Wandlungen des lyrischen Bildes in der Liebeslyrik - Materialsatz
Wandlungen des lyrischen Bildes in der Liebeslyrik - Materialsatz
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Neues Schwerpunktthema <strong>der</strong> schriftlichen Abiturprüfung ab 2009<br />
»Deutsche <strong>Liebeslyrik</strong> vom Barock bis zur Gegenwart«<br />
<strong>Wandlungen</strong> <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Liebeslyrik</strong><br />
<strong>Materialsatz</strong><br />
für die regionale Fortbildungsveranstaltung<br />
im Regierungspräsidium Karlsruhe<br />
März 2008<br />
zusammengestellt von<br />
StD Gerhard Thorn<br />
Helmholtz-Gymnasium Heidelberg<br />
I n h a l t<br />
1. Fachwissenschaftliche Vorüberlegungen 2<br />
2. Lyrisches Bild – Begriffe und Konzepte 3<br />
3. <strong>Liebeslyrik</strong> im Barock 8<br />
4. <strong>Liebeslyrik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weimarer Klassik 12<br />
5. Romantische Sprachmusik – romantische<br />
Chiffre. <strong>Liebeslyrik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Romantik 16<br />
6. Me<strong>in</strong> Pferd für’n gutes Bild! <strong>Liebeslyrik</strong><br />
He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>es 19<br />
7. Bertolt Brecht: <strong>Liebeslyrik</strong> im Kontext <strong>des</strong><br />
epischen Theaters 22<br />
8. Loslösung <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong> vom realen<br />
Gegenstand im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t 24<br />
9. Literaturverzeichnis und Kurztitelliste 25<br />
10. Anhang
1 F a c h w i s s e n s c h a f t l i c h e V o r ü b e r l e g u n g e n<br />
Zweck dieses Skriptums ist zunächst, auf e<strong>in</strong>ige wichtige Inhalte im Themenfeld Deutsche<br />
<strong>Liebeslyrik</strong> seit dem Barock aufmerksam zu machen, Orientierung zu geben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schier<br />
unüberschaubaren Menge subsumierbarer germanistischer E<strong>in</strong>zelthemen, nicht jedoch e<strong>in</strong><br />
neues Lehrbuch zu verfassen o<strong>der</strong> sonst e<strong>in</strong>e umfassende Darstellung zu den betreffenden<br />
Epochen. Der thematische Fokus liegt dabei auf dem <strong>lyrischen</strong> Bild. Die verschiedenen,<br />
allesamt <strong>in</strong>teressanten, Spezialpublikationen <strong>der</strong> Verlage zum neuen Sternchenthema<br />
sollen dabei auch nicht übertroffen werden. Die Darstellung wird verschiedentlich auf diese<br />
Publikationen h<strong>in</strong>weisen und soll so die Vorbereitung <strong>in</strong>dividueller Unterrichtsreihen vere<strong>in</strong>fachen<br />
und beschleunigen, die zur Vorbereitung <strong>der</strong> Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler 1 auf die<br />
Lyrikaufgabe <strong>der</strong> Abiturprüfung taugen sollen.<br />
Bei <strong>der</strong> umfänglichen Sekundärliteratur zur Gattung Lyrik allgeme<strong>in</strong> mutet die Zahl von<br />
Publikationen, die sich dezidiert mit <strong>Liebeslyrik</strong> befassen, geradezu verschw<strong>in</strong>dend ger<strong>in</strong>g<br />
an.<br />
Was <strong>Liebeslyrik</strong> von Lyrik allgeme<strong>in</strong> unterscheide, fasst <strong>der</strong> neu erschienene<br />
„Deutschbuch“-Band »Orientierungswissen« <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Satz zusammen.<br />
<strong>Liebeslyrik</strong> zielt oft auf den gefühlhaften, seelisch-geistigen Bereich e<strong>in</strong>es Liebeserlebnisses. 2<br />
E<strong>in</strong>e genauere Spezifizierung könnte vermutlich auch ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>igermaßen umfassenden<br />
Charakter aufweisen.<br />
„Die Geschichte <strong>des</strong> deutschen Liebesgedichts ist fast identisch mit <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><br />
deutschen Lyrik, gibt es doch kaum e<strong>in</strong> Thema, das e<strong>in</strong> ähnliches Gewicht gewonnen und das<br />
so viele und verschiedene Dichter <strong>in</strong>spiriert hätte.“ 3<br />
Mit dieser, auch von an<strong>der</strong>en geäußerten Feststellung weist Hans Wagener auf e<strong>in</strong>en<br />
Umstand h<strong>in</strong>, <strong>der</strong> für das neue Sternchenthema e<strong>in</strong>en Vorzug und zugleich e<strong>in</strong> Problem<br />
anspricht. Seit die M<strong>in</strong>nelyrik nicht nur so etwas wie echte <strong>Liebeslyrik</strong> für den deutschen<br />
Sprachraum schuf, son<strong>der</strong>n zugleich, von <strong>der</strong> Literatur begleitet, <strong>der</strong> Liebesbegriff <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
höfischen Oberschicht dramatische Verän<strong>der</strong>ungen erfuhr, kennt die deutschsprachige<br />
Literatur e<strong>in</strong>e immens umfängliche Produktion von <strong>Liebeslyrik</strong>. Die Zahl <strong>der</strong> Liebesgedichte<br />
ist Legion, die Auswahl für den schulischen Zusammenhang e<strong>in</strong>es Oberstufenkurses auf<br />
e<strong>in</strong>e vernünftige Stundenzahl damit wahrhaftig e<strong>in</strong>e Qual. Sollen alle relevanten Epochen<br />
berücksichtigt werden, möglichst viele bedeutende Dichter<strong>in</strong>nen und Dichter zu Wort<br />
kommen, verschiedene poetische Schulen und Normensysteme vorgestellt werden,<br />
formale Gestaltung und ihre Kategorien an geeigneten <strong>lyrischen</strong> Texten vermittelt und<br />
analysiert werden, s<strong>in</strong>nvolle Vergleiche im S<strong>in</strong>ne <strong>des</strong> Aufgabentyps IV <strong>der</strong> schriftlichen<br />
Abiturprüfung e<strong>in</strong>geübt werden, vielleicht noch das e<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e mehr, - dann wird<br />
je<strong>der</strong> Lehrer nach e<strong>in</strong>em guten Kompromiss suchen, e<strong>in</strong>e Ideallösung existiert nicht.<br />
Und spielt nicht bei <strong>der</strong> Auswahl von Gedichten, die wir Lehrer <strong>in</strong> unseren Unterricht<br />
e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen, auch die Frage <strong>in</strong>dividueller Aff<strong>in</strong>ität e<strong>in</strong>e große Rolle? Gedichte gibt es<br />
genügend, wir haben eben auch die Freiheit <strong>der</strong> Wahl.<br />
Aus den genannten Gründen wird <strong>in</strong> dieser Arbeit ke<strong>in</strong>e feste Unterrichtse<strong>in</strong>heit konstruiert.<br />
Mehrere Vorschläge s<strong>in</strong>d Gegenstand an<strong>der</strong>er Workshops <strong>der</strong> Fortbildung zum neuen<br />
Sternchenthema o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Begleit-CD zu f<strong>in</strong>den. Zudem bieten die „Stundenblätter“, auf<br />
die noch näher e<strong>in</strong>zugehen ist, naturgemäß e<strong>in</strong>e sehr ausführliche Unterrichtse<strong>in</strong>heit zum<br />
Thema. 4<br />
1 Im Folgenden wird im Text um <strong>der</strong> e<strong>in</strong>facheren Lesbarkeit willen jeweils die maskul<strong>in</strong>e Form benutzt werden,<br />
die fem<strong>in</strong><strong>in</strong>e ist mit gedacht und geme<strong>in</strong>t.<br />
2 Deutschbuch, Orientierungswissen für Gymnasien <strong>in</strong> Baden-Württemberg. Hrsg. von Margret F<strong>in</strong>gerhut und<br />
Bernd Schurf, Berl<strong>in</strong>, Cornelsen Verlag 2008, S. 146<br />
3 Deutsche <strong>Liebeslyrik</strong>, hrsg. von Hans Wagener, Stuttgart, Reclam 1982, S. 409<br />
4 Petruschke, Adelheid: Lyrik von <strong>der</strong> Klassik bis zur Mo<strong>der</strong>ne. Stundenblätter Deutsch. Leipzig, Klett 2004<br />
2
Die Vielzahl von Gedichten, die <strong>der</strong> <strong>Liebeslyrik</strong> zugerechnet werden können, erfor<strong>der</strong>t<br />
e<strong>in</strong>en universaleren Ansatz als die bloße Auswahl von Texten. 5 E<strong>in</strong>en solchen Zugang<br />
bietet die Betrachtung <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong> und se<strong>in</strong>er Entwicklung. Wer gelernt hat,<br />
lyrische Bil<strong>der</strong> zu <strong>in</strong>terpretieren, se<strong>in</strong> Auge für diesen Aspekt von Lyrik geschult hat, verfügt<br />
über e<strong>in</strong>en Zugang, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>em Schlüssel für die Interpretation vieler Gedichte gleichkommt.<br />
Schüler, die im Unterricht <strong>der</strong> Unter- und Mittelstufe sukzessive die Interpretation lyrischer<br />
Texte erlernt und e<strong>in</strong>geübt haben, können vermittels e<strong>in</strong>er bewussten Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
mit <strong>der</strong> Bildlichkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Liebeslyrik</strong> die Qualität ihrer Interpretationsleistung zum<br />
Abiturniveau h<strong>in</strong> weiterentwickeln. Die angesichts <strong>der</strong> schieren Fülle ohneh<strong>in</strong> müßige<br />
Spekulation auf mögliche Prüfungstexte erübrigt sich damit.<br />
Selbstredend existiert nicht d a s lyrische Bild, es gibt <strong>der</strong>en etliche. Orientierung gew<strong>in</strong>nt<br />
<strong>der</strong> Leser von Lyrik durch die diachrone Betrachtung im Rahmen von Epochen. Dabei<br />
können Schüler die unterschiedliche Funktion selbst gleicher Bil<strong>der</strong> im historischen Wandel<br />
als reizvoll erfahren, ebenso wie die Frage, welchen Umgang mit Bildlichkeit Dichter zu<br />
verschiedenen Zeiten pflegten bzw. ablehnten.<br />
Die grundlegende Untersuchung <strong>der</strong> »<strong>Wandlungen</strong> <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong>« stammt von<br />
Walter Killy und ist bereits über e<strong>in</strong> halbes Jahrhun<strong>der</strong>t alt 6 . Für die 8. Auflage überarbeitet,<br />
darf dieses Standardwerk noch heute Gültigkeit beanspruchen. Übrigens beruft sich<br />
Adelheid Petruschke, die Autor<strong>in</strong> <strong>der</strong> „Stundenblätter“, explizit auf Walther Killy und baut<br />
auf se<strong>in</strong>en Thesen auf.<br />
Killys erste, e<strong>in</strong>leitende Sätze warten sogleich mit <strong>der</strong> grundlegende These auf:<br />
„Die Poesie spricht <strong>in</strong> Bil<strong>der</strong>n. Sie nennt D<strong>in</strong>ge <strong>der</strong> Welt, welche e<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres Auge durch die<br />
Kraft <strong>des</strong> Wortes aufs Neue wahrnehmen kann. Die poetischen Bil<strong>der</strong>n s<strong>in</strong>d nicht nur Natur.<br />
Die Seele ist <strong>in</strong> ihnen aufgegangen. Sie s<strong>in</strong>d nicht nur Anschauung, sie vermitteln Erkenntnis.<br />
Sie tun das von jeher auf e<strong>in</strong>e Weise, die ebenso verständlich als unergründlich ist [...]“ 7<br />
Als Lehrer fühlen wir uns hier möglicherweise schon angesprochen: enthalten doch diese<br />
Sätze implizite die Auffor<strong>der</strong>ung, die angesprochenen paradoxen Eigenschaften<br />
„Verständlichkeit“ und „Unergründlichkeit“ lyrischer Bil<strong>der</strong> zum Gegenstand <strong>der</strong> Betrachtung<br />
zu machen. Zugleich kl<strong>in</strong>gen hier schon Wesensmerkmale goethescher Bildlichkeit<br />
an, auf die noch die Rede kommen soll.<br />
2 L y r i s c h e s B i l d – B e g r i f f e u n d K o n z e p t e<br />
Bildlichkeit als zentrales Merkmal nicht nur von <strong>Liebeslyrik</strong>, son<strong>der</strong>n von Lyrik allgeme<strong>in</strong>,<br />
steht außer Frage. Wie aber diese Bildlichkeit sich ausprägt, nach welchen Kriterien sie<br />
sich gegebenenfalls ordnen lässt, wie sie sich historisch entwickelte, das s<strong>in</strong>d Fragen, über<br />
die Germanisten trefflich stritten und streiten. Im schulischen Kontext wäre e<strong>in</strong>en Entfaltung<br />
<strong>der</strong> germanistischen Debatten zu diesem Thema nicht för<strong>der</strong>lich, die Vermittlung e<strong>in</strong>iger<br />
Grundlagen wird h<strong>in</strong>reichen müssen.<br />
Für die vorbereitende Lektüre seien hier, ergänzend zum Killys »<strong>Wandlungen</strong> <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong><br />
Bil<strong>des</strong>« e<strong>in</strong>ige wenige Texte zur Orientierung genannt:<br />
5 In <strong>der</strong> Begleit-CD zur Fortbildung f<strong>in</strong>den sich e<strong>in</strong>ige Gedichte; ihre Zahl ist aber bewusst begrenzt, denn sehr<br />
viele Gedichte s<strong>in</strong>d heute im Internet verfügbar und leicht zugänglich. Dass die Korrektheit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gabe <strong>in</strong><br />
jedem Falle überprüft werden sollte, sei dennoch angemerkt. E<strong>in</strong>e hervorragende Fundgrube ist die Website<br />
<strong>des</strong> IMK (Institut für neue Medien und schulische Kommunikation), die von von den Referenten Dr. Norbert<br />
Ruske und Clemens Thamm für die Verwendung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule gepflegt und ständig weiterentwickelt wird:<br />
www.imk96.de. Weiter L<strong>in</strong>ks s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Datei „L<strong>in</strong>liste.doc“ auf <strong>der</strong> Begleit-CD zusammengefasst.<br />
6 Killy, Walther: <strong>Wandlungen</strong> <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong>. Gött<strong>in</strong>gen, Vandenhoeck & Ruprecht 1956<br />
7 a.a.O., S. 5<br />
3
1. Ivo Braaks Standardwerk »Poetik <strong>in</strong> Stichworten« 8 erfreut sich seit se<strong>in</strong>em ersten<br />
Ersche<strong>in</strong>en 1969 unter Germanisten großer Beliebtheit, wenn es um def<strong>in</strong>itorische<br />
Fragen geht. Das 9. Kapitel, „Bil<strong>der</strong>“, gibt e<strong>in</strong>en diachron angelegten Überblick über die<br />
wichtigsten Begriffe.<br />
2. Der Jenaer Germanist Dieter Burdorf befasst sich im 4. Kapitel se<strong>in</strong>er »E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong><br />
die Gedichtanalyse« mit „Wort, Bild und Bedeutung im Gedicht“. 9<br />
3. Zu erwähnen ist hier auch die Darstellung Adelheid Petruschkes im Band »Lyrik von<br />
<strong>der</strong> Klassik bis zur Mo<strong>der</strong>ne« <strong>der</strong> Reihe »Stundenblätter«. 10<br />
Braak zeigt die Tradition <strong>der</strong> Bildlichkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lyrik seit <strong>der</strong> Antike auf. Das folgende<br />
Schaubild setzt Hauptbegriffe zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> Beziehung.<br />
E r l ä u t e r u n g e n<br />
Tropik: In <strong>der</strong> antiken Stilistik ist<br />
mit T. jede bildliche Ausdrucksweise<br />
geme<strong>in</strong>t, die Verwandlung<br />
<strong>der</strong> Vorstellung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Bild;<br />
Akyrologie: uneigentliches<br />
Sprechen, late<strong>in</strong>ische Entsprechung:<br />
Impropria dictio, bildliche,<br />
verblümte, uneigentliche Rede;<br />
Antonomasie: Abart <strong>der</strong> Synekdoche,<br />
griech. antonomaze<strong>in</strong> –<br />
an<strong>der</strong>s benennen: e<strong>in</strong> Eigenname<br />
steht für e<strong>in</strong>en Gattungsnamen.<br />
„Mentor“ hieß z.B. <strong>der</strong> Erzieher <strong>des</strong><br />
Telemach, <strong>der</strong> Name trägt die<br />
Bedeutung Betreuer.<br />
