />

auch Einschränkungen der ArbeitgeberInnenbefugnisse<br />

nach dem Grundsatz, nach dem die Arbeitsorganisation<br />

sich den ArbeitnehmerInnen anpassen muss und nicht<br />

umgekehrt. Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass es<br />

in Italien Ende der 50er <strong>Jahre</strong> bekanntermaßen zu einer<br />

raschen Industrialisierung des Landes kam und dass sich<br />

das Einkommen insbesondere in den drei <strong>Jahre</strong>n des Wirtschaftsbooms<br />

zwischen 1959 und 1962 um Rekordwerte<br />

steigerte, Zuwachsraten von 6,4 % (1959), 5,8 % (1960),<br />

6,8 % (1961) und 6,1 % (1962) wurden erreicht. In diesen<br />

<strong>Jahre</strong>n gelang es Italien, das Gefälle bei der Wirtschaftsleistung<br />

im Vergleich zu England und Deutschland<br />

zu reduzieren und mit anderen Wirtschaftssystemen wie<br />

denen in Belgien, Holland und Schweden gleichzuziehen.<br />

Eine wesentliche Rolle bei der Expansion hatte der Export,<br />

der eine Steigerung von 14,55 % pro Jahr verzeichnete.<br />

Das Durchschnittswachstum Italiens erreichte von 1958<br />

bis 1963 6,3 %, ein Anteil, der bis heute in unserem Land<br />

nicht mehr erzielt werden konnte.<br />

Interessant ist, dass die Löhne in der wachstumsbeschleunigenden<br />

Industrie zwar mehr als in allen anderen Sektoren<br />

stiegen, eines der Geheimnisse des italienischen Wirtschaftsbooms<br />

jener <strong>Jahre</strong> jedoch darin bestand, dass die<br />

Reallöhne im Vergleich zum durch die Steigerung der Produktion<br />

und der Produktivität der Arbeitnehmer (mehr als<br />

ein Drittel) erwirtschafteten Mehrkapital in der Industrie<br />

sanken. Bis zu welchem Punkt konnte jedoch dieser Steigerungsprozess<br />

der Produktivität fortgesetzt werden? Das<br />

<strong>Arbeiterstatut</strong> setzte in diesem Bereich Grenzen zur Bewahrung<br />