Hypallage: sche<strong>in</strong>bare Vertauschung<br />
e<strong>in</strong>zelner Bestandteile<br />
e<strong>in</strong>es Satzes, beson<strong>der</strong>s von Adjektiven,<br />
zur Hervorhebung <strong>des</strong><br />
Beson<strong>der</strong>en.<br />
Topik: nach Ernst Robert Curtius<br />
e<strong>in</strong>, zumeist aus <strong>der</strong> Antike überkommenes,<br />
<strong>in</strong>haltliches Motiv, das<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> literarischen Tradition fortlebt.<br />
Der Topos als literarische<br />
Formel ist zu unterscheiden vom<br />
Klischee und von <strong>der</strong> rhetorischen<br />
Floskel<br />
Während die Herkunft <strong>des</strong> Begriffs<strong>in</strong>ventars und <strong>der</strong> def<strong>in</strong>itorischen Grundlagen aus <strong>der</strong><br />
Antike unstrittig ist, merkt Dieter Burdorf mit Blick auf heutige Verwendungszusammenhänge<br />
kritisch die völlige Verschiedenheit <strong>der</strong> Weltbil<strong>der</strong> an, die für den kommunikativen<br />
Gebrauch <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> Folgen hat:<br />
Die Herkunft <strong>der</strong> [...] Begriffe aus <strong>der</strong> antiken Rhetorik und Poetik br<strong>in</strong>gt allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong><br />
„Problem mit sich, das dem <strong>der</strong> heutigen Verwendung metrischer Grundbegriffe analog ist:<br />
Die Begriffe entstammen dem Horizont e<strong>in</strong>es geschlossenen Weltbil<strong>des</strong>, das jedem D<strong>in</strong>g<br />
e<strong>in</strong>en festen Ort zuwies und die Sprache als adäquate Abbildung dieses geordneten Zustan<strong>des</strong><br />
ansah.“ 11<br />
Nicht alle <strong>in</strong> Braaks Übersicht aufgeführten Begriffe s<strong>in</strong>d für den Zusammenhang <strong>des</strong><br />
Sternchenthemas <strong>Liebeslyrik</strong> bedeutsam. Was dieses Schaubild jedoch verdeutlicht, ist<br />
8 Braak, Ivo: Poetik <strong>in</strong> Stichworten. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung. 8. überarbeitete<br />
und erweiterte Auflage, Hrsg.: Neubauer, Mart<strong>in</strong>, Unterägeri, Hirt 2007<br />
9 Burdorf, Dieter: E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Gedichtanalyse. 2. aktual. u. überarb. Aufl., Stuttgart 1997, S. 135 - 162<br />
10 Petruschke 2004, S. 6f<br />
11 Burdorf 1997, S. 143<br />
4
e<strong>in</strong>e kategoriale Trennung zwischen Bild im engeren S<strong>in</strong>ne <strong>in</strong> Abgrenzung zu Metapher<br />
und Metonymie.<br />
Petruschke nimmt e<strong>in</strong>e ähnliche Unterscheidung vor, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Punkt von dieser<br />
unterscheidet. Im Teilkapitel „Der Begriff <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong>“ unterscheidet sie<br />
konzeptionell zwischen dem <strong>lyrischen</strong> Bild im engeren S<strong>in</strong>n und Metapher und Vergleich.<br />
Begründet ist dies durch die „[...] Zweigliedrigkeit, die beim Vergleich ausgesprochen wird<br />
und bei <strong>der</strong> Metapher noch <strong>in</strong>direkt vorhanden ist [...]“. 12<br />
„Im <strong>lyrischen</strong> Bild dagegen s<strong>in</strong>d die Bereiche <strong>des</strong> S<strong>in</strong>nlich-Fassbaren und <strong>des</strong> Gedanklichen<br />
zu e<strong>in</strong>er untrennbaren E<strong>in</strong>heit verschmolzen. Bil<strong>der</strong> rufen im Leser o<strong>der</strong> Hörer Vorstellungen<br />
von bestimmten Naturgegenständen o<strong>der</strong> Weltd<strong>in</strong>gen wach. Ihre Wirkung geht aber über das<br />
bloße Anschaulichmachen h<strong>in</strong>aus; sie sprechen das Gefühl <strong>des</strong> Lesers unmittelbar an und<br />
vermitteln ihm e<strong>in</strong>e seelische Erfahrung.“ 13<br />
Das lyrische Bild hat also e<strong>in</strong>e komplexere Qualität, die sich meist nicht auf e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache<br />
Entsprechung reduzieren lässt. Es kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kurzen Abschnitt e<strong>in</strong>es Gedichtes ebenso<br />
gestaltet se<strong>in</strong>, wie es sich auf e<strong>in</strong> Gedicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Gesamtheit erstrecken kann.<br />
Unter die „Ausformungen <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong>“ subsummiert Petruschke: 14<br />
Emblem<br />
Allegorie<br />
Symbol<br />
lyrisches Paradox<br />
evokatives Äquivalent,<br />
absolute Metapher<br />
Bei dieser beson<strong>der</strong>s im Barock gebräuchlichen Komb<strong>in</strong>ation<br />
aus Bild und Text wird <strong>der</strong> Bild<strong>in</strong>halt durch den Text erklärt.<br />
Es besteht e<strong>in</strong>e didaktische Intention. 15<br />
E<strong>in</strong> abstrakter Begriff, wie z.B. Weisheit, Gerechtigkeit, o<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong> Sachverhalt wird durch e<strong>in</strong> Bild veranschaulicht. Auch hier<br />
besteht e<strong>in</strong>e didaktische Intention. In se<strong>in</strong>er Verweisungsfunktion<br />
bleibt das Bild vom dargestellten Sachverhalt<br />
getrennt.<br />
Das S. – beson<strong>der</strong>s im goetheschen S<strong>in</strong>n - stellt dem Leser<br />
e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>en, s<strong>in</strong>nlich anschaulichen Gegenstand vor.<br />
Es vertritt den Gegenstand; Bild und Begriff fallen zusammen.<br />
Das S. weist über den Gegenstand h<strong>in</strong>aus auf e<strong>in</strong>e Idee,<br />
etwas Allgeme<strong>in</strong>es h<strong>in</strong>. Die Übertragung vollzieht <strong>der</strong> Leser,<br />
bewusst o<strong>der</strong> unbewusst.<br />
Bei dieser Art Bild werden zwei <strong>in</strong>haltlich unvere<strong>in</strong>bare,<br />
Elemente <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em paradoxen Zusammenhang verbunden.<br />
Beispiele f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Gedichten, etwa bei<br />
Bachmann und Celan.<br />
Wenn <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Gedichten seit Benn mit Formulierungen<br />
etwas an<strong>der</strong>es geme<strong>in</strong>t ist, als gesagt wird, übersteigt dies<br />
die Qualität <strong>der</strong> Metapher. He<strong>in</strong>z Otto Burger prägte den<br />
Begriff evokatives Äquivalent mit Bezug zur Lyrik Höl<strong>der</strong>l<strong>in</strong>s:<br />
„Das evokative Äquivalent im mo<strong>der</strong>nen Gedicht ist die<br />
folgerichtige Weiterbildung <strong>des</strong> adäquaten Symbols im<br />
klassischen.“ 16<br />
E<strong>in</strong> für den Unterricht konzipiertes Arbeitsblatt „Formen poetischer Bil<strong>der</strong>“ f<strong>in</strong>det sich im<br />
Anhang.<br />
12 Petruschke 2004, S. 6<br />
13 a.a.O., S. 7<br />
14 a.a.O.<br />
15 Siehe auch S. 10 f dieser Arbeit.<br />
16 Von <strong>der</strong> Strukture<strong>in</strong>heit klassischer und mo<strong>der</strong>ner deutscher Lyrik" (1959), <strong>in</strong>: R. Grimm (Hrsg.), Zur<br />
Lyrikdiskussion, Wege <strong>der</strong> Forschung CXI, Darmstadt 1966, S. 268; zit. nach Petruschke 2004, S. 6<br />
5
Formen poetischer Bil<strong>der</strong><br />
Liste von Stilmitteln und rhetorischen Figuren 17<br />
Lyrisches-Bild.pdf<br />
Stilmittel.doc<br />
Die Def<strong>in</strong>itionen, die Dieter Burdorf gibt, stellen sich <strong>in</strong> Kurzform so dar: 18<br />
Allegorie<br />
Symbol<br />
Vergleich<br />
Personifikation<br />
E<strong>in</strong> Text enthält m<strong>in</strong><strong>des</strong>ten zwei vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> abhebbare Bedeutungsschichten,<br />
e<strong>in</strong>e wörtliche und e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e, allegorische Bedeutung. Letztere erschließt sich<br />
durch allegorisches Lesen, die Allegorese, das hermeneutische Verfahren zur<br />
Erschließung <strong>der</strong> tiefern Bedeutungsschicht.<br />
Narrative A.: Auf <strong>der</strong> wörtlichen Ebene werden Geschehnisse o<strong>der</strong> Handlungen<br />
erzählt.<br />
Deskriptive A.: Es werden vorrangig Situationen o<strong>der</strong> Räume entworfen.<br />
Narrative und <strong>des</strong>kriptive A. können sich <strong>in</strong> zwei Varianten ausprägen:<br />
Implikative A: Text<strong>in</strong>terne Indizien, die nicht e<strong>in</strong>deutig verifizierbar s<strong>in</strong>d, weisen<br />
auf allegorische Bedeutung h<strong>in</strong> Ä Rätselcharakter. (nach Rhetorik Qu<strong>in</strong>tilians die<br />
re<strong>in</strong>e Form <strong>der</strong> A.)<br />
Explikative A.: Die allegorische Bedeutung wird im Text o<strong>der</strong> Titel angegeben.<br />
Symbol bei Goethe (siehe oben, S. 5) und heutige Kritik <strong>des</strong>selben.<br />
Das S. ist e<strong>in</strong> Bestandteil <strong>der</strong> im literarischen Text entworfenen Wirklichkeit,<br />
<strong>des</strong>sen Bedeutung über das Beschriebene o<strong>der</strong> Erzählte h<strong>in</strong>ausweist, e<strong>in</strong>e<br />
lebensweltliche, psychische und moralische Bedeutsamkeit. Das S. muss, an<strong>der</strong>s<br />
als die Allegorie, nicht e<strong>in</strong>en gesamten (Teil-)Text umfassen, son<strong>der</strong>n kann sich auf<br />
e<strong>in</strong>zelne, bedeutungsvolle Stellen beschränken.<br />
E<strong>in</strong> S. kann mehrfach wie<strong>der</strong>kehren und als Leitmotiv fungieren.<br />
Mit symbolischer Bedeutung aufgeladen werden können:<br />
ÅÇ D<strong>in</strong>ge, Lebewesen, raum-zeitliche Umstände, z.B. Landschaften, Uhrzeiten,<br />
Wetter,<br />
ÅÉ Naturgegenstände, z.B. Blumen, chemische Elemente, Edelmetalle (vgl. Gold<br />
und Silber im Märchen und Volkslied).<br />
E<strong>in</strong>ige konventionelle Symbole:<br />
ÅÑ Rose – Liebe und Tod,<br />
ÅÖ Blätter – Herbst<br />
ÅÜ Trompeten - ... <strong>des</strong> jüngsten Gerichts<br />
Åá Reiter – Apokalyptische Reiter<br />
Der V. ist die Grundform bildlicher Rede. Der V. mit etwas an<strong>der</strong>em soll<br />
veranschaulichen, prägnanter machen, bewerten.<br />
E<strong>in</strong> V. ist nur möglich zwischen zwei nicht identischen Sachverhalten, denen<br />
m<strong>in</strong><strong>des</strong>ten e<strong>in</strong>e Eigenschaft geme<strong>in</strong> ist, das tertium comparationis.<br />
Der V. ist formal an Vergleichspartikeln, z.B. wie erkennbar.<br />
Wird e<strong>in</strong>e nicht-menschliche Ersche<strong>in</strong>ung o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> abstrakter Begriff <strong>in</strong><br />
menschlicher Gestalt o<strong>der</strong> auch nur mit menschlichen Eigenschaften dargestellt,<br />
spricht man von Personifikation.<br />
Als e<strong>in</strong>zelner bildhafter Ausdruck ist die P. e<strong>in</strong>e Form <strong>der</strong> Metapher o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Metonymie.<br />
Formelhaft gewordene P.n bilden z.B. die Namen antiker Götter zur<br />
Personifikationen von Eigenschaften, z.B. Zauber <strong>der</strong> Venus.<br />
Verblasste Personifikationen s<strong>in</strong>d leicht zu übersehen, z.B. bl<strong>in</strong><strong>der</strong> Zufall<br />
17 E<strong>in</strong>e ähnliche Liste ist enthalten <strong>in</strong> Texte, Themen und Strukturen. Deutschbuch für die Oberstufe. Neue<br />
Ausg. B, Berl<strong>in</strong>, Cornelsen, 2001, S. 225 ff<br />
18 Die Darstellung <strong>in</strong> dieser Tabelle ist auf zentrale Punkte reduziert. Wortlaut wird teils zitiert und um <strong>der</strong><br />
Übersichtlichkeit willen nicht eigens ausgewiesen. Vgl. auch Fußnote 9.<br />
6
Metapher 19<br />
Bei Qu<strong>in</strong>tilian: Die M. ist e<strong>in</strong> um das Vergleichpartikel gekürzter Vergleich.<br />
Mo<strong>der</strong>ne Def<strong>in</strong>itionen betonen nicht mehr die – im Vergleich selbständigen – zwei<br />
Sachverhalte, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>en Verschmelzung zu e<strong>in</strong>er neuen semantischen<br />
E<strong>in</strong>heit.<br />
Metaphorischer Wortgebrauch weicht punktuell ab vom dom<strong>in</strong>anten, prototypischen<br />
Gebrauch e<strong>in</strong>es Wortes, <strong>der</strong> Standardbedeutung. (Kunz)<br />
Modell Harald We<strong>in</strong>richs: Bildspen<strong>der</strong>, d.i. <strong>der</strong> von außen kommende Bestandteil<br />
<strong>der</strong> M., und Bildempfänger, d.i. das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedeutung modifizierte Wort, das<br />
auch ganz verdrängt werden kann.<br />
Bsp.: „Meer <strong>der</strong> Vergessenheit“ (Goethe)<br />
Metonymie und<br />
Synekdoche<br />
Bildspen<strong>der</strong><br />
Bildempfänger<br />
E<strong>in</strong>ige formale Varianten <strong>der</strong> Gestaltung von Metaphern im S<strong>in</strong>ne We<strong>in</strong>richs:<br />
Åà<br />
Åâ<br />
Åä<br />
Åã<br />
Åå<br />
Åç<br />
Prädikation: Hans ist e<strong>in</strong> Esel.<br />
Verb<strong>in</strong>dung von Substantiv und Verb: Der Wagen läuft gut.<br />
Verb<strong>in</strong>dung von Substantiv und Adjektiv: das gewitternde Ohr (Celan),<br />
Verb<strong>in</strong>dung von zwei Substantiven <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Apposition: Me<strong>in</strong>e Seele, e<strong>in</strong><br />
Saitenspiel (Nietzsche),<br />
Verb<strong>in</strong>dung von zwei Substantiven durch Genitiv-Attribut: <strong>der</strong> zarte Rücken <strong>der</strong><br />
Wolken (Bachmann)<br />
Verb<strong>in</strong>dung von zwei Substantiven als Kompositum: Flie<strong>der</strong>hauch (Droste-<br />
Hülshoff)<br />
Die kühne Metapher stellt beson<strong>der</strong>s ungewöhnliche Verb<strong>in</strong>dungen her. Sie kann<br />
als Oxymoron auftreten, als Verknüpfung sich semantisch wi<strong>der</strong>sprechen<strong>der</strong><br />
Begriffe, z.B. Des dunkeln Lichtes voll (Höl<strong>der</strong>l<strong>in</strong>).<br />
Die Synästhesie verknüpft verschiedene S<strong>in</strong>nesbereiche, z.B. <strong>der</strong> Töne Licht<br />
(Brentano).<br />
In <strong>der</strong> neueren Poetik wird die Synekdoche <strong>der</strong> Metonymie zugerechnet und nicht<br />
mehr unterschieden.<br />
Unterscheidung <strong>in</strong> traditioneller Rhetorik:<br />
Metonymie: Die Wirkung steht für die Ursache o<strong>der</strong> umgekehrt. E<strong>in</strong>ige Beispiele:<br />
Åé<br />
Åè<br />
Åê<br />
Der Autor steht für das Werk: Kafka lesen;<br />
Das Gefäß steht für den Inhalt: e<strong>in</strong> Glas tr<strong>in</strong>ken;<br />
Zeit- und Raumangaben stehen für Personen: Berl<strong>in</strong> im Freudentaumel.<br />
Synekdoche: Die Wortbedeutung erfährt e<strong>in</strong>e quantitative Veschiebung,<br />
Verengung o<strong>der</strong> Erweiterung. E<strong>in</strong>ige Beispiele:<br />
Åë<br />
Åí<br />
Åì<br />
E<strong>in</strong> Teil steht für das Ganze, „pars pro toto“: drei Sommer waren <strong>in</strong>s Land<br />
gegangen (für drei Jahre).<br />
o<strong>der</strong> umgekehrt: Ich esse ke<strong>in</strong> Schwe<strong>in</strong>. (ke<strong>in</strong> Schwe<strong>in</strong>efleisch)<br />
Der Rohstoff steht für das Produkt: <strong>in</strong> Seide auftreten (<strong>in</strong> Klei<strong>der</strong>n aus Seide).<br />
19 Die komplexe und weit ausdifferenzierte Darstellung Burdorfs zum Stichwort Metapher kann hier nur<br />
auszugsweise wie<strong>der</strong>gegeben werden.<br />
7
3 L i e b e s l y r i k i m B a r o c k<br />
Vorläufer<br />
Die Barocklyrik, wie auch – <strong>in</strong> unterschiedlicher Häufigkeit - dichterische Produktion<br />
späterer Epochen, ja, bis heute, orientiert sich an <strong>der</strong> Lyrik Francesco Petrarcas (1304 –<br />
1374).<br />
Lexikonartikel zum Leben Petrarcas<br />
Zwei Darstellungen zum Petrarkismus<br />
Petrarca-Vita.doc<br />
Petrarkismus.doc<br />
Petrarkismus_Killy.doc<br />
Vanitas<br />
Die verheerende Erfahrung <strong>des</strong> Dreißigjährigen Krieges, <strong>der</strong> Tod und Zerstörung <strong>in</strong> bis<br />
dah<strong>in</strong> ungekanntem Ausmaß über Deutschland brachte, das Land politisch atomisierte und<br />
für lange Zeit von <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> europäischen Nachbarstaaten abkoppelte, dieser<br />
Krieg, von <strong>des</strong>sen Gräueln Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen mit se<strong>in</strong>em Roman<br />
„Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“ literarisch Zeugnis ablegte, bildet den Erfahrungsh<strong>in</strong>tergrund<br />
<strong>der</strong> Menschen <strong>des</strong> Barock. Das Motiv <strong>der</strong> Vergänglichkeit – vanitas –<br />
bestimmt das literarische Schaffen <strong>der</strong> Dichter dieser Epoche.<br />
Gesellschaftliche Funktion <strong>der</strong> Barockdichtung<br />
Bei alledem sei die gesellschaftliche Stellung <strong>der</strong> meisten Dichter nicht vergessen;<br />
Gryphius, Opitz, Flem<strong>in</strong>g und an<strong>der</strong>e waren gebildete Bürger, als Beamte <strong>in</strong> Diensten <strong>der</strong><br />
neu entstandenen Kle<strong>in</strong>staaten. Barockdichtung ist Repräsentationskunst im Kontext absolutistischer<br />
Höfe.<br />
„[Die] Gedichte zu den unterschiedlichsten Anlässen waren gesellschaftlich e<strong>in</strong>gebunden,<br />
dienten <strong>der</strong> Verschönerung von Hochzeiten, Amtse<strong>in</strong>setzungen, Jubiläen, feierten Personen,<br />
die Liebe, das gesellige Tr<strong>in</strong>ken, verspotteten die kle<strong>in</strong>en Mängel <strong>der</strong> Zeitgenossen, bissen<br />
satirisch nach den schädlichen Auswüchsen menschlichen Fehlverhaltens. Diese Dichtung<br />
erstrebte die Schönheit durch die vollendete Form <strong>in</strong> Wortwahl, Metrum, Reim und<br />
ausdrucksstarker Bildkraft; und sie war öffentlich!“ 20<br />
Barockdichtung unterliegt strengen formalen Regeln und ist <strong>in</strong> hierarchische Gattungen<br />
unterschiedlichen Stils geordnet: hoher, mittlerer, nie<strong>der</strong>er Stil.<br />
„Als Beispiel seien die Gedichte genommen, die wir heute als "<strong>Liebeslyrik</strong>" bezeichnen. Im<br />
Barock gab es e<strong>in</strong>e solche Dichtungsart nicht, son<strong>der</strong>n drei klar getrennte Gattungen: die hohe<br />
<strong>Liebeslyrik</strong>, die erotische Dichtung <strong>des</strong> mittleren Stils und die obszöne Dichtung <strong>des</strong> nie<strong>der</strong>en<br />
Stils. In <strong>der</strong> hohen <strong>Liebeslyrik</strong> preist das lyrische Ich die Schönheit und Tugend e<strong>in</strong>er<br />
Geliebten. Diese ist für das lyrische Ich unerreichbar, weshalb die Grundstimmung eher<br />
elegisch, traurig ist. Dabei werden die charakterlichen Eigenschaften und die Körperteile <strong>der</strong><br />
Dame bis e<strong>in</strong>schließlich zum Busen mittels Vergleichen und Bil<strong>der</strong>n geschil<strong>der</strong>t. Die mittlere<br />
<strong>Liebeslyrik</strong> preist die s<strong>in</strong>nlich, erotische Liebe; das lyrische Ich versucht die nahe Geliebte<br />
zum körperlich-sexuellen Kontakt zu überreden. Dabei dienen zweideutige Naturbil<strong>der</strong> dazu,<br />
die e<strong>in</strong>schlägigen Körperteile und Aktionen zu umschreiben. Der Grundton dieser Dichtung<br />
ist scherzhaft, heiter. In <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>en Liebesdichtung werden vorwiegend pervers-sexuelle<br />
Vorgänge sehr direkt, drastisch dargestellt. Die Form <strong>der</strong> hohen Liebesdichtung ist das<br />
Sonett. Mittlere und nie<strong>der</strong>e Liebesdichtung kann <strong>in</strong> verschiedenen Formen vorkommen,<br />
allerd<strong>in</strong>gs nicht im Sonett.“ 21<br />
20 L<strong>in</strong>denhahn: Barock, S. 8<br />
21 Wolfgang Pohl: Barock. URL: http://www.pohlw.de/literatur/epochen/barock.htm<br />
8
Die von Mart<strong>in</strong> Opitz verfasste Poetik „Buch von <strong>der</strong> deutschen Poeterey“ normierte die<br />
Dichtkunst formal und wirkte nachhaltig auf die Entwicklung <strong>der</strong> deutschen Literatursprache.<br />
Beson<strong>der</strong>s im vierten Kapitel f<strong>in</strong>den sich Passagen, die als Quellentexte von<br />
Schülern bearbeitet werden können, die vor <strong>der</strong> sprachlichen Fremdheit dieses Textes<br />
nicht zurückschrecken.<br />
Mart<strong>in</strong> Opitz: »Buch von <strong>der</strong> deutschen Poeterey«<br />
E<strong>in</strong> Übersichtstext zum Sonett von Walther Killy<br />
Opitz_Deutsche-Poeterey.doc<br />
Sonett_Killy.doc<br />
Christian Hofmann von Hofmannswaldau (1617 – 1679),<br />
Vergänglichkeit <strong>der</strong> schönheit 22<br />
Es wird <strong>der</strong> bleiche tod mit se<strong>in</strong>er kalten hand<br />
Dir endlich mit <strong>der</strong> zeit umb de<strong>in</strong>e brüste streichen/<br />
Der liebliche corall <strong>der</strong> lippen wird verbleichen;<br />
Der schultern warmer schnee wird werden kalter sand /<br />
Der augen süsser blitz / die kräffte de<strong>in</strong>er hand/<br />
Für welchen solches fällt/ die werden zeitlich weichen/<br />
Das haar/ das itzund kan <strong>des</strong> gol<strong>des</strong> glantz erreichen/<br />
Tilgt endlich tag und jahr als e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>es band.<br />
Der wohlgesetzte fuß/ die lieblichen gebärden/<br />
Die werden theils zu staub / theils nichts und nichtig werden/<br />
Denn opfert ke<strong>in</strong>er mehr <strong>der</strong> gottheit de<strong>in</strong>er pracht.<br />
Diß und noch mehr als diß muß endlich untergehen /<br />
De<strong>in</strong> hertze kan alle<strong>in</strong> zu aller zeit bestehen/<br />
Dieweil es die natur aus diamant gemacht.<br />
Bei diesem Gedicht lässt sich sehr direkt die Verbildlichung vorwiegend körperlicher Merkmale<br />
<strong>der</strong> geliebten Frau nachvollziehen, <strong>in</strong>dem Gegenstand und Metapher o<strong>der</strong> Bild beide<br />
genannt werden. Wiewohl die dichterische Imag<strong>in</strong>ation sich auf e<strong>in</strong>e konkrete Person<br />
beziehen mag, im Gedicht ist ke<strong>in</strong> Individuum bezeichnet, son<strong>der</strong>n wird die Vergänglichkeit<br />
physischer Schönheit am Beispiel e<strong>in</strong>es Frauenkörpers als Typus dargestellt; und genau<br />
dies kündigt <strong>der</strong> Titel <strong>des</strong> Gedichts an. Regelhaft, durchaus mit didaktischer Intention,<br />
entfaltet Hofmannswaldau am ästhetischen Bild <strong>des</strong> menschlichen Körpers die Idee <strong>der</strong><br />
universalen Vergänglichkeit.<br />
Die im Text grafisch<br />
hervorgehobenen<br />
Begriffe<br />
s<strong>in</strong>d hier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Tabelle gegenübergestellt.<br />
Objekt jetzt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zukunft<br />
Tod<br />
bleich<br />
Brüste<br />
9<br />
von <strong>der</strong> kalten Hand <strong>des</strong><br />
To<strong>des</strong> berührt<br />
Lippen Korall verbleichen<br />
Schultern warmer Schnee, kalter Sand<br />
Augen süßer Blitz weichen<br />
Hand<br />
Kräfte weichen<br />
Haar goldener Glanz wird getilgt<br />
Tag und Jahr<br />
geme<strong>in</strong>es Band<br />
Fuß wohlgesetzt Staub<br />
Gebärden lieblich nichts und nichtig<br />
Pracht Gottheit, Opfer untergehen<br />
Herz Diamant beständig<br />
22 Hoffmannswaldau: Gedichte aus Neukirchs Anthologie, Bd. 1. DB Son<strong>der</strong>band: Die digitale Bibliothek <strong>der</strong><br />
deutschen Lyrik, S. 34289
M em e nt o m or i und c ar p e d ie m<br />
Als e<strong>in</strong> ganz typisches Motiv <strong>der</strong> barocken Lyrik tritt<br />
hier <strong>der</strong> Gegensatz auf. Die große Mahnung,<br />
memento mori, - ‚Gedenke, dass du sterben wirst’. -<br />
stellt Hofmannswaldau dem Leser <strong>in</strong> plastischen<br />
Bil<strong>der</strong>n vor Augen, wie denn die E<strong>in</strong>träge <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Tabelle auf Seite 10 fast durchweg Bildcharakter aufweisen<br />
und nur vere<strong>in</strong>zelt e<strong>in</strong> Phänomen konkret<br />
bezeichnet wird.<br />
L<strong>in</strong>denhahn/Neugebauer stellen dem obigen das<br />
carpe diem<br />
memento mori<br />
Gedicht „Ach Liebste/laß uns eilen“ von Mart<strong>in</strong> Opitz<br />
Erotik, Wollust<br />
Tugend, Askese<br />
gegenüber 23 , das wie jenes die Vergänglichkeit<br />
körperlicher Schönheit im S<strong>in</strong>ne <strong>des</strong> memento mori<br />
illustriert, dagegen aber auch das carpe diem<br />
Wohlstand<br />
Gesundheit<br />
Armut<br />
Krankheit<br />
postuliert <strong>in</strong> <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung, die schon im Titel zum Ausdruck kommt: es gilt, die Zeit zu<br />
nutzen, bevor Vergänglichkeit die Schönheit tilgt.<br />
Das antithetische gedankliche Grundpr<strong>in</strong>zip barocker Dichtung, die Allgegenwart <strong>des</strong><br />
unaufgelösten und nicht auflösbaren Gegensatzes, das Lebensgefühl, welches sich<br />
aufspannt zwischen <strong>der</strong> seit dem Mittelalter überkommenen Idee <strong>des</strong> e<strong>in</strong>e feste Weltordnung<br />
symbolisierenden und for<strong>der</strong>nden Gottes hie und <strong>der</strong> chaotischen Lebenserfahrung<br />
da, prägt auch die <strong>Liebeslyrik</strong> <strong>der</strong> Zeit.<br />
Um den Gegensatz zu gestalten, griffen die Dichter zu bildhaften Stilmitteln, wie Metapher,<br />
Allegorie, Emblem.<br />
Emblematik<br />
Das Emblem als s<strong>in</strong>nbildliche Darstellung entstammt <strong>der</strong> antiken Stilistik.<br />
Embleme s<strong>in</strong>d dreiteilige Kunstwerke mit folgenden Bestandteilen:<br />
1. Motto, auch Inscriptio,<br />
Lemma<br />
2. Pictura, auch Icon o<strong>der</strong><br />
Imago<br />
e<strong>in</strong>e sentenzenhafte Überschrift, oft late<strong>in</strong>isch o<strong>der</strong><br />
griechisch<br />
e<strong>in</strong> Bild, e<strong>in</strong>e Allegorie<br />
Antithetische Motive <strong>der</strong><br />
Barockdichtung<br />
Diesseits<br />
Ewigkeit<br />
Sche<strong>in</strong><br />
Spiel<br />
Lebensgier<br />
Aufbau<br />
Blüte<br />
3. Subscriptio e<strong>in</strong> den Bild<strong>in</strong>halt deuten<strong>der</strong> Text, meist <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es<br />
Epigramms<br />
Jenseits<br />
Zeit<br />
Se<strong>in</strong><br />
Ernst<br />
To<strong>des</strong>bewußtse<strong>in</strong><br />
Zerstörung<br />
Verfall<br />
Entsprechend <strong>der</strong> antiken Abkunft <strong>der</strong> Form, entstammen auch die Inhalte von Emblemen<br />
häufig <strong>der</strong> antiken Mythologie. Bild und Text vermitteln die Botschaft e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong><br />
gültigen Gedankens, <strong>der</strong> als zeitlos begriffen wird, e<strong>in</strong>e möglicherweise religiöse,<br />
philosophische o<strong>der</strong> auch normative Aussage.<br />
Das Wichtigste aber: Im Emblem drückt sich etwas grundlegend Barockes aus: Nicht das<br />
Individuelle, das Private, das persönlich Erfahrene und Empfundene ist wichtig; es wird<br />
vielmehr e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e überpersönliche Ordnung. Die Analogie, das<br />
Gleichgesetzte, wird so zur ‚Signatur e<strong>in</strong>er ordnenden Macht’, d.h. zu ‚Bekundungen Gottes,<br />
<strong>der</strong> die Welt im emblematischen Kosmos geschaffen hatte’ (Albrecht Schöne). 24<br />
Emblematik f<strong>in</strong>det sich nicht alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Komb<strong>in</strong>ation aus Text und Bild, wie sie <strong>in</strong><br />
Emblembüchern überliefert ist 25 . Auch Gedichte wurden nach <strong>der</strong> Struktur Motto, Pictura,<br />
23 L<strong>in</strong>denhahn/Neugebuer 2007, S. 17<br />
24 L<strong>in</strong>denhahn: Barock, S. 9<br />
25 Als älteste Sammlung gilt das "Emblematum liber" <strong>des</strong> Andrea Aleiati (Augsburg, 1532).<br />
10
Subscriptio organisiert, wobei <strong>der</strong> Bild<strong>in</strong>halt sprachlich repräsentiert ist. Auf die reiche und<br />
opulente Bildwelt barocker Malerei sei hier nur ergänzend h<strong>in</strong>gewiesen.<br />
E<strong>in</strong> Beispiel für die dichterische Manifestation <strong>des</strong> Inhaltes e<strong>in</strong>es Emblems stellt das<br />
folgende Gedicht dar, das den Frühl<strong>in</strong>g mit dem Bild <strong>des</strong> mythischen Vogel Phoenix<br />
darstellt. Das tertium comparationis besteht im Kreislauf aus Erneuerung und Vergehen.<br />
Daneben feiert die fromme protestantische Dichter<strong>in</strong> den Frühl<strong>in</strong>g auch als die Jahreszeit<br />
<strong>der</strong> Liebe. (V. 10) 26<br />
Cathar<strong>in</strong>a Reg<strong>in</strong>a von Greiffenberg<br />
Gott-lobende Frühl<strong>in</strong>gs-Lust<br />
5<br />
10<br />
Frühl<strong>in</strong>g, e<strong>in</strong> Vorbild vom ewigen Leben,<br />
Spiegel <strong>der</strong> Jugend, <strong>der</strong> Freuden Gezelt,<br />
Jährlich-verjüngeter Phönix <strong>der</strong> Welt,<br />
Atem <strong>der</strong> Musen, <strong>der</strong> Huld<strong>in</strong>nen Weben,<br />
Wonne, so alle Ergetzung kann geben,<br />
Goldschmied <strong>der</strong> Wiesen und Maler im Feld,<br />
Kle<strong>in</strong>od, das niemand erkaufet mit Geld,<br />
Frischer <strong>der</strong> vieler Herz-frischenden Reben!<br />
Sei mir willkommen, ausländischer Gast,<br />
Freuden-Freund, Glückes-Wirt, Diener <strong>der</strong> Liebe!<br />
Sei nur mit Blumen und Blättern gefaßt,<br />
De<strong>in</strong> Hieherkunft nicht länger verschiebe!<br />
Alle verlangbare Schätze du hast.<br />
Dir ich die Krone <strong>der</strong> Lieblichkeit gibe.<br />
Der Tod bedeutet für mich Leben<br />
Der Vogel, <strong>der</strong> aus sich selbst geboren wird, aus sich selbst sich<br />
wie<strong>der</strong>herstellt, <strong>der</strong> entstehend stirbt, <strong>der</strong> sterbend entsteht<br />
Zum Vergleich bieten sich zwei Gedichte an, die das Motiv <strong>des</strong> Kusses geme<strong>in</strong> haben:<br />
Paul Flem<strong>in</strong>g: Wie er wolle geküsset seyn 27 und<br />
Karol<strong>in</strong>e von Gün<strong>der</strong>ode: Der Kuss im Träume 28<br />