der Menschenwürde, deren Mängel wir heute in<br />

Bezug auf Länder, die derzeitig Antriebsmotoren der Weltwirtschaft<br />

sind (China, Indien und Brasilien), stark beklagen.<br />

Der Wirtschaftsboom erlaubte auch eine hohe Gewinnrate,<br />

und die Abschnitte 2 und 3 des Statuts förderten auch<br />

deswegen die Gewerkschaftstätigkeit in der Produktions-


4<br />

einheit mit der Entwicklung der betrieblichen Kollektivverhandlung.<br />

Hervorzuheben ist diesbezüglich die technische<br />

Lösung des Verfahrens zur Unterdrückung des gewerkschaftsfeindlichen<br />

Verhaltens, das Gino Giugni aus den<br />

Vereinigten Staaten übernahm und das in Europa absolut<br />

innovativ war (1978 wurde es auch auf die Gewerkschaften<br />

der ethnischen Minderheiten ausgedehnt).<br />

2. Eine Fülle von innovativen Regelungen<br />

Unbestreitbar ist die Stabilität des Produktionsumfelds<br />

jener <strong>Jahre</strong>, das fest in den Grenzen der westlichen Welt<br />

eingeschlossen und gut durch erhebliche innerstaatliche<br />

Barrieren geschützt wurde und die Entwicklung einer Auffassung,<br />

die den Arbeitsplatz quasi als Eigentum verstand,<br />

begünstigte. In jenen <strong>Jahre</strong>n führte die US-amerikanische<br />

Rechtsprechung nicht rein zufällig eine Regel ein, gemäß<br />

der die ArbeitnehmerInnen mit der längsten Betriebszugehörigkeit<br />

die Ersitzung des Arbeitsplatzes beantragen<br />

konnten.<br />

Was das italienische Umfeld angeht, wurde die innovative<br />

Lösung der Wiederherstellungsanordnung als Form der<br />

Beanspruchung des Arbeitsplatzes aufgefasst, und entsprechend<br />

verfolgte man das Ziel, den Schutz gemäß Art.<br />

18 des Arbeitnehmerstatus in den rechtlichen Bereich des<br />

Rechts auf die Nutzung von Gütern aufzunehmen. Bei<br />

ArbeitgeberInnen, die der gerichtlichen Wiederherstellungsanordnung<br />

nicht nachkommen, hätten die ArbeitnehmerInnen<br />

die Möglichkeit haben müssen, beim Gericht<br />

die ungestörte „Freigabe“ (Art. 608 ZPO) des Arbeitsplatzes<br />

zu beantragen.<br />

Diese Vision, nach der der/die ArbeitnehmerIn mit dem<br />

Abschluss des Arbeitsvertrags MiteigentümerIn des Arbeitsplatzes<br />

wird, konnte sich, obwohl sie in der gewerkschaftlichen<br />

und arbeitsrechtlichen Vorstellung lang überlebte,<br />

in der Rechtsprechung und der Realität niemals<br />

ernsthaft durchsetzen.<br />

Giorgio Ghezzi, ein begnadeter Arbeitsrechtler aus Bologna<br />

(der jahrelang für die CGIL prägend war) nahm pragmatisch<br />

zur Kenntnis, dass die auf der Auffassung des Arbeitsplatzes<br />

als Quasi-Eigentum basierende Strategie nicht<br />

umsetzbar war, und schlug 1990 im Parlament den Übergang<br />

zu einer neuen Strategie des monetären Schutzes<br />

vor: So wurde das eingeführt, was ich persönlich immer<br />

als negative Wende des Arbeitsrechts einstufte und Ghezzi<br />

selbst als „supertutela risarcitoria“ (maximalen Entschädigungsschutz)<br />

betreffend die fünfzehn Monatsgehälter als<br />

Ersatzzahlung für die nicht stattgefundene Wiederherstellung<br />

bezeichnete. (Bemerkenswert ist, dass Gino Giugni<br />

gegen diese Innovation war, für die DC und PCI in gemeinsamem<br />

Einverständnis stimmten, wobei sich die restlichen<br />

Mitglieder der Fünfparteienkoalition enthielten).<br />

Wenn wir einen Vergleich mit anderen Ländern in der Europäischen<br />

Gemeinschaft anstellen, geht in erster Linie<br />

hervor, dass der Betrag der Ersatzzahlung für die nicht<br />

stattgefundene Wiederherstellung nicht von der Dauer des<br />

Bestehens des Arbeitsverhältnisses abhängt (gemäß § 1<br />

des deutschen KSchG gilt dagegen die Regel 0,5 Monatsverdienste<br />

für jedes Jahr des Bestehens des Arbeitsverhältnisses:<br />

eine Lösung zur Regelung, die in Italien übernommen<br />

werden sollte). Zweitens wird der Betrag im Unterschied<br />

zu den Regelungen in Frankreich und in Deutschland<br />

mit den für den Zwischenzeitraum vorgesehenen<br />

vermögenswerten Leistungen kumuliert, dessen Dauer<br />

einen der kritischen Punkte des gesamten Schutzsystems<br />

darstellt. Der einzige Faktor, der Italien erheblich von allen<br />

anderen Systemen zum Schutz bei ungerechtfertigter<br />

Kündigung, mit Ausnahme von Schweden und den Vereinigten<br />

Staaten (natürlich außervertraglich mit dem System<br />

der Torts), abhebt, betrifft den Höchstbetrag, der dem/der<br />

ArbeitnehmerIn bei unrechtmäßiger ungerechtfertigter<br />

Kündigung als garantierte Abfindung (compensation) zusteht.<br />

Alle anderen Profile des italienischen Kündigungsschutzsystems<br />

entsprechen mehr oder weniger denen in<br />

den übrigen Ländern auf dem europäischen Festland, die<br />

durch civil law geregelt sind. Dies bestätigt, dass sie nicht<br />

von gesetzgeberischen Änderungen betroffen sein sollten,<br />

vor allem nicht durch die erzwungene Verlagerung des<br />

entsprechenden rechtlichen Schutzes aus dem Zuständigkeitsbereich<br />

der Staatsanwaltschaft in den eines Schiedsgerichts<br />

in der Form einer Bestätigung von Schiedsklauseln,<br />

die der/die ArbeitgeberIn in die individuellen Arbeitsverträge<br />

einfügt.<br />

In den vierzig <strong>Jahre</strong>n, die seit der Verabschiedung des<br />

<strong>Arbeiterstatut</strong>s vergangen sind, erlebte unser System die<br />

progressive Ausgrenzung der gewerkschaftlichen Organisation<br />

zum Schutz der Arbeitnehmerrechte, den das Statut<br />

verfolgt hatte, sowie die Durchsetzung der Verrechtlichung<br />

des Schutzes. Der Schutz der ArbeitnehmerInnen konzentriert<br />

sich nunmehr auf das Schreckgespenst des monetären<br />

Schutzes, egal ob dieser sich auf die Abfindung<br />

oder die Schadensersatzforderung betreffend persönlicher<br />

Schäden (moralischer, biologischer und existenzieller Art)<br />

bezieht, wobei immer häufiger auf die unbestimmte<br />

Rechtsfigur des Mobbings verwiesen wird. Das jüngste<br />

Risiko betrifft schließlich den weiteren Übergang, der derzeitig<br />

im Parlament erörtert wird, der (auch gerichtlichen)<br />

Verwaltung des Schutzes auf Schiedsrichter (für deren<br />

Rolle sich bereits seit einiger Zeit die ArbeitsberaterInnen<br />

bewerben, die auch die Interessen der ArbeitgeberInnen<br />

schützen).<br />

3. Entlohnungen und Neuformulierung der sozialen<br />

Schutzmechanismen<br />

Auch wenn der erste Teil des <strong>Arbeiterstatut</strong>s einige Nachbesserungen<br />