Flem<strong>in</strong>gs verschmitzte erotische Lektion, die den studierten Mediz<strong>in</strong>er nicht ganz<br />
verbergen kann, die zugleich – ganz barock – ke<strong>in</strong>erlei H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>e konkrete Person<br />
enthält, steht <strong>in</strong> scharfem <strong>in</strong>haltlichem Kontrast zu Karol<strong>in</strong>e von Gün<strong>der</strong>o<strong>des</strong> tief trauriger<br />
Klage, die sie nach dem Verlust <strong>des</strong> Geliebten, Carl Friedrich Creuzer, dichtete, romantisch<br />
dichtete. Flem<strong>in</strong>g, <strong>der</strong> weite gereiste Weltmann stellt <strong>in</strong> sche<strong>in</strong>barer mühelos leichter<br />
Sprache e<strong>in</strong> differenziertes Regelwerk für e<strong>in</strong>e Handlung auf, die so ihrer Intimität<br />
geradezu frech beraubt wird. Die Gün<strong>der</strong>ode, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>same Frau, die ihre Jugendjahre <strong>in</strong><br />
klösterlicher Abgeschiedenheit verbr<strong>in</strong>gt und auch danach wenig Kontakt zu an<strong>der</strong>en<br />
Menschen hat, zerbricht am Scheitern ihrer Liebe zu dem verheirateten Creuzer und nimmt<br />
sich das Leben, kurz nachdem dieser sie verlassen hat um zu se<strong>in</strong>er Frau zurückzukehren.<br />
26 Unter dem Titel „Gott-lobende Frühl<strong>in</strong>gs-Lust“ existieren mehrere verschiedene Gedichte von Greiffenbergs.<br />
27 L<strong>in</strong>denhahn: Romantik, S. 61<br />
28 Gün<strong>der</strong>ode: Poetische Fragmente. Digitale Bibliothek: Deutsche Literatur von Less<strong>in</strong>g bis Kafka, S. 65788<br />
(vgl. Gün<strong>der</strong>ode-GW Bd. 1, S. 120)<br />
11
Paul Flem<strong>in</strong>g (1609 – 1640)<br />
Wie er wolle geküsset seyn (vor 1640)<br />
Karol<strong>in</strong>e von Gün<strong>der</strong>ode (1780 – 1806)<br />
Der Kuß im Traume (um 1805)<br />
aus e<strong>in</strong>em ungedruckten Romane<br />
Nirgends h<strong>in</strong> / als auff den Mund /<br />
da s<strong>in</strong>ckts <strong>in</strong> deß Hertzens Grund.<br />
Nicht zu frey / nicht zu gezwungen /<br />
nicht mit gar zu fauler Zungen.<br />
Es hat e<strong>in</strong> Kuß mir Leben e<strong>in</strong>gehaucht,<br />
Gestillet me<strong>in</strong>es Busens tiefstes Schmachten,<br />
Komm, Dunkelheit! mich traulich zu umnachten<br />
Daß neue Wonne me<strong>in</strong>e Lippe saugt.<br />
5<br />
Nicht zu wenig / nicht zu viel!<br />
Bey<strong>des</strong> wird sonst K<strong>in</strong><strong>der</strong>-spiel.<br />
Nicht zu laut / und nicht zu leise /<br />
Bey<strong>der</strong> Maß´ ist rechte Weise.<br />
5<br />
In Träume war solch Leben e<strong>in</strong>getaucht,<br />
Drum leb' ich, ewig Träume zu betrachten,<br />
Kann aller an<strong>der</strong>n Freuden Glanz verachten,<br />
Weil nur die Nacht so süßen Balsam haucht.<br />
10<br />
15<br />
Nicht zu nahe / nicht zu weit.<br />
Diß macht Kummer / jenes Leid.<br />
Nicht zu trucken / nicht zu feuchte /<br />
wie Adonis Venus reichte.<br />
Nicht zu harte / nicht zu weich.<br />
Bald zugleich / bald nicht zugleich.<br />
Nicht zu langsam / nicht zu schnelle.<br />
Nicht ohn Unterscheid <strong>der</strong> Stelle.<br />
10<br />
Der Tag ist karg an liebesüßen Wonnen,<br />
Es schmerzt mich se<strong>in</strong>es Lichtes eitles Prangen<br />
Und mich verzehren se<strong>in</strong>er Sonne Gluthen.<br />
Drum birg dich Aug' dem Glanze irr'dscher Sonnen!<br />
Hüll' dich <strong>in</strong> Nacht, sie stillet de<strong>in</strong> Verlangen<br />
Und heilt den Schmerz, wie Lethes kühle Fluthen.<br />
20<br />
Halb gebissen / halb gehaucht.<br />
Halb die Lippen e<strong>in</strong>getaucht.<br />
Nicht ohn Unterscheid <strong>der</strong> Zeiten.<br />
Mehr alle<strong>in</strong>e denn bei Leuten.<br />
Küsse nun e<strong>in</strong> Je<strong>der</strong>mann /<br />
wie er weiß / will / soll und kan.<br />
Ich nur und die Liebste wissen /<br />
wie wir uns recht sollen küssen.<br />
4 L i e b e s l y r i k i n d e r W e i m a r e r K l a s s i k<br />
Johann Wolfgang Goethes Lyrik alle<strong>in</strong> stellt e<strong>in</strong> so umfangreiches Textkorpus dar, dass<br />
e<strong>in</strong>e auch nur annähernd erschöpfende Behandlung im Kontext <strong>des</strong> Schwerpunktthemas <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Schule ausgeschlossen ist. Hier – vielleicht mehr noch, als <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Epochen –<br />
verspricht die paradigmatische Betrachtung <strong>der</strong> Bildlichkeit <strong>in</strong>terpretatorischen Zugang<br />
über das e<strong>in</strong>zelne Gedicht h<strong>in</strong>aus. Goethes über 80-jähriges Leben ist – bei aller<br />
Universalität <strong>der</strong> Interessen und Arbeitsgebiete <strong>des</strong> geniales Meisters, Dichtung, praktisch<br />
sämtliche Wissenschaften <strong>der</strong> Zeit, Philosophie, Politik se<strong>in</strong>en genannt – <strong>in</strong> ganz<br />
beson<strong>der</strong>er Weise geprägt durch die Reihe se<strong>in</strong>er berühmten Liebesbeziehungen, die die<br />
Entwicklung se<strong>in</strong>er Persönlichkeit ebenso wi<strong>der</strong>spiegeln, wie sie ihn verschiedentlich <strong>in</strong><br />
existenzielle Krisen stürzen, die Goethe wie<strong>der</strong>um poetisch produktiv verarbeitet; man<br />
denke an den „Werther“. Se<strong>in</strong>e Biografen schil<strong>der</strong>n diese Liebesbeziehungen ausführlich<br />
und sie können sich dabei auf umfangreiches Quellenmaterial stützen, nicht zuletzt von<br />
Goethes Hand <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Tagebüchern, Aufzeichnungen und <strong>in</strong> den autobiografisch<br />
geprägten Schriften, wie dem »Wilhelm Meister«. Dass Goethes Liebe im familiären<br />
Rahmen zuerst se<strong>in</strong>er Liebl<strong>in</strong>gsschwester Cornelia gilt und wie bedeutsam diese<br />
12
Geschwisterbeziehung ist, wie krisenhaft auch Cornelias Tod 1777 erlebt wird, beleuchtet<br />
e<strong>in</strong>drucksvoll Kurt R. Eissler <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er psychoanalytischen Studie. 29<br />
Dem Anhang ist e<strong>in</strong> Kreuzworträtsel zu den Frauen <strong>in</strong> Goethes Leben beigefügt.<br />
L<strong>in</strong>denhahn/Neugebauer geben zu diesem Thema biografische Informationen. 30<br />
Dabei ist Goethes Leben selbstverständlich nicht gleichzusetzen mit se<strong>in</strong>en poetischen<br />
Produkten. Von hier aus ergibt sich immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Ausgangspunkt für die Rezeption von<br />
Walter Killys Theorie zum goetheschen Symbolbegriff.<br />
Die höchste Lyrik ist entschieden historisch. 31<br />
Goethes apodiktische Feststellung, und stamme sie auch aus e<strong>in</strong>em Aufsatz über e<strong>in</strong><br />
Drama 32 , eignet sich, den Leser gehörig zu irritieren. Welche historische Bedeutung könnte<br />
e<strong>in</strong>em Liebesgedicht zukommen? Ist nicht gerade Lyrik oft zeitlos und wirkt noch nach<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ten durch ihre ästhetische Qualität? Ist<br />
Historizität e<strong>in</strong> Qualitätskriterium?<br />
Killy löst das Rätsel elegant anhand Goethes<br />
Dornburger Gedicht „Früh, wenn Thal, Gebirg und<br />
Garten“. Wenngleich es sich hierbei nicht um<br />
<strong>Liebeslyrik</strong> handelt, soll <strong>der</strong> Gedankengang im<br />
Wesentlichen nachgezeichnet werden, weil das<br />
„Historische“ bei diesem Gedicht <strong>in</strong> mehrfacher<br />
H<strong>in</strong>sicht beson<strong>der</strong>s klar zu benennen ist. 33<br />
Das Gedicht stellt dem Leser zunächst e<strong>in</strong>e<br />
Natursituation vor. Der sich auflösende Nebel, die<br />
Wolken am Himmel konstituieren ebenso Raum wie<br />
die Achse Garten, Tal, Gebirg, von Goethe nicht <strong>in</strong><br />
dieser Reihung geordnet. Erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> dritten Strophe<br />
kommt das lyrische Ich über die Ansprache <strong>des</strong> Du<br />
<strong>in</strong>s Spiel, <strong>der</strong> sittliche Mensch, die Vorgänge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur betrachtend, dankbar genießend.<br />
Soweit ist an diesem Text nichts auffällig, das die Harmonie <strong>der</strong> Situation störte. Erst die<br />
Dimension <strong>der</strong> Zeit provoziert Irritation. Durch das <strong>in</strong> den Anfangsversen <strong>der</strong> Strophen e<strong>in</strong>s<br />
und zwei prom<strong>in</strong>ent e<strong>in</strong>gesetzte wenn wird Zeitlichkeit signalisiert. Die Antwort folgt mit<br />
dem Adverb dann <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schlussstrophe, dort gleichfalls im ersten Vers. Dabei wechselt die<br />
Morgensituation unvermittelt <strong>in</strong> den Sonnenuntergang am Abend. Killy bemerkt dazu:<br />
Das ist e<strong>in</strong> offenbarer Wi<strong>der</strong>s<strong>in</strong>n, e<strong>in</strong> Anachronismus. Wenn höchste Lyrik wirklich<br />
entschieden historisch ist, wie kann dann <strong>der</strong> Augenblick <strong>des</strong> frühen Tages se<strong>in</strong> Ende<br />
begreifen? In e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Vorgang, <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Satz zusammengefasst ist, wird<br />
hier die gewohnte Zeit durchbrochen; die Bed<strong>in</strong>gung ist <strong>in</strong> die Frühe gesetzt, ihre Folge ist<br />
Abend. 34<br />
Die Absicht, die Goethe mit dieser Raffung verfolgt, analysiert <strong>der</strong> Germanist wie folgt:<br />
„[...] <strong>der</strong> frühe Tag weitet sich <strong>in</strong> den ganzen Tag, e<strong>in</strong>en Tag, <strong>der</strong> – wie wir ahnen – nicht nur<br />
Kalen<strong>der</strong>tag, son<strong>der</strong>n Lebenstag überhaupt ist. E<strong>in</strong>e unsägliche Zuversicht wird aussprechlich,<br />
aber auf die Weise, wie das große Gedicht spricht, unvernünftig. Tageszeit und<br />
5<br />
10<br />
Dornburg<br />
September 1828<br />
Früh, wenn Tal, Gebirg und Garten<br />
Nebelschleiern sich enthüllen,<br />
Und dem sehnlichsten Erwarten<br />
Blumenkelche bunt sich füllen;<br />
Wenn <strong>der</strong> Äther, Wolken tragend,<br />
Mit dem klaren Tage streitet,<br />
Und e<strong>in</strong> Ostw<strong>in</strong>d, sie verjagend,<br />
Blaue Sonnenbahn bereitet;<br />
Dankst du dann, am Blick dich weidend,<br />
Re<strong>in</strong>er Brust <strong>der</strong> Großen, Holden,<br />
Wird die Sonne, rötlich scheidend,<br />
R<strong>in</strong>gs den Horizont vergolden.<br />
29 Eissler, Kurt R.: Goethe. E<strong>in</strong>e psychoanalytische Studie 1775 – 1786. Detroit 1963; deutsche Übersetzung<br />
Basel und Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, 1983 (Bd. I) und 1985 (Bd. II)<br />
30 L<strong>in</strong>denhahn/Neugebauer 2007, S. 24ff<br />
31 Zit. nach Killy: <strong>Wandlungen</strong>, S. 10<br />
32 Goethes Aufsatz über Alexan<strong>der</strong> Manzonis Schauspiel »Adelchi«, <strong>in</strong>: J. W. Goethe, Werke, Berl<strong>in</strong>er Ausgabe,<br />
Band 18, S. 232-240, Aufsätze zur Weltliteratur, Maximen und Reflexionen. Der Aufsatz ist auf die CD<br />
aufgenommen: Adelchi.doc<br />
33 Für den Unterricht hat A. Petruschke dieses Gedicht und Killys Ausführungen didaktisch aufbereitet.<br />
Petruschke 2004, S. 30 - 39<br />
34 Killy: <strong>Wandlungen</strong>, S. 11<br />
13
Lebenszeit, Natur und Betrachter erweisen sich als <strong>in</strong> E<strong>in</strong>es geschlungen.“ 35<br />
Auf diese Weise entzieht sich das Gedicht <strong>der</strong> Faktizität e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Ereignisses als<br />
historischem Anlass <strong>des</strong> Gedichts. In se<strong>in</strong>en Dornburger Tagebuchaufzeichnungen notiert<br />
Goethe um das unter <strong>der</strong> Überschrift <strong>des</strong> Gedichts vermerkte Datum herum <strong>in</strong>tensive<br />
meteorologische Beobachtungen. Und just das Verhalten <strong>des</strong> Nebels und <strong>der</strong> Wolken am<br />
Vormittag erschienen Goethe als notierenswerte Konstellationen. Killy zitiert aus E<strong>in</strong>trägen<br />
über zwei Wochen h<strong>in</strong>weg. Deren letzter, vom 18. August 1828, enthält die Formulierung<br />
„[...] h e i l i g e F r ü h e ward empfunden.“ 36 Dieses Gefühl kommt <strong>in</strong> den Versen 9 und 10<br />
<strong>des</strong> Gedichts zum Ausdruck. Die faktischen Erlebnisse <strong>des</strong> beobachtenden Dichters haben<br />
e<strong>in</strong>e „Idee“ angeregt; Goethe benutzt diesen Begriff.<br />
„Von se<strong>in</strong>en »Wahlverwandtschaften« sagt er, daß dar<strong>in</strong> ke<strong>in</strong> Strich enthalten, <strong>der</strong> nicht<br />
erlebt, aber ke<strong>in</strong> Strich so, wie er erlebt worden. Dasselbe von <strong>der</strong> Geschichte <strong>in</strong><br />
Sesenheim..“ 37<br />
Was dort gilt, trifft auch hier zu. Der Dichter erkennt <strong>in</strong> den Phänomenen etwas<br />
Allgeme<strong>in</strong>es, Inneres, Höheres.<br />
„Goethe hat dafür den Namen Idee, aber nicht nur diesen, An jenen geschichtlichen<br />
Augenblicken, <strong>der</strong>en Eigentliches <strong>in</strong> dem Gedicht zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Bild aufgehoben ist,<br />
wurde ihm die ganze Ewigkeit sichtbar <strong>in</strong> ihrem unendlichen Wert. „ 38<br />
„Aber wenn es darum geht, den großen Anachronismus zu denken, dass alle diese Momente<br />
zugleich anwesend s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Lebenszeit, alle Morgen e<strong>in</strong>e ganze Ewigkeit von<br />
Morgen repräsentieren, so müssen wir – mit Goethe zu reden – aus dem Reiche <strong>der</strong> Erfahrung<br />
<strong>in</strong> das <strong>der</strong> Idee schreiten. Dieser Schritt ist denkend nicht vollziehbar.“. 39<br />
Das Symbol <strong>in</strong> Goethes Verständnis ist also <strong>der</strong> poetische Ausdruck von etwas, das direkt<br />
nicht <strong>in</strong> Sprache zu fassen ist:<br />
„Durch Worte sprechen wir we<strong>der</strong> die Gegenstände noch uns selbst völlig aus ... Sobald von<br />
tiefern Verhältnissen die Rede ist, tritt sogleich e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Sprache e<strong>in</strong>, die poetische. [...]<br />
Poesie deutet auf die Geheimnisse <strong>der</strong> Natur und sucht sie durch’s Bild zu lösen.“ 40<br />
Killy betont die universale Bedeutung dieser Ausprägung <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong> bei Goethe:<br />
Die <strong>in</strong>nigste und tiefste Form, zugleich die anschaulichste, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Goethe Bil<strong>der</strong> gebraucht, ist<br />
die <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong>. Es ist bei ihm <strong>in</strong> mehr als e<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>ne klassisch geworden. Es<br />
vermag e<strong>in</strong>e ganz bestimmte, <strong>in</strong> allen großen Beispielen <strong>der</strong> Goetheschen Lyrik<br />