der Regeln erfordert (zum Beispiel was die<br />

Fernkontrollen und den Beruflichkeitsschutz angeht), ist<br />

seine normative Bedeutung doch weiterhin intakt, während<br />

die auf den ersten Abschnitt folgenden Absätze ihre Bedeutung<br />

erheblich reduzierten, und zwar nicht nur in Bezug<br />

auf die Formen des Schutzes, sondern auch hinsichtlich<br />

der Gestaltung der Produktionsprozesse. Wenn man<br />

auch den öffentlichen Sektor berücksichtigt, sind 56 % der<br />

italienischen ArbeitnehmerInnen (in Deutschland sind es<br />

nur 20 %) in kleinen Betrieben eingestellt und verfügen im<br />

Wesentlichen über keine Gewerkschaftsvertretung. Dort<br />

erfolgt der kollektive Schutz eher auf der Ebene der Vereinigung,<br />

der das Unternehmen angehört, sowie im Rahmen<br />

der Kassen und bilateralen Körperschaften, die nicht immer<br />

richtiggehende Lohnelemente verwalten, wie das im<br />

Baugewerbe der Fall ist, sondern mehr oder minder relevante<br />

Sozialisierungsanteile der Gewinne. In diesen Kontexten<br />

entwickelten sich territoriale kollektivvertragliche<br />

Verhandlungsformen sowie Formen der kollektiven Beteili-<br />

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5<br />

gung, die im Vergleich zur konfliktträchtigen Logik des<br />

zweiten Teils des <strong>Arbeiterstatut</strong>s absolut innovativ sind.<br />

An die Stelle der Logik, nach der der Arbeitsplatz, der in<br />

seiner organisatorischen Immobilität tendenziell entfremdend<br />

ist, quasi als Eigentum verstanden wird, rückte zuerst<br />

bei den kleinen Unternehmen und anschließend auch<br />

bei den größeren eine Vision des Arbeitsverhältnisses als<br />

Instrument der Sicherung für die Professionalität der ArbeitnehmerInnen<br />

und somit von deren Fähigkeit, sich in<br />

den Arbeitsmarkt seines Umfeldes, des Sektors oder einfach<br />

der Spezialisierung einzubringen. Nunmehr setzte sich<br />

also die Erkenntnis durch, dass das Arbeitsverhältnis zusätzlich<br />

zum Einkommen, das es erzeugt, die Existenzgrundlage<br />

der Personen garantiert, nicht zuletzt, da es die<br />

Entwicklung beruflicher Einstellungen und die aktive Beibehaltung<br />

der grundlegenden Lernfähigkeit ermöglicht.<br />

Neben einer solchen Entwicklung erfolgte in den vergangenen<br />

Jahrzehnten die progressive Zersetzung des durch<br />

den Arbeitsvertrag garantierten Einkommens, ja sogar vor<br />

allem des stabilen Einkommens. Angeführt werden kann in<br />

diesem Zusammenhang auch die strukturelle Durchsetzung<br />

eines Anteils an Schwarzarbeit oder eines Anteils an<br />

„26,72-%-Arbeit“ (geregelte fortwährende Zusammenarbeit<br />

und Projektarbeit), das heißt Beschäftigungsverhältnisse,<br />

die keine soziale Bürgerschaft garantiert.<br />

Die regulative Herausforderung des Arbeitsmarkts der<br />

nahen Zukunft besteht in der Neuformulierung des sozialen<br />

Schutzes, in der kollektiven Regelung der Lohnniveaus<br />

und im Verfolgen von Strategien, die die Sozialisierung der<br />

Gewinne ermöglichen. Ein Überdenken des <strong>Arbeiterstatut</strong>s,<br />

ohne die Prämisse der Gleichstellung der Sozialbeiträge bei<br />

quasi-abhängiger („Parasubordinati“) und bei abhängiger<br />

Arbeit zu akzeptieren, bedeutet, den wahren Grund für die<br />

Entwicklung einer im restlichen Europa unbekannten Form<br />

der Arbeit außer Acht lassen zu wollen. Auf dieselbe Art<br />

und Weise müssen auch Maßnahmen bezüglich der sozialen<br />

Abfederung getroffen werden, wobei im Übrigen die<br />

Vorstellung zu akzeptieren ist, dass diese den verschiedenen<br />

Produktionssektoren (das heißt der Bereitschaft der<br />

Unternehmer, den Profit zu sozialisieren) sowie den Beitragsjahren<br />

für die Sozialbeiträge angepasst werden können.<br />

Das Ziel wird es sein, das Wiedererlangen der Produktivität<br />

unter Wahrung der existenziellen Sicherheit der<br />

Arbeitnehmer zu fördern.<br />

Bezüglich der Lohnniveaus ist jedoch auch der Mut erforderlich,<br />

das Gefälle infrage zu stellen, das heute in vielen<br />

Dienstleistungssektoren zwischen dem öffentlichen Dienst<br />

und der Privatwirtschaft besteht, sowie nicht von Grund<br />

auf die Anwendung eines gesetzlichen Mindestlohns auszuschließen.<br />