wie<strong>der</strong>kehrende Leistung. Se<strong>in</strong> Gebrauch ist verschieden, se<strong>in</strong> Gegenstand wechselt, aber die<br />
Gesetze, nach denen es sich darstellt, die Wahrheit, die es ersichtlich macht, s<strong>in</strong>d beständig.<br />
Symbolisch kommt im Dornburg-Gedicht durch die Anschauung <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> klassische<br />
Gedanke <strong>des</strong> sittlichen Menschen zum Ausdruck, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> Harmonie mit <strong>der</strong> Natur weiß,<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> er das Göttliche fühlt. Die Sonne, das Symbol göttlicher Schöpfung erfährt den Dank<br />
<strong>des</strong> Menschen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Zuversicht und Vertrauen lebt.<br />
Die Allegorie verwandelt die Ersche<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Begriff, den Begriff <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Bild, doch so,<br />
daß <strong>der</strong> Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an<br />
demselben auszusprechen sei.<br />
Die Symbolik verwandelt die Ersche<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> Idee, die Idee <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Bild, und so, daß die Idee<br />
im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst <strong>in</strong> allen Sprachen<br />
ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe. 41<br />
35 a.a.O.<br />
36 a.a.O., S. 12<br />
37 Eckermann, Gespräche mit Goethe, E<strong>in</strong>trag vom 17. Februar 1830.<br />
38 Killy, <strong>Wandlungen</strong>, S. 13<br />
39 a.a.O., S. 15<br />
40 Goethe: Maximen und Reflexionen. zit nach Killy: <strong>Wandlungen</strong>, S. 14<br />
41 Goethe, Werke, Berl<strong>in</strong>er Ausgabe, Bd. 18, S. 638<br />
14
Das Zusammenspiel von Ersche<strong>in</strong>ung, Idee und Bild <strong>in</strong> Goethes Symbolbegriff<br />
veranschaulicht das Schaubild „Das klassische Bild – Goethes Symbol“ im Anhang.<br />
Wie lässt sich <strong>der</strong> am Naturgedicht erarbeitete Begriff <strong>des</strong> klassischen Bil<strong>des</strong> auf Goethes<br />
<strong>Liebeslyrik</strong> anwenden?<br />
Beim jungen Goethe wird man zunächst an die Sesenheimer Gedichte denken, von denen<br />
sich nur wenige erhalten haben: „Mir schlug das Herz“, „Maifest“, „Mit e<strong>in</strong>em gemalten<br />
Bande“, „Heidenrösle<strong>in</strong>“ sowie e<strong>in</strong>ige Texte <strong>des</strong> „Sesenheimer Lie<strong>der</strong>buchs“ aus dem<br />
Besitz von Sophie Brion.<br />
Das im Anhang enthaltene Arbeitsblatt „Johann Wolfgang Goethe: Gedichte aus<br />
verschiedenen Epochen“ stellt vier Liebesgedichte aus unterschiedlichen Schaffensphasen<br />
Goethes nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Daran können Schüler erarbeiten, wie Goethe vom<br />
anakreontischen Stil (Das Schreien) über die Empf<strong>in</strong>dsamkeit (Maifest) zum klassischen<br />
Duktus f<strong>in</strong>det (Willkommen und Abschied).<br />
Goethes berühmteste und – für die Geliebte – tragische Liebesbeziehung ist die zu<br />
Frie<strong>der</strong>ike Brion während se<strong>in</strong>er Straßburger Studienzeit 1770/71. In diese Zeit fällt auch<br />
Goethes großer Aufbruch als Lyriker, die Überw<strong>in</strong>dung <strong>des</strong> anakreontischen Stils h<strong>in</strong> zu<br />
e<strong>in</strong>em Stil, <strong>der</strong> den <strong>in</strong>dividuellen Empf<strong>in</strong>dungen wahrhaftigen Ausdruck verleiht. Inspiriert<br />
ist diese Entwicklung durch Her<strong>der</strong>s Kunsttheorie, die Natürlichkeit und Gefühl for<strong>der</strong>t. Der<br />
Vergleich <strong>der</strong> sprachlichen Mittel dieser beiden frühen Gedichte verdeutlicht den großen<br />
Schritt, den Goethe tat:<br />
„Zum ersten Mal <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Lyrik ist die<br />
subjektive Empf<strong>in</strong>dung wichtger als <strong>der</strong><br />
geschil<strong>der</strong>te Gegenstand. Ohne diesen Schritt<br />
ist das Symbol undenkbar, da dieses die<br />
‚Ergriffenheit’ <strong>des</strong> Dichters durch e<strong>in</strong>e äußere<br />
Gelegenheit erfor<strong>der</strong>t. Beim Symbol kommt<br />
dazu die Idee, die <strong>der</strong> reife Dichter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
solchen Gegebenheit zu erkennen vermag und<br />
die er dann im Bild wie<strong>der</strong>gibt.“ 42<br />
Damit ordnet Petruschke das Gedicht, das noch<br />
ganz direkter Ausdruck <strong>der</strong> persönlichen<br />
Empf<strong>in</strong>dung ist, am Übergang, als – notabene<br />
unerlässliche - Vorstufe symbolischer Dichtung<br />
e<strong>in</strong>.<br />
Bei Adelheid Petruschke f<strong>in</strong>det sich auch e<strong>in</strong>e<br />
genaue Erarbeitung <strong>des</strong> goetheschen Symbols<br />
im Kontext <strong>der</strong> <strong>Liebeslyrik</strong> anhand <strong>des</strong> Gedichts<br />
„Auf dem See“. Wie Goethe den biografischen<br />
Anlass, e<strong>in</strong>e Bootsfahrt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz zu <strong>der</strong><br />
Zeit, als er mit <strong>der</strong> Frankfurter Bankierstochter<br />
Anna Elisabeth (Lili) Schönemann – <strong>in</strong>offiziell -<br />
verlobt ist, wie er die Naturbeobachtung zu e<strong>in</strong>er<br />
Idee verdichtet, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en neuen<br />
Seelenzustand mündet, wird dort erkennbar. 43 .<br />
Den Titel hat Goethe erst später gewählt, als<br />
Ersatz für den urspünglichen: „Ich saug an<br />
me<strong>in</strong>er Nabelschnur“. 44<br />
Dieses Gedicht bietet sich zu e<strong>in</strong>em Vergleich mit<br />
dem an Lili Schönemann gerichteten Gedicht<br />
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
Johann Wolfgang Goethe (1749 – 1832)<br />
Neue Liebe, neues Leben (1775)<br />
Herz, me<strong>in</strong> Herz, was soll das geben?<br />
Was bedränget dich so sehr?<br />
Welch e<strong>in</strong> frem<strong>des</strong>, neues Leben!<br />
Ich erkenne dich nicht mehr.<br />
Weg ist alles, was du liebtest,<br />
Weg, warum du dich betrübtest,<br />
Weg de<strong>in</strong> Fleiß und de<strong>in</strong>e Ruh –<br />
Ach, wie kamst du nur dazu!<br />
Fesselt dich die Jugendblüte,<br />
Diese liebliche Gestalt,<br />
Dieser Blick voll Treu und Güte<br />
Mit unendlicher Gewalt?<br />
Will ich rasch mich ihr entziehen,<br />
Mich ermannen, ihr entfliehen,<br />
Führet mich im Augenblick,<br />
Ach, me<strong>in</strong> Weg zu ihr zurück.<br />
Und an diesem Zauberfädchen,<br />
Das sich nicht zerreißen läßt,<br />
Hält das liebe lose Mädchen<br />
Mich so wi<strong>der</strong> Willen fest;<br />
Muß <strong>in</strong> ihrem Zauberkreise<br />
Leben nun auf ihre Weise.<br />
Die Verändrung, ach, wie groß!<br />
Liebe! Liebe! laß mich los!<br />
42 a.a.O., S. 53<br />
43 Petruschke 2004, S. 49 ff<br />
44 Unterberger, Rose: Die Goethe-Chronik. Frankfurt am Ma<strong>in</strong> und Leipzig, Insel-Verlag 2002<br />
15
„Neue Liebe, neues Leben“, das sehr viel direkter die Angstgefühle <strong>des</strong> Liebenden, <strong>des</strong><br />
Geliebten anspricht, zum Ende h<strong>in</strong> gar <strong>in</strong> faustischen Tönen. Es ergeben sich <strong>in</strong>haltliche,<br />
zumal biografische Parallelen bei sehr verschiedener formaler und stilistischer Umsetzung.<br />
Der Goethe-Biograph Richard Friedenthal würdigt die Lage <strong>des</strong> 26-jährigen Genies so:<br />
„Goethe liebt auf sehr verschiedenene Weise. Hier, so sche<strong>in</strong>t es, ist ihm zum e<strong>in</strong>zigen Male<br />
e<strong>in</strong> weibliches Wesen begegnet, dem er unterlegen war und dem er sich nicht o<strong>der</strong> nur sehr<br />
schwer entziehen konnte. Diese Lili war ke<strong>in</strong>e ‚Schwester’-Natur. Sie war ke<strong>in</strong>e schon<br />
Verheiratete o<strong>der</strong> Versagte o<strong>der</strong> allzu Junge o<strong>der</strong> Bequeme. Diese Demoiselle Elisabeth<br />
Schönemann war sehr unbequem. Die Liebe zu ihr war e<strong>in</strong>e hitzige, brennende, quälende<br />
Angelegenheit, e<strong>in</strong> wirkliches Feuer, nicht e<strong>in</strong>es, an dem man sich wärmen und von dem man<br />
aufstehen konnte, wenn es e<strong>in</strong>em zu stark wurde. Damit ist nichts über die an<strong>der</strong>en Lieben<br />
gesagt, die an<strong>der</strong>e Bedeutung hatten. Hier aber, zum ersten und wohl auch e<strong>in</strong>zigen Male, hat<br />
er sich gefangen gefühlt, ‚im Sack’ [...]“ 45<br />
Abschließend sei e<strong>in</strong> Wort Thomas Manns zitiert:<br />
„Was wir von Vorstellungen von Harmonie, glücklicher Ausgewogenheit und Klassizität mit<br />
Goethes Namen verb<strong>in</strong>den, war nichts leichth<strong>in</strong> Gegebenes, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e gewaltige Leistung,<br />
das Werk von Charakterkräften, durch welche dämonisch-gefährliche und möglicherweise<br />
zerstörerische Anlagen überwunden, genützt, verklärt, versittlicht wurden, zum Guten und<br />
Lebensdienlichen gewendet und gezwungen.“ 46<br />
Die von Goethe erreichte vollkommene Harmonie <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong> überdauert die<br />
Klassik nicht:<br />
„Dieses Bild [das lyrische Bild, d.Verf.] hat selbst Geschichte, und die Bed<strong>in</strong>gungen, unter<br />
denen es sich bei Goethe darstellt, s<strong>in</strong>d unwie<strong>der</strong>holbar. Offenbar wohnen den Grundelementen<br />
<strong>des</strong> Bil<strong>des</strong> zentrifugale Kräfte e<strong>in</strong>, und <strong>der</strong> Mensch liebt es, e<strong>in</strong>zelnen Aspekten e<strong>in</strong><br />
Übergewicht vor den an<strong>der</strong>en zu geben. Die klassische E<strong>in</strong>heit dauert nicht. Man kann die<br />
Geschichte <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong> als den Vorgang <strong>der</strong> Emanzipation <strong>der</strong> klassischen<br />
Bildelemente verstehen. Dabei gew<strong>in</strong>nen entwe<strong>der</strong> das subjektive Fühlen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e den<br />
Gegenstand überstimmende Bedeutung den Vorrang, ganz abgesehen von <strong>der</strong> stets<br />
gegenwärtigen Möglichkeit, das Reale an sich (das an sich gleichgültig ist) für vollkommen<br />
wichtig zu nehmen.“ 47<br />
5 Romantische Sprachmusik – romantische Chiffre<br />
<strong>Liebeslyrik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Romantik<br />
In <strong>der</strong> Erzählung »Aus <strong>der</strong> Chronika e<strong>in</strong>es fahrenden Schülers« f<strong>in</strong>det sich Clemens<br />
Brentanos berühmtes Gedicht „Der Sp<strong>in</strong>ner<strong>in</strong> Nachtlied“. Entstanden ist es 1802, da<br />
schickte <strong>der</strong> Dichter es se<strong>in</strong>em Freund Achim von Arnim <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief, im Druck<br />
erschienen jedoch erst 1818. 48<br />
45 Friedenthal, Richard: Goethe – se<strong>in</strong> Leben und se<strong>in</strong>e Zeit. München, 1963, S. 193<br />
46 Thomas Mann (Ansprache im Goethejahr 1949)<br />
47 Killy: <strong>Wandlungen</strong>, S. 27<br />
48 Brentano, Clemens, Werke. Herausgegeben von Friedhelm Kemp, Bd. 1-4, München (Hanser) 1963-68,<br />
Bd 1, S. 131 ff<br />
16
Bei diesem Gedicht empfiehlt sich die Erschließung über den Klang. Der Vortrag <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Lerngruppe, gut auch mehrere von Schülern erarbeitete Varianten, macht die ganz an<strong>der</strong>e<br />
Qualität dieses Textes im Vergleich zu goethescher<br />
Lyrik s<strong>in</strong>nlich erfahrbar.<br />
Ganz und gar unerlässlich ist bei diesem Gedicht<br />
die formale Analyse, för<strong>der</strong>t sie doch bemerkenswerte<br />
Details zu Tage und offenbar den kunstvollen<br />
Bau. E<strong>in</strong>ige Befunde seien hier stichwortartig<br />
genannt: 49<br />
Åî<br />
Åï<br />
Åñ<br />
Åó<br />
Åò<br />
Åô<br />
Åö<br />
Åõ<br />
Åú<br />
6 Strophen à 4 Verse,<br />
umarmen<strong>der</strong> Reim,<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stophe immer nur e<strong>in</strong> reimen<strong>der</strong><br />
Vokal bzw. Diphthong Ä Assonanz,<br />
<strong>in</strong>sgesamt nur vier Reime: -aren, -all, -e<strong>in</strong>en,<br />
-e<strong>in</strong>; <strong>in</strong>sgesamt 10 Reimwörter;<br />
dreihebige Jamben mit männlicher Kadenz<br />
jeweils im ersten und vierten Vers e<strong>in</strong>er<br />
Strophe und weiblicher Kadenz <strong>in</strong> den beiden<br />
<strong>in</strong>neren Versen.<br />
Jede Strophe umfasst e<strong>in</strong>en Satz.<br />
Reimschema: abba cddc abba cddc abba<br />
cddc,<br />
Ä zwei Gruppen von Strophen: alternierend<br />
Strophen mit a-Reimen und solche mit ei-<br />
Reimen.<br />
In den a-Stophen herrschen dunkle Vokale<br />
vor, <strong>in</strong> den ei-Strophen helle.<br />
Über die schon hier offenbare Gleichförmigkeit<br />
<strong>der</strong> Form h<strong>in</strong>aus, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>haltliche Entsprechungen<br />
festzustellen: Enzensberger macht e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante<br />
Entdeckung die „Wie<strong>der</strong>kehr <strong>des</strong> Gleichen“<br />
betreffend:<br />
„Das ganze Gedicht ist eigentlich nichts als e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger schweifen<strong>der</strong> Kehrreim. Das<br />
Schweifen, die komb<strong>in</strong>atorische Variation, gehorcht dabei e<strong>in</strong>em ganz bestimmten Gesetz.<br />
Wenn man die ersten acht Verszeilen mit den Ziffern 1-8 bezeichnet und von den kle<strong>in</strong>en,<br />
aber bedeutungsvollen Verän<strong>der</strong>ungen absieht, denen sie wie<strong>der</strong>kehrend unterworfen werden,<br />
so erhält man das folgende Bild:<br />
Strophe I 1 2 3 4 Strophe II 5 6 7 8<br />
Strophe III 4 2 3 1 Strophe IV 8 6 7 5<br />
Strophe V 1 2 3 4 Strophe VI 5 6 7 8<br />
Jede <strong>der</strong> beiden Strophenarten (a- und ei-Strophen) wird also <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weise variiert, daß die<br />
zuletzt gesungene Zeile (Zeile 4 <strong>in</strong> Strophe 1) <strong>in</strong> <strong>der</strong> folgenden Strophe <strong>der</strong> gleichen Art als<br />
erste ersche<strong>in</strong>t, während <strong>der</strong> Strophenkern se<strong>in</strong>e Reihenfolge beibehält. Die zweite Variation<br />
kehrt die Konstellation nach dem gleichen Gesetz wie<strong>der</strong> um und führt auf diese Weise<br />
be<strong>in</strong>ahe (aber eben nur be<strong>in</strong>ahe) zur Ausgangsstrophe zurück [...].“ 50<br />
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
Clemens Brentano (1778 – 1842)<br />
Der Sp<strong>in</strong>ner<strong>in</strong> Nachtlied (1802<br />
Es sang vor langen Jahren<br />
Wohl auch die Nachtigall,<br />
Das war wohl süßer Schall,<br />
Da wir zusammen waren.<br />
Ich s<strong>in</strong>g' und kann nicht we<strong>in</strong>en,<br />
Und sp<strong>in</strong>ne so alle<strong>in</strong><br />