In diesem Sinne wäre es absurd, wenn die Verteidigung<br />

des Statuts, das heißt die Unterstützung von<br />

Kollektivverhandlungen, die Entwicklung von für den<br />

Schutz der ArbeitnehmerInnen angemesseneren Formen<br />

bremsen würde.<br />

Das <strong>Arbeiterstatut</strong> aus Sicht der Südtiroler<br />

Gewerkschaftsbünde<br />

1. Das <strong>Arbeiterstatut</strong> wird <strong>40</strong> <strong>Jahre</strong>. Welche sind für<br />

Ihre Organisation die bis heute gültigen wichtigsten<br />

Errungenschaften?<br />

Tony Tschenett, ASGB: Das <strong>Arbeiterstatut</strong> garantiert den<br />

ArbeitnehmerInnen die verfassungsmäßigen Rechte auch<br />

im Betrieb und zwar: Freiheit der Meinung, körperliche<br />

Unversehrtheit, Versammlungsfreiheit, politische und gewerkschaftliche<br />

Aktivitäten, Schutz vor Entlassung, Verbot<br />

der Ausspionierung.<br />

Die Gewerkschaft ist einerseits Vertreter der ArbeitnehmerInnen<br />

im Betrieb und andererseits Gesprächspartner<br />

der Arbeitgeberseite. Die Gewerkschaft hat Zugang zum<br />

Betrieb, die ArbeitnehmerInnen haben das Recht, im Rahmen<br />

der dafür vorgesehenen Stunden, sich während der<br />

Arbeitszeit im Betrieb zu versammeln um sich zu informieren,<br />

zu diskutieren und zu beraten.<br />

Lorenzo Sola, CGIL-AGB: Ich glaube nicht, dass es möglich<br />

ist eine Rangliste der wichtigsten Errungenschaften zu<br />

erstellen, zu denen es durch das <strong>Arbeiterstatut</strong> gekommen<br />

ist. Jeder enthaltene Aspekt für sich hat eine Funktion<br />

von großer Bedeutung für die Rechte der ArbeitnehmerInnen.<br />

Sicherlich steht die Bedeutung, die einige Regelungen<br />

in Bezug auf die Rechte der Gewerkschaften einnehmen,<br />

außer Zweifel, so das Recht auf Versammlung und auf<br />

Gewerkschaftsvertretungen und der Schutz gegen ungerechtfertigte<br />

Kündigungen.<br />

Michele Buonerba, SGBCISL: Die wichtigste Errungenschaft<br />

des Statut ist sicherlich die Möglichkeit, in den Betrieben<br />

gewerkschaftlich aktiv zu werden. Von da an war<br />

es möglich, mit den ArbeitnehmerInnen während der Arbeitszeit<br />

in Kontakt zu treten, da das Versammlungsrecht<br />

in Kraft getreten ist. Konkretisiert wurde das Recht auf<br />

Vertretung, das im Art. 19 des Statuts bis zum Referendum<br />

von 1995 niedergelegt war. In zweiter Linie denke ich<br />

vor allem an das Recht, Gewerkschaftsbeiträge per Lohnstreifen<br />

einzuheben, ein Recht, das vor allem dank der<br />

Kollektivverträge in Kraft geblieben ist, nachdem das angesprochene<br />

Referendum diesen Passus abgeschafft hat.<br />

Als dritten wichtigen Punkt würde ich den unbezahlten<br />

Wartestand für Gewerkschaftsfunktionäre nennen. Schließlich<br />

soll der bekannte Art. 18, der den Kündigungsschutz<br />

regelt, genannt werden: Dieser hat dazu beigetragen, dass<br />

GewerkschaftsvertreterInnen und ArbeitnehmerInnen<br />

nicht diskriminiert werden.<br />

Keine Frage: Das Limit dieses Gesetzes besteht darin, dass<br />

es in wesentlichen Teilen nur in Betrieben ab 15 abhängig<br />

Beschäftigten gilt. Diese Schwelle war ja bekanntlich einer<br />

der Gründe dafür, dass der PCI im Parlament sich der<br />

Stimme enthalten hat. Damals erlaubte diese Schwelle<br />

sicherlich, dass im Gros der Betriebe Gewerkschaftsaktivität<br />

entfaltet werden konnte. Heute sind das Produktionssystem<br />

und das Panorama der Arbeitsbeziehungen stärker<br />

„parzelliert“. Dies sind auch die Gründe, weshalb eine Revision<br />

des Gesetzes nötig wäre.<br />

Toni Serafini (UIL-SGK): Mehr Freiheit und Würde für<br />

die ArbeitnehmerInnen, insbesondere zum Schutz der<br />

Gesundheit und der Sicherheit, die Möglichkeit für die Gewerkschaftspatronate,<br />

im Unternehmen zu arbeiten sowie<br />

die Vergünstigungen für lernende Arbeitnehmer. Zudem<br />

die Gewerkschaftsfreiheit, vor allem das Recht auf gewerkschaftliche<br />

Organisation. Wichtig ist die Reglementierung<br />

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6<br />

der Gewerkschaftstätigkeit: Einrichtung der Gewerkschaftsvertretungen<br />

in den Betrieben, das Recht auf Versammlung<br />

am Arbeitsplatz, die bezahlten und unbezahlten<br />

Freistellungen, das Recht auf Veröffentlichungen, die Gewerkschaftsbeiträge.<br />