Den Faden klar und re<strong>in</strong><br />
So lang <strong>der</strong> Mond wird sche<strong>in</strong>en.<br />
Als wir zusammen waren<br />
Da sang die Nachtigall<br />
Nun mahnet mich ihr Schall<br />
Daß du von mir gefahren.<br />
So oft <strong>der</strong> Mond mag sche<strong>in</strong>en,<br />
Denk' ich wohl de<strong>in</strong> alle<strong>in</strong>,<br />
Me<strong>in</strong> Herz ist klar und re<strong>in</strong>,<br />
Gott wolle uns vere<strong>in</strong>en.<br />
Seit du von mir gefahren,<br />
S<strong>in</strong>gt stets die Nachtigall,<br />
Ich denk' bei ihrem Schall,<br />
Wie wir zusammen waren.<br />
Gott wolle uns vere<strong>in</strong>en<br />
Hier sp<strong>in</strong>n' ich so alle<strong>in</strong>,<br />
Der Mond sche<strong>in</strong>t klar und re<strong>in</strong>,<br />
Ich s<strong>in</strong>g' und möchte we<strong>in</strong>en.<br />
49 Nachzulesen <strong>in</strong>: Van R<strong>in</strong>sum, Annemarie und Wolfgang: Interpretationen. Lyrik. München, BSV 1991 2 ,<br />
S. 114 f<br />
50 a.a.O., S. 115<br />
17
Das rapportartige System von Klängen hat zweifellos musikalische Qualität. Es bracuht<br />
wenig Fantasie, die verwobene Struktur aus drei- und vierteiligen Elementen als die<br />
dauernde Bewegung <strong>des</strong> Sp<strong>in</strong>nra<strong>des</strong> zu begreifen, e<strong>in</strong>e Bewegung auf <strong>der</strong> Stelle, die<br />
sche<strong>in</strong>bar endlos gleichförmig sich fortsetzt. Tatsächlich ist auch <strong>in</strong> dem Gedicht ke<strong>in</strong>e<br />
<strong>in</strong>haltlich Bewegung erkennbar, ke<strong>in</strong> Fortschritt <strong>in</strong> irgend e<strong>in</strong>e Richtung. Man könnte ganze<br />
Strophen austauschen und es än<strong>der</strong>te sich praktisch nichts am S<strong>in</strong>n. Die Sp<strong>in</strong>ner<strong>in</strong> beklagt<br />
den Verlust <strong>des</strong> Geliebten „vor langen Jahren“ (V. 1). Die a-Strophen beschwören das Du<br />
und das Wir <strong>der</strong> vergangenen Zeit <strong>der</strong> Liebe, <strong>in</strong> den ei-Strophen erkl<strong>in</strong>gt die Klage <strong>der</strong><br />
E<strong>in</strong>samen im Jetzt. Die Sp<strong>in</strong>ner<strong>in</strong> ruft das Bild <strong>der</strong> Nachtigall herauf, „[...] die uns seit dem<br />
Mittelalter als Liebesbot<strong>in</strong> bekannt ist.“ 51 Wartend und sehnend br<strong>in</strong>gt sie ihre Zeit h<strong>in</strong>, <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> letzten Strophe Gott anrufend, doch ohne erkennbare Hoffnung. Richard Alewyn zieht<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Interpretation <strong>des</strong> Brentano-Gedichts die Summe:<br />
„Gleichmäßiger Wechsel und endlose Wie<strong>der</strong>kehr, Stillstand und Verr<strong>in</strong>nen <strong>der</strong> Zeit, nichts<br />
an<strong>der</strong>es ist das Thema <strong>des</strong> Gedichts [...].<br />
Müssen wir noch h<strong>in</strong>zufügen, daß es <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Sprache ke<strong>in</strong> traurigeres Gedicht<br />
gibt?“ 52<br />
Wie sehr aber die Musikalität, das Gedicht als Klangereignis, im Vor<strong>der</strong>grund steht,<br />
beweist Adelheid Petruschke anhand folgen<strong>der</strong> Beobachtung: das Hendiadyo<strong>in</strong> „klar und<br />
re<strong>in</strong>“ kommt gleich drei Mal <strong>in</strong> diesem Gedicht vor:<br />
Åù Den Faden klar und re<strong>in</strong> (V. 7)<br />
Åû Me<strong>in</strong> Herz ist klar und re<strong>in</strong> (V. 15)<br />
Åü Der Mond sche<strong>in</strong>t klar und re<strong>in</strong> (V. 23)<br />
Petruschke führt über diese Beobachtung zur Qualität <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong> <strong>in</strong> diesem<br />
Gedicht. Sie f<strong>in</strong>det:<br />
„[...] drei völlig unterschiedliche D<strong>in</strong>ge <strong>der</strong> Welt und <strong>des</strong> Ich, komb<strong>in</strong>iert mit den gleichen<br />
Adjektiven. Die Bil<strong>der</strong> selbst s<strong>in</strong>d von <strong>der</strong> denkbar e<strong>in</strong>fachsten Art. Sie benennen den<br />
Gegenstand und rufen ihn so wach für das Ohr <strong>des</strong> Hörers. Da die Bil<strong>der</strong> jedoch auf diese Art<br />
e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gleichgesetzt s<strong>in</strong>d, können sie ke<strong>in</strong>e reale Entsprechung im Bereich <strong>der</strong> Anschauung<br />
mehr besitzen. [...] Sie s<strong>in</strong>d um <strong>des</strong> Lie<strong>des</strong> willen da, als Ton- und Gefühlsträger. Brentano<br />
braucht ke<strong>in</strong>e konkreten Naturerlebnisse mehr, um se<strong>in</strong>e Bil<strong>der</strong> zu f<strong>in</strong>den. Sie stammen nicht<br />
aus <strong>der</strong> nahen Welt <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge, son<strong>der</strong>n aus se<strong>in</strong>em Innern.“ 53<br />
Damit wird deutlich, <strong>in</strong> welcher Weise die perfekte Harmonie <strong>des</strong> klassischen <strong>lyrischen</strong><br />
Bil<strong>des</strong> den von Walther Killy metaphorisch angeführten Zentrifugalkräften erliegt: <strong>der</strong> Anteil<br />
<strong>der</strong> realen Anschauung, für Goethe <strong>der</strong> Ausgangspunkt, tritt deutlich zurück. Die<br />
emotionale Komponente wiegt nun schwerer, steht ganz im Vor<strong>der</strong>grund. Mehr noch: sie<br />
wird primär konstituierend. Re<strong>in</strong>hard L<strong>in</strong>denhahn drückt es so aus:<br />
Romantische Gedichte unterscheiden sich <strong>in</strong> vielerlei H<strong>in</strong>sicht etwa von <strong>der</strong> Lyrik <strong>der</strong> Weimarer<br />
Klassik. Sie s<strong>in</strong>d häufig nur assoziativ erfassbar, d. h., sie wollen <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Gefühle,<br />
Stimmungen vermitteln, wollen die Leser teilhaben lassen an dem Prozess <strong>des</strong> eigenen<br />
Poetisierens. Damit ist oft auch e<strong>in</strong>e starke Musikalität verbunden. Romantische Lyrik will<br />
mehr se<strong>in</strong> als Sprache. Sie will über das Geflecht von Worten, Lauten und Betonungen h<strong>in</strong>aus<br />
<strong>in</strong> den Bereich <strong>der</strong> Musik vorstoßen, denn Musik war für die Romantiker die höchste, weil<br />
vergänglichste aller Künste. 54<br />
In ihrem Bemühen um Abgrenzung gegen klassische und realistische Richtungen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Literatur setzen Romantiker die Poesie absolut und Novalis formuliert <strong>in</strong> den „Neuen<br />
Fragmenten“:<br />
"Der Poet versteht die Natur besser wie <strong>der</strong> wissenschaftliche Kopf. [...] Die Poesie ist das<br />
echt absolut Reelle. Dies ist <strong>der</strong> Kern me<strong>in</strong>er Philosophie. Je poetischer, je wahrer."<br />
51 Petruschke 2004, S. 56<br />
52 Zit. nach van R<strong>in</strong>sum, a.a.O., S.117<br />
53 Petruschke 2004, S. 56f<br />
54 L<strong>in</strong>denhahn: Romantik, S. 19<br />
18
E<strong>in</strong> Anspruch, <strong>der</strong> auf Dauer nicht e<strong>in</strong>zulösen war. Killy konstatiert, die romantische Chiffre<br />
betreffend:<br />
„Dem absoluten Gefühl ist die Natur nicht mehr selbst bedeutend: sie wird zur Chiffre <strong>der</strong><br />
persönlichen Empf<strong>in</strong>dung, die ke<strong>in</strong>e Grenze kennt. Die Bestimmtheit <strong>des</strong> Gegenstan<strong>des</strong> löst<br />
sich ebenso auf wie diejenige <strong>der</strong> Person; das Bild hat nicht mehr auch äußerlich-<strong>in</strong>haltliche<br />
Bedeutung, son<strong>der</strong>n es wird vor allem zum Stimmungsträger. [...] So kommt es, daß das<br />
romantische Gedicht zumeist nicht nur mehr von e i n e m sich <strong>in</strong> Raum und Zeit entfaltenden<br />
Bilde lebt. Es reiht viele Bil<strong>der</strong>, Bil<strong>der</strong>fluchten ständiger Gemütsspiegelung, ohne<br />
Verweilen auf- und abkl<strong>in</strong>gend. Ke<strong>in</strong>e Figur wird festgehalten, vielmehr geht sie sogleich <strong>in</strong><br />
Seelenraum über.“ 55<br />
Grundlagentext zur Epoche Barock vom<br />
Bayerischen Rundfunk<br />
Auszug aus Novalis’ Neuen Fragmenten<br />
Romantik_Epoche.doc<br />
Novalis_Neue-Fragmente_Auszug.doc<br />
6 Me<strong>in</strong> Pferd für’n gutes Bild!<br />
<strong>Liebeslyrik</strong> He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>es<br />
Der Verschleiß von Bil<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> Romantik, all <strong>der</strong> tausendfach <strong>in</strong> die poetische Schlacht<br />
geworfenen Blumen, Rehe, Nachtigallen, Monde usw., die heutige Leser unter dem E<strong>in</strong>druck<br />
epigonaler Nachwirkungen <strong>der</strong> Romantik als kitschig empf<strong>in</strong>den - wer vermöchte im<br />
21. Jahrhun<strong>der</strong>t noch „romantisch“ zu fühlen -, br<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>en Dichter am Ende <strong>der</strong> Epoche<br />
<strong>in</strong> Bedrängnis. Mit He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e fühlen wir ohne Mühe, wenn er ausruft: „E<strong>in</strong> Bild! E<strong>in</strong><br />
Bild! Me<strong>in</strong> Pferd für’n gutes Bild.“ 56<br />
Das auf <strong>der</strong> nächsten Seite wie<strong>der</strong>gegebene Gedicht <strong>des</strong> 26-Jährigen, vier Jahre vor dem<br />
»Buch <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong>« <strong>in</strong> <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er Studienzeit entstanden, formal aus drei Sonetten<br />
bestehend, beg<strong>in</strong>nt mir e<strong>in</strong>em Paukenschlag: <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unverblümten Imperativ for<strong>der</strong>t das<br />
lyrische Ich das Du auf, Berl<strong>in</strong> den Rücken zu kehren, wegzugehen. Weg wovon? Von <strong>der</strong><br />
entzauberten Welt hegelschen Denkens; bei Hegel studiert He<strong>in</strong>e zu jener Zeit. Weg,<br />
woh<strong>in</strong>? Das Land, Indien, wird gleich im ersten Vers <strong>der</strong> zweiten Strophe genannt, doch<br />
damit nicht genug. Der Werbende zündet e<strong>in</strong> Feuerwerk beziehungsreicher Bil<strong>der</strong>, die<br />
se<strong>in</strong>e Auffor<strong>der</strong>ung stützen sollen, bunte Bil<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Schönheit und dem Zauber <strong>des</strong><br />
exotischen Lan<strong>des</strong>, das zu jener Zeit bei den deutschen Gebildeten gerade sehr en vogue<br />
ist. Die Sprache er<strong>in</strong>nert an Goethes rund zwanzig Jahre älteres Mignon-Lied aus den<br />
»Lehrjahren«:<br />
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,<br />
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,<br />
E<strong>in</strong> sanfter W<strong>in</strong>d vom blauen Himmel weht,<br />
Die Myrte still und hoch <strong>der</strong> Lorbeer steht,<br />
Kennst du es wohl?<br />
Dah<strong>in</strong>! Dah<strong>in</strong><br />
Möcht' ich mit dir, o me<strong>in</strong> Geliebter, ziehn!<br />
[...] 57<br />
55 Killy: <strong>Wandlungen</strong>, S. 27 f<br />
56 Neue Gedichte, Frie<strong>der</strong>ike 3, <strong>in</strong>: He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e: Werke und Briefe <strong>in</strong> zehn Bänden. Herausgegeben von<br />
Hans Kaufmann, 2. Auflage, Berl<strong>in</strong> und Weimar: Aufbau, 1972, S. 269 ff<br />
57 Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Goethe-HA Bd. 7, S. 145<br />
19
He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e (1797 – 1856)<br />
Friedrike (1823)<br />
1<br />
2<br />
Verlaß Berl<strong>in</strong>, mit se<strong>in</strong>em dicken Sande<br />
Und dünnen Tee und überwitz'gen Leuten,<br />
Die Gott und Welt, und was sie selbst bedeuten,<br />
Begriffen längst mit Hegelschem Verstande.<br />
15<br />
Der Ganges rauscht, mit klugen Augen schauen<br />
Die Antilopen aus dem Laub, sie spr<strong>in</strong>gen<br />
Herbei mutwillig, ihre bunten Schw<strong>in</strong>gen<br />
Entfaltend, wandeln stolzgespreizte Pfauen.<br />
5<br />
Komm mit nach Indien, nach dem Sonnenlande,<br />
Wo Ambrablüten ihren Duft verbreiten,<br />
Die Pilgerscharen nach dem Ganges schreiten,<br />
Andächtig und im weißen Festgewande.<br />
20<br />
Tief aus dem Herzen <strong>der</strong> bestrahlten Auen<br />
Blumengeschlechter, viele neue, dr<strong>in</strong>gen,<br />
Sehnsuchtberauscht ertönt Kokilas S<strong>in</strong>gen –<br />
Ja, du bist schön, du schönste aller Frauen!<br />
10<br />
Dort, wo die Palmen wehn, die Wellen bl<strong>in</strong>ken,<br />
Am heil'gen Ufer Lotosblumen ragen<br />
Empor zu Indras Burg, <strong>der</strong> ewig blauen;<br />
25<br />
Gott Kama lauscht aus allen de<strong>in</strong>en Zügen,<br />
Er wohnt <strong>in</strong> de<strong>in</strong>es Busens weißen Zelten,<br />
Und haucht aus dir die lieblichsten Gesänge;<br />
Dort will ich gläubig vor dir nie<strong>der</strong>s<strong>in</strong>ken,<br />
Und de<strong>in</strong>e Füße drücken, und dir sagen:<br />
»Madame! Sie s<strong>in</strong>d die schönste aller Frauen!«<br />
Ich sah Wassant auf de<strong>in</strong>en Lippen liegen,<br />
In de<strong>in</strong>em Aug' entdeck ich neue Welten,<br />
Und <strong>in</strong> <strong>der</strong> eignen Welt wird's mir zu enge.<br />
3<br />
30<br />
35<br />
Der Ganges rauscht, <strong>der</strong> große Ganges schwillt,<br />
Der Himalaja strahlt im Abendsche<strong>in</strong>e,<br />
Und aus <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Banianenha<strong>in</strong>e<br />
Die Elefantenherde stürzt und brüllt –<br />
E<strong>in</strong> Bild! E<strong>in</strong> Bild! Me<strong>in</strong> Pferd für'n gutes Bild!<br />
Womit ich dich vergleiche, Schöne, Fe<strong>in</strong>e,<br />
Dich Unvergleichliche, dich Gute, Re<strong>in</strong>e,<br />
Die mir das Herz mit heitrer Lust erfüllt!<br />
Vergebens siehst du mich nach Bil<strong>der</strong>n schweifen,<br />
Und siehst mich mit Gefühl und Reimen r<strong>in</strong>gen –<br />
Und, ach! du lächelst gar ob me<strong>in</strong>er Qual!<br />
40<br />
Doch lächle nur! Denn wenn du lächelst, greifen<br />
Gandarven nach <strong>der</strong> Zither, und sie s<strong>in</strong>gen<br />
Dort oben <strong>in</strong> dem goldnen Sonnensaal.<br />
Hier wie da wird das Land <strong>der</strong> Sehnsucht durch vielfältige Attribute charakterisiert, Bil<strong>der</strong>,<br />
die den Leser ästhetisch ansprechen sollen. Bei Goethe steht die Auffor<strong>der</strong>ung am Ende<br />
je<strong>der</strong> <strong>der</strong> drei Strophen und sie drückt die Absicht <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Ich aus. He<strong>in</strong>e verfährt<br />
an<strong>der</strong>s. Das Traumgebilde <strong>des</strong> fernen Lan<strong>des</strong> enthält, ungeachtet <strong>der</strong> Exotik, e<strong>in</strong>e Reihe<br />
romantischer Bildmotive: Andacht, Rauschen <strong>des</strong> Flusses, Flora, Fauna, Auen, Blumen,<br />
Abend; man könnte glauben, He<strong>in</strong>e wolle die Romantiker durch Masse übertreffen, doch<br />