Kurz gesagt hat das Gesetz 300/70<br />

für UIL-SGK den Status der ArbeitnehmerInnen sowie die<br />

Beteiligung an Gewerkschaften grundlegend verbessert.<br />

2. Über den Stellenwert des Statuts wird ja heute -<br />

auch kontrovers - diskutiert. In welchen Bereichen<br />

sieht Ihre Organisation Anpassungsbedarf?<br />

Sola, CGIL-AGB: Die heutigen Kritiken in Bezug auf das<br />

Statut sind nicht viel anders als in der Vergangenheit. Das<br />

politische Gleichgewicht hat sich vielleicht verändert mit<br />

dem Resultat, dass einige politische Bewegungen, die theoretisch<br />

aus dem Lager der traditionellen linken, dem Statut<br />

positiv gegenüberstehenden politischen Strömungen<br />

kommen, in Widerspruch mit sich selbst geraten, da sie in<br />

Wirklichkeit solche Transformationen durchlaufen haben,<br />

dass sie sich heute in Bezug auf Themen wie Arbeit und<br />

Rechte der ArbeitnehmerInnen in ihrer Haltung nicht eindeutig<br />

von anderen Bewegungen unterscheiden lassen.<br />

Das Problem ist, dass sich dieser Staat in einem chaotischen<br />

Zustand befindet, in dem jedes Mal, sobald Wachstums-<br />

und weitere wirtschaftliche Schwierigkeiten auftreten,<br />

dem Arbeitsmarkt die Schuld gegeben wird. Paradoxerweise<br />

haben wir heute eine derart freizügige Gesetzgebung,<br />

die alle möglichen Formen von Einstellungen erlaubt<br />

und nichtsdestotrotz, auch wenn die Krise nicht gewesen<br />

wäre, hätte es keinen stätigen Beschäftigungszuwachs<br />

gegeben, vor allem nicht was die Beschäftigung von Frauen<br />

und jungen Menschen betrifft, von den Regionen des<br />

Südens gar nicht zu reden. Warum? Weil das italienische<br />

Problem darin besteht, dass ein stattlicher Anteil unserer<br />

Wirtschaft Schattenwirtschaft ist und keinerlei Intention<br />

besteht, diesen Zustand zu ändern, auch nicht wenn es<br />

wirtschaftliche Begünstigungen und liberalisierende Arbeitsmarktgesetze<br />

gibt. Die klassische Haltung der Unternehmer<br />

ist, zum Glück mit einigen Ausnahmen, immer<br />

noch geprägt von dem grundlegenden Willen freie Hand zu<br />

haben und agieren zu können, ohne auf Regeln Rücksicht<br />

zu nehmen, ganz so, wie es vor der Verabschiedung des<br />

Statuts passiert ist. Heute muss man sich die Frage stellen,<br />

wie unser Produktionssystem verbessert und gestärkt<br />

werden kann, damit es gegenüber anderen Ländern qualitativ<br />

wettbewerbsfähig ist; dies kann nur durch Weiterbildung,<br />

Ausbildung, Umschulung, durch die Stabilität des<br />

Arbeitsplatzes und durch Investitionen erreicht werden<br />

aber auch indem man den ArbeitnehmerInnen mehr Sicherheiten<br />

und Rechte zugesteht.<br />

Buonerba, SGBCISL: Insbesondere im Hinblick auf manche<br />

Prinzipien wie das Verbot der Kündigung ohne gerechtfertigten<br />

Grund ist das Statut noch aktuell. Dennoch, und<br />

das habe ich bereits angedeutet, braucht es Neuerungen.<br />

Zum einen existieren Berufe, die nicht mehr nur eine bestimmte<br />

Produktionsabteilung betreffen, sondern in gewisser<br />

Weise übergreifend sind, wobei die Schutzmechanismen<br />

des Statuts bekanntlich an die Produktionseinheit<br />

gebunden sind. Zudem gibt es eine Reihe von Arbeitsverhältnissen,<br />

für die Schutzregelungen ausgearbeitet werden<br />

müssen, die ein Gesetz, das vor allem für unbefristete<br />

abhängige Beschäftigungsverhältnisse gedacht wurde,<br />

nicht mehr garantieren kann. In diesem Sinn ist meine<br />

Organisation dafür, über ein „Statut der Arbeit“ nachzudenken,<br />

wie es verschiedentlich angeregt worden ist.<br />

Schließlich muss eine tief greifende Revision des Statuts<br />

dort ansetzen, wo dieses auf das nicht mehr aktuelle Konzept<br />

der Produktionseinheit baut, das nicht mehr der realen<br />

Betriebsorganisation entspricht. So müssten zum Beispiel<br />

abteilungsbezogene Vertretungen in Betracht gezogen<br />

werden, die nicht auf die Produktionseinheit beschränkt<br />

sind.<br />

Serafini, UIL-SGK: Das <strong>Arbeiterstatut</strong> ist meiner Meinung<br />

nach auch noch heute in vollem Umfang gültig. Nach Meinung<br />

der UIL-SGK sollten weniger das <strong>Arbeiterstatut</strong> als<br />

einige gesetzliche Bestimmungen über die Arbeit geändert<br />

werden. Dabei sollten vor allem die Formen der prekären<br />

Arbeit reduziert werden, insbesondere die sogenannten<br />

Scheinselbstständigen mit Mehrwertsteuernummer. Zudem<br />

bedarf die soziale Abfederung einer grundlegenden<br />

Reform.<br />

Tschenett, ASGB: Das <strong>Arbeiterstatut</strong> berücksichtigt die<br />

vielen Kleinbetriebe nicht. Es ist zu wenig konkret, was die<br />

Rechte der Einflussnahme der Arbeitnehmer bzw. der Gewerkschaften<br />

(Mitbestimmung, Wirtschaftsdemokratie,<br />

Sozialpartnerschaft) im Betrieb geht. Es ist auf kontinuierliche<br />

Konflikte aufgebaut, die immer wieder neu ausgetragen<br />

werden müssen. Das führt zu Unsicherheit, Frust und<br />

Abstumpfung auf Arbeitnehmerseite und verpflichtet die<br />

Arbeitgeberseite zu wenig Konkretem. Gewerkschaften<br />

und aktive Arbeitnehmer betreiben Sisyphusarbeit, sie<br />

kommen über Allgemeines und Grundsätzliches nicht hinaus,<br />

müssen sich oft mit dem zufrieden geben, was ArbeitgeberInnen<br />

von sich aus anbieten. Es fehlt der Anreiz<br />

und die Förderung von gut ausgebildeten, gut vorbereiteten,<br />

fachlich fähigen und motivierten Verhandlungspartnern<br />

auf Seiten der ArbeitnehmerInnen.<br />

3. Es wird über ein Statut der Arbeiten diskutiert.<br />

Welche Position vertritt Ihre Organisation?<br />

Buonerba, SGBCISL: Wie ich bereits angedeutet habe,<br />

müssen die Änderungen vor allem durchgeführt werden,<br />

um den Schutz, den die Bestimmungen des Statuts ermöglichen,<br />

auch auf Betriebe mit weniger als 15 Beschäftigten<br />

auszudehnen.<br />

Serafini, UIL-SGK: Wenn das Statut der Arbeiten auf<br />

eine Erweiterung der Rechte (und Pflichten) auch auf die<br />

Selbstständigen setzt, ohne die Rechte (und Pflichten) der<br />

ArbeitnehmerInnen zu beeinträchtigen, befürwortet es<br />

UIL-SGK.<br />

Tschenett, ASGB: Ein Statut der Arbeiten könnte sicher<br />

interessant sein, wenn es das bestehende Positive des<br />

gültigen <strong>Arbeiterstatut</strong>s übernimmt, die Mängel ausgleicht<br />

und darüber hinaus hilft, die Fragmentierung der Gewerkschaften<br />

abzubauen, ohne die Rechte von gewerkschaftlichen<br />

Vertretungen der ethnischen Minderheiten zu schmälern.<br />

Ein solches Statut hat einerseits die Gewerkschaftsrechte<br />

und die der ArbeitnehmerInnen in den Kleinbetrieben<br />

zu berücksichtigen und andererseits für Mitbestimmungsrechte<br />

und Gewerkschaftsrechte in multinationalen<br />

Konzernen zu sorgen. Wichtig sind auch der Abbau von<br />

prekären Arbeitsverhältnissen sowie die Konzertierung<br />

von Steuerpolitik und sozialen Abfederungsmaßnahmen.<br />

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7<br />

Sola, CGIL-AGB: Die alten und neue Probleme werden<br />

sicherlich nicht durch eine Namensänderung gelöst. Was<br />

zählt, sind die Inhalte. Und in dieser Hinsicht besteht kein<br />

Zweifel, dass es alle aktuellen Inhalte enthalten muss,<br />

logischerweise mit den nötigen Anpassungen, ohne die<br />

Prinzipien zu verdrehen, besser noch mit einer anerkennenden<br />

Haltung in Bezug auf die Prinzipien im Hinterkopf.<br />

Das Problem besteht also darin, den Kreis der Begünstigten<br />

zu erweitern, sodass das neue Statut ein Statut für alle<br />

ArbeitnehmerInnen ist, auch wenn ohne Zweifel die Notwendigkeit<br />

besteht, je nach Art des Unternehmens eine<br />

grundsätzliche Verschiedenheit anzuerkennen, nicht was<br />

die Prinzipien selbst betrifft, sondern die Durchführung.<br />

Wenn ich behaupte, dass man den Kreis der Begünstigten<br />

erweitern und an die heutigen Produktionsgegebenheiten<br />

anpassen muss, (zeitlich begrenzte Verträge, die Projektverträge,<br />

Arbeit auf Abruf, InhaberInnen von Mehrwertsteuernummern)<br />

bedeutet dies also, dass die Rechte auf<br />

alle Arten von auf dem Arbeitsmarkt zugelassenen Arbeitsverhältnissen<br />

ausgeweitet werden. Als CGIL haben wir<br />

dabei aber natürlich immer vor Augen, dass es nötig ist,<br />

die aktuelle Gesetzgebung abzuändern, sodass die Anzahl<br />

möglicher Arten von Einstellungen drastisch verkleinert<br />

und stabile Arbeitsverhältnisse wieder mehr als anzustrebendes<br />

Ziel gesehen werden. Wenn hingegen ein „Statut<br />

der Arbeiten“ bedeuten würde, dass nicht nur die Bezeichnung,<br />

sondern auch die Zielsetzungen sich ändern, wenn<br />

also denen, die bestimmte Rechte haben, diese beschnitten<br />

werden sollen, um sie anderen zukommen zu lassen,<br />

die solche Rechte noch nicht haben, dann wird eine solche<br />

Änderung immer auf eine starke Opposition vonseiten der<br />

CGIL treffen. Wir sind in dieser Hinsicht der Meinung, dass<br />

nicht nur aus den Gründen, die mit der aktuellen Krise<br />

zusammenhängen, sondern auch aus strukturellen Gründen,<br />

die aus der Globalisierung und der Konkurrenz auf<br />

dem globalen Markt resultieren, die Verringerung der<br />

Rechte von einem Teil von Personen bzw. ArbeitnehmerInnen<br />

nicht der Garant dafür sein kann, dass der andere<br />

Teil eben diese Rechte erlangt. Je höher unser Niveau des<br />

individuellen und kollektiven Schutzes, desto besser für die<br />

anderen, gemeint sind ArbeitnehmerInnnen mit italienischer<br />

Staatsbürgerschaft, die heute nicht unter den Schutz<br />

des Statuts fallen, aber auch ArbeitnehmerInnen aus Ländern<br />

mit stark wachsenden Volkswirtschaften und aus<br />

sogenannten Entwicklungsländern, die auf die Besserung<br />

ihrer rechtlichen Lage und ihres Schutzes hoffen. Dies tun<br />

sie, gerade weil es ArbeitnehmerInnen gibt, die diese<br />