ne<strong>in</strong>, die Fülle ist nur Ausdruck <strong>der</strong> verzweifelten – und erfolglosen – Suche (V. 33, V. 37),<br />
ke<strong>in</strong> Feuerwerk, nur e<strong>in</strong> Strohfeuer. Und wozu die Mühe? „Womit ich Dich vergleiche,<br />
Schöne, Fe<strong>in</strong>e“ (V. 36). He<strong>in</strong>es großes lyrisches Thema, die Klage <strong>des</strong> vergebens<br />
werbenden Liebenden - im »Buch <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong>« wird es zur vollen Entfaltung kommen –<br />
kl<strong>in</strong>gt hier schon an. Was noch fehlt, ist die spöttische Abweisung durch die Angesungene,<br />
die <strong>in</strong> diesem Gedicht nur e<strong>in</strong>mal tröstlich lächeln darf, ansonsten Objekt bleibt.<br />
Und Gott und Religion? Was für e<strong>in</strong>e Art Glaube ist es, von dem beseelt <strong>der</strong> Liebende <strong>in</strong><br />
Vers 12 vor <strong>der</strong> Frau nie<strong>der</strong>s<strong>in</strong>kt? Bestimmt nicht <strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> Romantik. Hier bef<strong>in</strong>det sich<br />
<strong>der</strong> poetische Geist <strong>in</strong> heidnischen Gefilden: „Pilgerscharen“ (V. 7), „Am heil’gen Ufer“ <strong>des</strong><br />
Ganges (V. 10), „Andächtig und im weißen Festgewande“ (V. 8), „Gott Kama“ (V. 23).<br />
20
Das romantische Bild<strong>in</strong>ventar hat se<strong>in</strong>e Zauberkraft verloren, trotz gesteigerter und<br />
multiplizierter Anwendung bleibt es wirkungslos, zu Fall gebracht von jenen „überwitz’gen<br />
Leuten“ im sandigen Berl<strong>in</strong>, die „dünnen Tee“ tr<strong>in</strong>ken. He<strong>in</strong>e lesend, erleben wir die<br />
Zerstörung <strong>des</strong> romantischen Bil<strong>des</strong> mit. Kurt B<strong>in</strong>neberg charakterisiert He<strong>in</strong>es Verhältnis<br />
zur Romantik so:<br />
He<strong>in</strong>es <strong>Liebeslyrik</strong> ist durch die Übernahme von Motiven und Stimmungen, die vor allem auf<br />
das Grun<strong>der</strong>lebnis <strong>der</strong> unerfüllten Sehnsucht zurückgehen, mit <strong>der</strong> Romantik eng verbunden<br />
und von ihr aus zu verstehen. Viele se<strong>in</strong>er Gedichte bezeugen e<strong>in</strong> wirkliches Nachfühlen <strong>der</strong><br />
schwermütigen Traurigkeit romantischer Liebesklage. In an<strong>der</strong>en h<strong>in</strong>gegen sche<strong>in</strong>t er auf<br />
artistische Weise mit diesen Gefühlen nur zu spielen, ihnen absichtlich sentimentale<br />
Tendenzen zu verleihen, sich über sie lustig zu machen. 58<br />
Zwischen den Epochen stehend, noch Romantiker, aber schon mit realistischer Skepsis,<br />
gestaltet <strong>der</strong> <strong>in</strong>tellektuell brillante und überaus gewitzte He<strong>in</strong>e wegweisende Poesie:<br />
Ihre E<strong>in</strong>zigartigkeit erreicht die Lyrik He<strong>in</strong>es durch die ironische Brechung <strong>der</strong> Gefühle und<br />
Erlebnisse, die poetische Illusion wird durch geistreiche Po<strong>in</strong>ten im Zusammenspiel mit<br />
Reflexion <strong>des</strong> Dichters zerstört. In ihrer Variierung <strong>der</strong> Distanzmöglichkeiten, im Reiz <strong>der</strong><br />
Dissonanz, <strong>in</strong> <strong>der</strong> überraschenden Zusammenschau disparater Elemente bee<strong>in</strong>flusste He<strong>in</strong>es<br />
Lyrik entscheidend das mo<strong>der</strong>ne Gedicht. 59<br />
Dabei ist nicht zu vergessen, wie sehr He<strong>in</strong>e die Romantiker politisch ablehnte wegen ihres<br />
Konservatismus, <strong>der</strong> sich ausdrückt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er s<strong>in</strong>nenfe<strong>in</strong>dlichen, unemanzipierten Haltung, <strong>in</strong><br />
feudal-katholischen Werten, <strong>in</strong> deutsch-nationalem Streben und entsprechen<strong>der</strong><br />
Ablehnung alles Französischen, das man welsch<br />
nannte.<br />
Am Ende se<strong>in</strong>es Lebens charakterisiert sich<br />
He<strong>in</strong>e selbst po<strong>in</strong>tiert als „romantique défroqué“.<br />
Das französische Adjektive défroqué bezeichnet<br />
e<strong>in</strong>en Mönch, <strong>der</strong> die Kutte abgelegt hat und<br />
damit auch <strong>der</strong> Religion absagt. 60<br />
He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e (1797 – 1856)<br />
Das Buch <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong><br />
42<br />
Teurer Freund! Was soll es nützen,<br />
Stets das alte Lied zu leiern?<br />
Willst du ewig brütend sitzen<br />
Auf den alten Liebeseiern?<br />
5<br />
10<br />
He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e (1797 – 1856)<br />
Das Buch <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong><br />
52<br />
Mir träumte wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> alte Traum:<br />
Es war e<strong>in</strong>e Nacht im Maie,<br />
Wir saßen unter dem L<strong>in</strong>denbaum,<br />
Und schwuren uns ewige Treue,<br />
Das war e<strong>in</strong> Schwören und Schwören aufs neu',<br />
E<strong>in</strong> Kichern, e<strong>in</strong> Kosen, e<strong>in</strong> Küssen;<br />
Daß ich gedenk <strong>des</strong> Schwures sei,<br />
Hast du <strong>in</strong> die Hand mich gebissen.<br />
O Liebchen mit den Äugle<strong>in</strong> klar!<br />
O Liebchen schön und bissig!<br />
Das Schwören <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ordnung war,<br />
Das Beißen war überflüssig.<br />
5<br />
Ach! das ist e<strong>in</strong> ewig Gattern,<br />
Aus den Schalen kriechen Küchle<strong>in</strong>,<br />
Und sie piepsen und sie flattern,<br />
Und du sperrst sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Büchle<strong>in</strong>.<br />
He<strong>in</strong>es Arznei gegen die Melancholie heißt<br />
Ironie. Durch ironische Brechung, Spott,<br />
Witz, boshafte Assoziationen, stellt er<br />
Distanz her zwischen sich und dem<br />
unauflöslichen Wi<strong>der</strong>spruch. Doch bleibt<br />
die Melancholie se<strong>in</strong> dauern<strong>der</strong> Begleiter.<br />
Distanz schafft auch das von He<strong>in</strong>e<br />
vielfach bemühte Motiv <strong>des</strong> Traums, nicht<br />
nur <strong>in</strong> den „Traumbil<strong>der</strong>n“, son<strong>der</strong>n auch<br />
an<strong>der</strong>norts, wie hier im „Lyrischen Intermezzo“.<br />
das Gedicht „Mir träumte wie<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> alte Traum“ ist zugleich e<strong>in</strong> Maigedicht,<br />
es ist e<strong>in</strong> Gedicht mit romantischsentimentalen<br />
Motiven: Nacht, Mai, L<strong>in</strong>-<br />
58 B<strong>in</strong>neberg, Kurt, <strong>Liebeslyrik</strong>. Lektürehilfen. Stuttgart, Klett 2007, S. 63<br />
59 Der Brockhaus Multimedial, 2008, Stichwort „He<strong>in</strong>e“<br />
60 He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e. Historisch-kritische Gesamtausgabe <strong>der</strong> Werke (Düsseldorfer Ausgabe), hrsg. von Manfred<br />
W<strong>in</strong>dfuhr. Hamburg, Hoffmann und Campe 1973 ff, Bd. 15, S. 13<br />
21
denbaum, ewige Treue, Schwur, Kuss. Auch an Dim<strong>in</strong>utiven fehlt es nicht: Liebchen,<br />
Äugle<strong>in</strong>. Das Rokoko sche<strong>in</strong>t auf im sechsten Vers, im heiteren Kichern, Kosen, Küssen.<br />
Gebrochen wird die romantische Folie durch den Biss, die unzweideutige Antwort <strong>der</strong><br />
Angesungenen. Das lyrische Ich enthält sich jedoch nicht e<strong>in</strong>er differenzierten Bewertung<br />
am Schluss <strong>des</strong> Gedichts.<br />
Über 10.000 Mal wurden Gedichte aus dem »Buch <strong>der</strong> Lie<strong>der</strong>« vertont. E<strong>in</strong> Beispiel f<strong>in</strong>det<br />
sich auf <strong>der</strong> Begleit-CD.<br />
„Mir träumte wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> alte Traum“, e<strong>in</strong>e Vertonung<br />
<strong>des</strong> Gedichts im Zusammenhang mit<br />
dem Literatur-Café<br />
he<strong>in</strong>e_mir_traeumte_wie<strong>der</strong>_<strong>der</strong>_alte<br />
_traum.mp3<br />
7 Bertolt Brecht: <strong>Liebeslyrik</strong> im Kontext <strong>des</strong><br />
epischen Theaters<br />
Von <strong>der</strong> zwanzigbändigen Gesamtausgabe <strong>des</strong> Werks von Bertolt Brecht entfallen<br />
immerh<strong>in</strong> drei Bände auf Gedichte. Für diese Arbeit soll beispielhaft e<strong>in</strong> Gedicht betrachtet<br />
werden, das nicht eigentlich alle<strong>in</strong>e zu betrachten ist, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie als Teil e<strong>in</strong>es<br />
größeren literarischen Textes, e<strong>in</strong>es Stücks, wie Brecht se<strong>in</strong>e Dramen nennt. Zugleich<br />
gehört es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von Liebessonetten zum Thema käufliche Liebe o<strong>der</strong> unpersönliche<br />
Liebe, die Brecht <strong>in</strong> den Zwanzigern schrieb.<br />
„Die Liebenden“ 61 ist als Song <strong>in</strong> <strong>der</strong> Oper „Aufstieg und Fall <strong>der</strong> Stadt Mahagonny“<br />
enthalten. In <strong>der</strong> 14. Szene, vor <strong>der</strong> Kulisse e<strong>in</strong>er ärmlichen Bar, s<strong>in</strong>gen ihn die Prostituierte<br />
Jenny und <strong>der</strong> Holzfäller Paul Ackermann im Wechsel. Auf den kommentierenden Tafeln<br />
im H<strong>in</strong>tergrund liest <strong>der</strong> Zuschauer den m<strong>in</strong>imalen Text „LIEBEN“ <strong>in</strong> riesigen Lettern. Das<br />
Gedicht ist hier im die letzten Verse auftrennenden Satz <strong>des</strong> Operntextes wie<strong>der</strong>gegeben,<br />
die Zuordnung zu Jenny und Paul <strong>in</strong> <strong>der</strong> rechten Spalte angezeigt. Die Verszahlen zeigen<br />
die Anordnung <strong>in</strong> Gedichtform. Die letzte vier Verse s<strong>in</strong>d nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fassung enthalten,<br />
die Brecht 1952 <strong>in</strong> »Hun<strong>der</strong>t Gedichte« aufnahm.<br />
Die Bildlichkeit dieses Gedichts kontrastiert den düsteren dramatischen Kontext, verlagert<br />
den gesamten Themenkomplex Liebe <strong>in</strong> die geradezu schwerelose Sphäre <strong>der</strong> Luft und<br />
<strong>des</strong> Fluges. Als Kraniche ersche<strong>in</strong>en die Liebenden.<br />
Die sie begleitenden Wolken s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Symbol für die Liebe: schwerelos, ohne Ziel treibend,<br />
<strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verschlungen. 62<br />
Im Dialog entfaltet sich e<strong>in</strong> Bild re<strong>in</strong>er Liebe, durch Höhe geschieden von den elenden<br />
Lebensbed<strong>in</strong>gungen am Boden, dem Ort kapitalistischer Realität. Wenn sich die Prostituierte<br />
Jenny dabei dennoch e<strong>in</strong>es von Schwärmerei freien Vokabulars bedient, kommt<br />
hier Brechts lyrische Position seit Mitte <strong>der</strong> zwanziger Jahre – <strong>in</strong> Abgrenzung zu Ra<strong>in</strong>er<br />
Maria Rilke, Franz Werfel o<strong>der</strong> Stefan George - zum Ausdruck:<br />
Brechts revolutionärste Tat als Dichter war das, was er die ‚Sprachwaschung’ nannte. Damit,<br />
daß er se<strong>in</strong>e Diktion von allem ornamentalen und sentimentalen Beiwerk entkleidete, vermied<br />
61 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, Suhrkamp 1967. Stücke, Band 2, S. 535f<br />
Manfred Zapatka liest dieses Gedicht auf <strong>der</strong> CD Ich liebe Dich. Prom<strong>in</strong>ente Stimmen lesen <strong>Liebeslyrik</strong>. Hrsg.<br />
von Gabriele Kreis. Hamburg, Hörbuch-Verlag, 2002<br />
62 Langer Klaus und Ste<strong>in</strong>berg, Sven: Deutsche Dichtung. Literaturgeschichte <strong>in</strong> Beispielen für den<br />
Deutschunterricht. München, Bayerischer Schulbuch Verlag 2003, S. 302<br />
22
er die gefährlichen Fußangeln <strong>der</strong> ‚engagierten’ Lyrik und gewann so exemplarische Bedeutung<br />
für viele jüngere Dichter nach dem zweiten Weltkrieg. 63<br />
Hamburger bemerkt aber auch:<br />
[...] se<strong>in</strong> Lied Die Liebenden [...] ist das am nachhaltigsten bee<strong>in</strong>druckende von vielen<br />
Gedichten, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>e recht rauhe Wirklichkeit e<strong>in</strong>e ganz eigene Zartheit <strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dung<br />
abwirft. 64<br />
Bertolt Brecht<br />
Die Liebenden (um 1928)<br />
Sieh jene Kraniche <strong>in</strong> großem Bogen!<br />
Jenny<br />
Die Wolken, welche ihnen beigegeben<br />
Paul<br />
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen<br />
Jenny<br />
Aus e<strong>in</strong>em Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong> andres Leben<br />
Paul<br />
5 In gleicher Höhe und mit gleicher Eile Jenny<br />
Sche<strong>in</strong>en sie alle beide nur daneben.<br />
beide<br />
Daß so <strong>der</strong> Kranich mit <strong>der</strong> Wolke teile<br />
Jenny<br />
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen<br />
Daß also ke<strong>in</strong>es länger hier verweile<br />
Paul<br />
10 Und ke<strong>in</strong>es andres sehe als das Wiegen Jenny<br />
Des an<strong>der</strong>n <strong>in</strong> dem W<strong>in</strong>d, den beide spüren<br />
Die jetzt im Fluge beie<strong>in</strong>an<strong>der</strong> liegen<br />
So mag <strong>der</strong> W<strong>in</strong>d sie <strong>in</strong> das Nichts entführen<br />
Paul<br />
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben<br />
15 Solange kann sie beide nichts berühren Jenny<br />
Solange kann man sie von jedem Ort vertreiben<br />
Paul<br />
Wo Regen drohen o<strong>der</strong> Schüsse schallen.<br />
So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben<br />
Jenny<br />
Fliegen sie h<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ganz verfallen.<br />
20 Woh<strong>in</strong> ihr? Paul<br />
Nirgendh<strong>in</strong>.<br />
Jenny<br />
Von wem davon?<br />
Paul<br />
Von allen. Jenny<br />
21 Ihr fragt, wie lange s<strong>in</strong>d sie schon beisammen? Paul<br />
Seit kurzem.<br />
Jenny<br />
22 Und wann werden sie sich trennen? Paul<br />
Bald.<br />
Jenny<br />
23 So sche<strong>in</strong>t die Liebe Liebenden e<strong>in</strong> Halt. beide<br />
Den Raum umschreibt Brecht mit den Begriffen Wolken [...] Zogen, Höhe, Himmel, W<strong>in</strong>d,<br />
zuletzt, als Ziel, das Nichts. Die Liebenden s<strong>in</strong>d repräsentiert durch die Worte Kraniche,<br />
entflogen, befliegen, im Fluge beie<strong>in</strong>an<strong>der</strong> liegen, Fliegen h<strong>in</strong>. Die heraufbeschworene<br />
Harmonie stören jedoch ab etwa <strong>der</strong> Mitte <strong>des</strong> Gedichts verne<strong>in</strong>ende Vokabeln:<br />
ke<strong>in</strong>es (2x), Nichts, nicht vergeben, nichts berühren, Nirgendh<strong>in</strong>. Und wie das kunstvoll<br />
verschränkte Reimschema ab Vers 20 abbricht, wird <strong>der</strong> fünfhebige Jambus unterbrochen,<br />
teilen sich die beiden Sprecher bis zu vierfach <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Vers. Geradezu hektisch,<br />