Rechte bereits besitzen. Deshalb sollte Schiedsverfahren,<br />

das schon heute möglich ist, wenn beide Parteien übereinkommen,<br />

eine Chance sein, die der/die ArbeitnehmerIn<br />

ausüben kann, falls ein Verfahren eröffnet wird. Wir sind<br />

dagegen, dass das Schiedsverfahren ein potenzieller Erpressungsgrund<br />

in der Hand des Unternehmens zum Zeitpunkt<br />

der Einstellung oder der Zusage des Arbeitsverhältnisses<br />

auf begrenzte Zeit ist. Auch sollen die sozialen<br />

Schutzmaßnahmen nicht zu einem kollektivvertraglichen<br />

und damit sektorenspezifischen Instrument werden, da<br />

damit das aktuelle universale System ersetzt werden<br />

könnte, wenngleich dieses zu verbessern und abzuändern<br />

wäre. Etwas anderes ist es, ergänzende soziale Schutzmaßnahmen<br />

anzudenken, die in Bezug auf Ausmaß und<br />

Zeitrahmen die Besonderheiten der jeweiligen Sektoren<br />

berücksichtigen. Dies nur um einige Beispiele zu nennen,<br />

wie das eventuelle neue Statut nicht sein sollte.<br />

4. Welche Erfahrungen auf lokaler Ebene gibt es mit<br />

der Anwendung der Grundsätze des <strong>Arbeiterstatut</strong>s?<br />

Serafini, UIL-SGK: Die größte Erfahrung betraf das Recht<br />

auf Bildung, das auf Landesebene zur Einrichtung des von<br />

CGIL-AGB, SGB-CISL, UIL-SGK und ACLI gegründeten<br />

Consorzio Lavoratori Studenti (CLS, Konsortium der lernenden<br />

Arbeitnehmer) führte, und somit zur tatsächlichen<br />

Inanspruchnahme der 150 Stunden für die Bildung seitens<br />

vieler ArbeitnehmerInnen.<br />

Tschenett, ASGB: Es gibt noch allzu viele Betriebe, auch<br />

Industriebetriebe, in denen Gewerkschaftsversammlungen<br />

und auch nur die Anwesenheit von Gewerkschaftsvertretern<br />

verhindert werden. Die zweite Verhandlungsebene<br />

kann dadurch nicht praktiziert werden. Ebenso passiert es<br />

inzwischen, dass unliebsame „Mitarbeiter“ nicht mehr entlassen,<br />

sondern aus dem Betrieb hinaus gemobbt werden.<br />

So erspart sich der Betrieb sowohl die Wiedereinstellung<br />

als auch Ersatzzahlungen und auch die ganze Schlichtungsprozedur.<br />

Das Problem ist schließlich auch, dass Gewerkschaften<br />

auch heute noch bei bestimmten Unternehmern<br />

nicht als Partner, sondern als Gegner betrachtet<br />

werden. Auch fehlt der politischen Druck durch sozialdemokratische<br />

Kräfte. Deshalb ist es schwierig, sich auf gleicher<br />

Augenhöhe zu begegnen.<br />

Sola, CGIL-AGB: Ich glaube nicht, dass man von Unterschieden<br />

zu anderen Regionen, die eine ähnliche wirtschaftliche<br />

Entwicklung hatten, sprechen kann. Man muss<br />

jedoch unterstreichen, dass auf der Ebene der Gewerkschaftsrechte,<br />

dort wo das Statut zum Einsatz kommen<br />

kann, die Situation sicherlich im Großen und Ganzen positiv<br />

war, auch wenn es sich gerade zum Schlechten hin<br />

verändert. Etwas muss man jedoch in Betracht ziehen,<br />

nämlich dass die Struktur der Südtiroler Unternehmen<br />

zunehmend „eingeschränkt“ ist und Gewerkschaftsbeziehungen,<br />

Gewerkschaftsschutz und ArbeitnehmerInnenrechte,<br />

die dieser Bezeichnung würdig sind, sehr oft nicht<br />

mehr erlaubt. Darum bin ich überzeugt, dass es notwendig<br />

ist, dass eine Überarbeitung des Statuts genau auf diese<br />

Aspekte abzielt. Ein weiterer wichtiger Punkt besteht darin,<br />

für jene ArbeitnehmerInnen, die sehr oft Seite an Seite zu<br />

sehr verschiedenen Bedingungen arbeiten, sei es in Bezug<br />

auf Lohn, Sicherheit und Rechte, angefangen mit Gewerkschaftsrechten,<br />

vermehrt vereinheitlichte Regelungen zu<br />

finden. Ich bin mir im Klaren, dass ich damit eine fast ketzerische<br />

Aussage mache, doch ich denke, dass in Südtirol<br />

auch zu diesem Thema Überlegungen angestellt werden<br />

sollen. Sozialpartnerschaft kann nicht nur bedeuten, sich<br />

an den Tisch zu setzen, wenn man sich über die Opfer, die<br />

jeder im Zuge einer Krise bringen muss, einigen muss,<br />

sondern bedeutet für mich auch, Verträge mit Unternehmen<br />

und territoriale Verträge abzuschließen. Sozialpartnerschaft<br />

in diesem Sinne heißt vor allem, die Bedingungen<br />

für die ArbeitnehmerInnen, unter anderem Sicherheiten<br />

und Rechte, zu verbessern, was in einer Provinz wie<br />

der unseren, die nach Europa blickt und beispielgebend<br />

sein will, regelrecht ein Trumpf in unserer Hand sein kann.<br />

Ich denke hierbei insbesondere auch an die Integration<br />

ausländischer ArbeitnehmerInnen. Aber vielleicht sind<br />

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8<br />

meine Betrachtungen wirklich nur ketzerische Gedanken,<br />

bedenkt man die Ereignisse in letzter Zeit….<br />

Buonerba, SGBCISL: Das Statut wird im Allgemeinen in<br />

der Mehrheit der Betriebe angewandt. Was fehlt, ist die<br />

Ausweitung per Kollektivvertrag in jenen Sektoren, die sich<br />

in den letzten <strong>Jahre</strong>n entwickelt haben. Ich meine z. B. das<br />

Versammlungsrecht, das auf die Betriebe mit mehr als 15<br />

abhängig Beschäftigten begrenzt bleibt und in jedem Fall<br />

von den betrieblichen Gewerkschaftsvertretungen einberufen<br />

werden muss. Es liegt auf der Hand, dass es schwierig<br />

ist, neue Betriebe gewerkschaftlich zu erschließen, wenn<br />

die Errichtung der Vertretungsstruktur nicht von den ArbeitnehmerInnen<br />

eines bestimmten Betriebes ausgeht. In<br />

einigen Verträgen, wie etwa dem Landeszusatzvertrag des<br />

Bauwesens, wurde dieses Problem kollektivvertraglich<br />

gelöst, aber in den meisten Fällen blieb das Recht auf Versammlung<br />

während der Arbeitszeit auf dem Papier. Heute<br />

sind die Beziehungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen<br />

eher beteiligungs- als konfliktorientiert.<br />

Das Statut der Arbeit könnte nicht nur den Schutz<br />

der Arbeitnehmenden anpassen, sondern auch Regelungen<br />

erleichtern, mit denen es auf kollektivvertraglichem Weg<br />

zur „Feststellung der Vertretungsstärke“ der jeweiligen<br />

Organisationen kommt. Hier gibt es noch offene Aspekte,<br />

die durch die Abschaffung eines Teils des Art. 19 <strong>Arbeiterstatut</strong><br />

entstanden sind: Das neue Konzept der vergleichsweise<br />

repräsentativsten Gewerkschaft ist keine wirkliche<br />

Neuerung. Eine moderne Gewerkschaft muss in der Lage<br />

sein, auf dem Verhandlungsweg die sozialen Phänomene,<br />

die sich aus dem Wandel der Erwerbsarbeit ergeben, zu<br />

steuern. Es ist nicht denkbar, dass eine einzelne Organisation<br />

andere Organisationen festlegen kann, wenn diese im<br />

jeweiligen Bereich die Mehrheit der Beschäftigten vertritt.<br />

Das Statut der Arbeiten könnte auch den Schutz der ArbeitnehmerInnen<br />

durch bilaterale Einrichtungen fördern,<br />

die entsprechende Instrumente einsetzen. Dies wäre aus<br />

meiner Sicht notwendig, um auf die steigende Fragmentierung<br />

und Parzellierung der Arbeitswelt zu reagieren.<br />

Die Fragen formulierten Werner Pramstrahler und Karl Gudauner.<br />

Die Antworten sind schriftlich eingegangen.<br />

Quellen und Literatur zum Vertiefen<br />

Eine ausführliche Sammlung von thematischen Links rund um das<br />

<strong>Arbeiterstatut</strong> bietet ADAPT, Bolletino speciale „Quarant’anni fa lo<br />

statuto dei Lavoratori“, 19. Mai 2010, Bulletin Nr. 17, [PDF-<br />

Dokument], verfügbar unter<br />

http://www.adapt.it/acm-online/Home/BollettinoAdapt/Speciale/docCat19maggio2010n17.200<br />

2.1.50.1.html , [19.05.2010]<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<strong>AFI</strong>-<strong>IPL</strong> Arbeitsförderungsinstitut (2006): Das Arbeitnehmerstatut<br />

(<strong>Arbeiterstatut</strong>), ins Deutsche übersetzter und kommentierter<br />

Gesetzestext, Bozen, [PDF-Dokument], verfügbar<br />

unter<br />

http://www.afiipl.org/download/2008_ArbeitnehmerInnenstatut.pdf,<br />

[14.05.2010].<br />

Fontona, Giorgio (2010): Libertà sindacale in Italia e in Europa.<br />

Dai principi ai conflitti, Working Paper 78/2010 des “Centro<br />

studi di Diritto del Lavoro Europeo Massimo D’Antona”, Università<br />

degli Studi di Catania, Catania, [PDF-Dokument], verfügbar<br />

unter<br />

http://www.lex.unict.it/eurolabor/ricerca/wp/int/fontana_n78-<br />

2010int.pdf [17.05.2010].<br />

Ghezzi, Giorgio (2002): L’attualità di una legge. Articolo 18 ma<br />

non solo, in Lo statuto dei lavoratori. Ieri e Oggi, Beilage der<br />

Zeitschrift Rassegna sindacale, 17/2010, 23-26.<br />

Napoli, Mario (2010): Lo statuto dei lavoratori ha quarant’anni,<br />

ben portati, in: Zeitschrift Lavoro e diritto, 24. Jahrgang,<br />

1/2010, 123-138.<br />

Runggaldier, Ulrich (1992): Lo Statuto e l’Europa; in: Garilli,<br />

Alessandro / Mazzamuto, Salvatore (Hg): Lo statuto dei Lavoratori,<br />

Napoli: Jovene Editore, 437-444.<br />

Riccardi, Stefania (2010): Eintrag “Diritti sindacali”, in: Wikilabour<br />

Italia, [WWW-Dokument], verfügbar unter<br />

http://www.wikilabour.it/Diritti%20sindacali.ashx,<br />

[14.05.2010]<br />

<strong>AFI</strong>-<strong>IPL</strong>: Die neue Seite auf Facebook<br />

Das <strong>AFI</strong>-<strong>IPL</strong> ist nicht nur als "Gruppe", sondern mit<br />

einer eigenen Seite auf Facebook präsent. Die Seite<br />

enthält mehr Informationen und ist multimedialer.<br />

Ganz aktuell findest Du das neue Video der <strong>AFI</strong>-<strong>IPL</strong>-<br />

Sendung Pluspunkt Sozial.<br />

Wir freuen uns, wenn Du unser Fan wirst.<br />

http://www.facebook.com/pages/<strong>AFI</strong>-<br />

<strong>IPL</strong>/111138618924412<br />

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