hastig wirkt die zum Ende h<strong>in</strong> gesteigerte Dynamik von Rede und Gegenrede <strong>in</strong> immer<br />
63 Michael Hamburger: Die Dialektik <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Konkreten Poesie. München<br />
1972, S. 250<br />
64 a.a.O., S. 255<br />
23
kürzeren Repliken. Und <strong>der</strong> Schlussvers gar relativiert durch das lapidare sche<strong>in</strong>t die<br />
alliterierend formulierte, schöne Vorstellung: die Liebe Liebenden e<strong>in</strong> Halt.<br />
E<strong>in</strong>en Halt, etwas Stabiles, Soli<strong>des</strong>, eben das bietet <strong>der</strong> <strong>in</strong> ständiger Bewegung begriffene<br />
Himmelsraum nicht, das Wiegen [...] <strong>in</strong> dem W<strong>in</strong>d verweist ebenso auf das Transitorische<br />
<strong>der</strong> Liebe, wie e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Begriffen aus dem Kontext Zeit: Eile, kurz, jetzt,<br />
vergehen, bleiben, solange, (2x) wie lange, Seit kurzem, Bald.<br />
Von <strong>der</strong> Erde entkommen, die durch die Begriffe jenem Ort, Regen und Schüsse schallen<br />
angesprochen ist, zeichnet das Gedicht den Liebenden e<strong>in</strong>en ungewissen Weg vor, <strong>der</strong><br />
letztlich wohl <strong>in</strong>s Nichts führen wird; <strong>der</strong> Halt entpuppt sich als bloßer Sche<strong>in</strong>, die Liebe<br />
erfüllt sich <strong>in</strong> Momenten. Heute mag man an den kurzen Zustand <strong>der</strong> Schwerelosigkeit <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em Flugzeug assoziieren, das e<strong>in</strong>en entsprechenden Bogen fliegt, e<strong>in</strong> Phänomen, das<br />
Brecht noch nicht kannte.<br />
8 Loslösung <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong> vom realen<br />
Gegenstand im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
Die Entwicklung <strong>der</strong> Lyrik ab <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong>s 20. ist<br />
vielfältig und nicht <strong>in</strong> wenigen Zeilen zu beschreiben. Als herausragen<strong>des</strong> Phänomen mag<br />
man allerd<strong>in</strong>gs heraus<strong>des</strong>tillieren, dass nach dem Verlust <strong>des</strong> religiösen H<strong>in</strong>tergrun<strong>des</strong> und<br />
<strong>der</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en kosmischen Ordnung e<strong>in</strong>e Tendenz zu erkennen ist: Die<br />
Bil<strong>der</strong> verlieren ihre Entsprechung zu konkreten Gegenständen und Begriffen. Sie entfalten<br />
mehr und mehr e<strong>in</strong> Eigenleben, bis h<strong>in</strong> zum schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> sprachlichen Manifestation<br />
offensichtlichen Paradox, zum Wi<strong>der</strong>spruch, <strong>der</strong> semantisch nicht mehr zu e<strong>in</strong>em<br />
konventionellen S<strong>in</strong>n <strong>in</strong>tegriert werden kann. Historische Erfahrungen, die beiden<br />
Weltkriege, <strong>der</strong> Holocaust, spielen hier e<strong>in</strong>e Rolle; denken wir nur an Theodor W. Adornos<br />
Diktum: „[...] nach Auschwitz e<strong>in</strong> Gedicht zu schreiben, ist barbarisch [...]“. 65<br />
Anhand von Gedichten Gottfried Benns, Else Lasker-Schülers und Ingeborg Bachmanns<br />
stellt Adelheid Petruschke die Entwicklung über die absolute Chiffre h<strong>in</strong> zum <strong>lyrischen</strong><br />
Paradox dar. Sie stütz ihre Ausführungen auf die Arbeit von Hartmut Müller. Im Rahmen<br />
dieser Darstellung ist nur Raum für e<strong>in</strong>e sehr knappe Skizze.<br />
Als theoretische E<strong>in</strong>stimmung auf die Epoche <strong>des</strong> Expressionismus schalten sowohl<br />
Petruschke als auch das Redaktionsteam <strong>des</strong> Oberstufenbands von „Blickfeld Deutsch“ 66<br />
e<strong>in</strong>en Text von Kurt P<strong>in</strong>thus e<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en Auszug aus <strong>der</strong> Vorrede zur Anthologie »Menschheitsdämmerung«.<br />
Gottfried Benn, <strong>der</strong> die Welt als s<strong>in</strong>nentleert begreift, konstituiert neuen S<strong>in</strong>n selbst durch<br />
se<strong>in</strong> lyrisches Schreiben. Die Chiffre als Kunstprodukt leistet dies. Die „Wirklichkeitszertrümmerung“,<br />
wie Benn es nennt, die Trennung von Wort und Gegenstand, ermöglicht<br />
erst den schöpferischen Akt. Die Bil<strong>der</strong> Benns sollen Assoziationen auslösen, die <strong>der</strong> Leser<br />
nachzuvollziehen e<strong>in</strong>geladen ist:<br />
Der Leser o<strong>der</strong> Hörer <strong>des</strong> Gedichts kann an dieser Welt teilhaben, wenn er sich den<br />
Assoziationen öffnet, die Benns Bil<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihm evozieren wollen, wenn er sich beim Lesen und<br />
Interpretieren <strong>der</strong> Gedichte verdeutlicht, dass das lyrische Ich sich <strong>in</strong> völlige Subjektivität<br />
zurückgezogen hat, dass die Worte von Raum, Zeit und Kausalzusammenhängen losgelöst<br />
s<strong>in</strong>d und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weise, wie sie montiert s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> entstehen, e<strong>in</strong>e neue geistige<br />
Dimension erschließen. 67<br />
Die ‚absolute Chiffre’ komb<strong>in</strong>iert völlig unzusammenhängende Wörter und erzeugt dadurch<br />
e<strong>in</strong>e neue poetische Aussage. Hartmut Müller erläutert zum Begriff <strong>der</strong> absoluten Chiffre:<br />
65 In Adornos Essay 'Kulturkritik und Gesellschaft', 1951<br />
66 Blickfeld Deutsch. Oberstufe, hrsg. von Peter Mettenleitner und Stephan Knöbl, Pa<strong>der</strong>born, Schön<strong>in</strong>g 2003,<br />
S. 338<br />
67 Petruschke 2004, S. 11<br />
24
„Für e<strong>in</strong> Gefühl o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Erkenntnis sucht <strong>der</strong> Dichter e<strong>in</strong>e bildliche Entsprechung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
sprachlichen Formulierung, e<strong>in</strong> ‚objective correlative’ (T.S.Eliot). Diese Entsprechung soll im<br />
Leser o<strong>der</strong> Hörer e<strong>in</strong> ähnliches Gefühl, e<strong>in</strong>e ähnliche Vorstellung wecken. H.O. Burger hat<br />
diese mo<strong>der</strong>ne Metapher ‚evokatives Äquivalent’ genannt.“ 68<br />
Als Konsequenz fällt dem Leser auf diese Weise <strong>in</strong> höherem Maße die Aufgabe zu, die<br />
Bedeutung <strong>des</strong> Gedichtes nicht nur zu rezipieren, zu erschließen, verständig<br />
aufzunehmen, son<strong>der</strong>n selbst zu konstituieren, schöpferisch tätig zu se<strong>in</strong>. Die Deutung<br />
e<strong>in</strong>es <strong>lyrischen</strong> Textes selbst gerät damit <strong>in</strong> den Bereich <strong>des</strong> Subjektiven; e i n e korrekte<br />
Interpretation existiert damit noch weit weniger als <strong>in</strong> traditioneller Dichtung.<br />
Unter dem Stichwort „Spezifische Interpretationsschwierigkeiten bei ‚mo<strong>der</strong>ner Literatur’“<br />
f<strong>in</strong>det sich im Oberstufenband von »Blickfeld Deutsch« folgen<strong>der</strong> H<strong>in</strong>weis:<br />
„Die ‚mo<strong>der</strong>ne Literatur’ - e<strong>in</strong>e Bezeichnung, die nicht mit Gegenwartsliteratur gleichgesetzt<br />
werden darf – gilt als spröde, fremd, esoterisch, ja sogar als unzugänglich und verschlossen<br />
(hermetisch). Dies trifft beson<strong>der</strong>s auf die Lyrik zu: ‚Die europäische Lyrik <strong>des</strong><br />
20. Jahrhun<strong>der</strong>ts bietet ke<strong>in</strong>en bequemen Zugang. Sie spricht <strong>in</strong> Rätseln und Dunkelheiten.’<br />
(Hugo Friedrich: Die Struktur <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Lyrik, 1956.)<br />
Wer solche Texte verstehen und deuten will, sollte sich zwei Beobachtungen von T.S. Eliott<br />
immer wie<strong>der</strong> vergegenwärtigen:<br />
- ‚Der S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es Gedichtes kann weiter reichen als die bewusste Absicht se<strong>in</strong>es Dichters.’<br />
- ‚Die Deutung <strong>des</strong> Lesers kann von <strong>der</strong> <strong>des</strong> Verfassers abweichen und doch ebenso gültig –<br />
ja, sie kann sogar besser se<strong>in</strong>. Es kann viel mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gedicht liegen, als dem Verfasser<br />
bewusst war.’“ 69<br />
Den Materialien auf CD-Rom ist auch e<strong>in</strong> Artikel aus dem Brockhaus mit dem Titel „Das<br />
Spektrum mo<strong>der</strong>ner Lyrik“ beigegeben, <strong>der</strong> zur ergänzenden Lektüre empfohlen sei. Da<br />
<strong>der</strong> Autor, Dieter Lamp<strong>in</strong>g, die europäische Dimension mit e<strong>in</strong>bezieht, geht er auch auf<br />
Charles Baudelaire, den häufig als ersten mo<strong>der</strong>nen Lyriker apostrophierten französischen<br />
Dichter <strong>der</strong> Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, und <strong>des</strong>sen Werk »Les Fleurs du Mal« e<strong>in</strong>.<br />
Lexikonartikel: „Das Spektrum mo<strong>der</strong>ner Lyrik“<br />
Liste nützliche Synopsen zum Epochenüberblick<br />
Spektrum-mo<strong>der</strong>ne-Lyrik.doc<br />
Synopsen.doc<br />
9 Literaturverzeichnis<br />
Die verwendete Literatur ist <strong>in</strong> den Fußnoten angeben, darüber h<strong>in</strong>aus enthalten im <strong>der</strong><br />
Gesamt-Literaturliste zur Fortbildung (Bibliografie.doc).<br />
Kurztitel<br />
B<strong>in</strong>neberg 2007 B<strong>in</strong>neberg, Kurt: <strong>Liebeslyrik</strong>. Lektürehilfen. Stuttgart, Klett 2007<br />
Burdorf 1997 Burdorf, Dieter: E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Gedichtanalyse. 2. aktual. u. überarb. Aufl., Stuttgart 1997<br />
Gnüg 1989 Nichts ist versprochen. Liebesgedichte <strong>der</strong> Gegenwart. Hrsg. von Hiltrud Gnüg, Stuttgart, Reclam 1989<br />
Gnüg 2003 Gnüg, Hiltrud, Hrsg.: Liebesgedichte <strong>der</strong> Gegenwart. Interpretationen. Stuttgart, Reclam 2003<br />
Killy: <strong>Wandlungen</strong> Killy, Walther: <strong>Wandlungen</strong> <strong>des</strong> <strong>lyrischen</strong> Bil<strong>des</strong>. Gött<strong>in</strong>gen 1956, 8., neu bearb. Aufl., Gött<strong>in</strong>gen,<br />
Vandenhoeck & Ruprecht 1998<br />
L<strong>in</strong>denhahn/Neugebauer L<strong>in</strong>denhahn, Re<strong>in</strong>hard und Neugebauer, Birgit: Lyrik: Liebe vom Barock bis zur Gegenwart. Hrsg. von<br />
2007<br />
Dietrich Erlach und Bernd Schurf, Berl<strong>in</strong>, Cornelsen 2007<br />
L<strong>in</strong>denhahn: Aufklärung L<strong>in</strong>denhahn, Re<strong>in</strong>hard: Aufklärung. Texte, Übungen. Reihe: Arbeitshefte zur Literaturgeschichte. Berl<strong>in</strong>,<br />
Cornelsen 1995<br />
L<strong>in</strong>denhahn: Barock L<strong>in</strong>denhahn, Re<strong>in</strong>hard (Hrsg.): Barock. Texte, Übungen. Reihe: Arbeitshefte zur Literaturgeschichte.<br />
Berl<strong>in</strong>, Cornelsen 2001<br />
L<strong>in</strong>denhahn: Romantik L<strong>in</strong>denhahn, Re<strong>in</strong>hard: Romantik. Texte, Übungen. Reihe: Arbeitshefte zur Literaturgeschichte. Berl<strong>in</strong>,<br />
Cornelsen 1998<br />
L<strong>in</strong>denhahn: Sturm und L<strong>in</strong>denhahn, Re<strong>in</strong>hard: Sturm und Drang. Texte, Übungen. Reihe: Arbeitshefte zur Literaturgeschichte.<br />
Drang<br />
Berl<strong>in</strong>, Cornelsen 1996<br />
L<strong>in</strong>denhahn: Weimarer L<strong>in</strong>denhahn, Re<strong>in</strong>hard: Weimarer Klassik. Texte, Übungen. Reihe: Arbeitshefte zur Literaturgeschichte.<br />
Klassik<br />
Berl<strong>in</strong>, Cornelsen 1996<br />
Petruschke 2004 Petruschke, Adelheid: Lyrik von <strong>der</strong> Klassik bis zur Mo<strong>der</strong>ne. Stundenblätter Deutsch. Leipzig, Klett<br />
2004<br />
Petruschke 2006 <strong>Liebeslyrik</strong>, ausgewählt von Adelheid Petruschke, Stuttgart, Klett 2006<br />
68 Zit. nach Petruschke, a.a.O., S.11<br />
69 Blickfeld Deutsch. Oberstufe, a.a.O., S. 424<br />
25
E r g ä n z u n g e n<br />
Kurt Schwitters: Anna Blume<br />
Das Gedicht „Anna Blume“ entzieht sich schon formal literarischen Konventionen. An den<br />
Litfasssäulen Hannovers plakatierte Schwitters dieses Liebesgedicht - und erregte den<br />
Volkszorn. In Anthologien f<strong>in</strong>det man es heute wie<strong>der</strong>, wobei <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gabe auffällige<br />
Unterschiede festzustellen s<strong>in</strong>d. Der Zeilenumbruch wird sehr unterschiedlich ausgeführt,<br />
bei Interpunktion und Orthographie f<strong>in</strong>den sich ebenfalls Varianten. Derlei Formalia mögen<br />
den Dadaisten selbst nicht gar so wichtig gewesen se<strong>in</strong>.<br />
Die im <strong>Materialsatz</strong> verwendete Fassung folgt L<strong>in</strong>denhahn/Neugebauer 70 , die nach J.<br />
Schenk, DuMont 1997, S.12<br />
Dadaismus<br />
Künstlerische Bewegung von 1917 – 1923, literarische Reaktion auf den Ersten Weltkrieg.<br />
Bezüge zu Kubismus und futuristischer Malerei.<br />
Die Bewegung <strong>des</strong> Dada ist mehr als e<strong>in</strong>e literarische Strömung. Sie schließt die bildende<br />
Kunst e<strong>in</strong>, sie hat e<strong>in</strong>e ganz eigene philosophische Dimension.<br />
Wichtigste Vertreter: Hans Arp, Hugo Ball, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Raoul<br />
Hausmann.<br />
Stilistische Merkmale: 71<br />
ņ Überw<strong>in</strong>dung herkömmlicher Sprachformen und lyrischer Inhalte<br />
Å° Sprachspiele (Ziel: Freiheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beziehung von Sprache und Wirklichkeit)<br />
Å¢ Sprachrhythmus, Lautmalerei, Assonanz<br />
Å£ umgangsprachliche Anteile<br />
ŧ syntaktische Brechungen<br />
Å• Verstöße gegen die Grammatik,<br />
Å kontrastierende Wortverb<strong>in</strong>dungen und Neologismen<br />
Åß Ablehnung emotionaler Sprechweise<br />
Å® Montagetechnik, Collagepr<strong>in</strong>zip: Verwendung vorgefundener Sätze aus Zeitungen<br />
und Plakaten<br />
Å© Verfremdung<br />
Å Humor<br />
Kurt Schwitters, Dada, die Dadaisten und „Anna Blume“<br />
Schwitters begreift se<strong>in</strong>en Kunst als Dada, ohne sich den Maximen <strong>der</strong> Gruppe völlig<br />
unterzuordnen. Se<strong>in</strong>e bürgerliche Abkunft bleibt <strong>in</strong> ihm immer lebendig und wirksam,<br />
sodass er von Kritikern als janusköpfig misstrauisch beäugt wird. Entsprechend<br />
akzeptieren ihn e<strong>in</strong>ige führende Dadaisten wie Huelsenbeck nicht voll.<br />
Beson<strong>der</strong>s Anna Blume, das Liebesgedicht, steht zwischen überkommenen Formen von<br />
<strong>Liebeslyrik</strong> und ausgeprägter Dada-Wortkunst, wie Schwitters selbst sie <strong>in</strong> phonetischen<br />
Gedichten, gesetzten Buchstabenbil<strong>der</strong>n, Alphabetpoemen, i-Gedichten und freien<br />
Lautgedichten schafft.<br />
70 S. 57. Diese bezieht sich auf „Anna Blume und an<strong>der</strong>e Literatur und Grafik.“ Hg. v. J. Schenk, DuMont 1997,<br />
S.12<br />
71 Frey, Daniel: Kle<strong>in</strong>e Geschichte <strong>der</strong> deutschen Lyrik. München 1998, S. 130 f<br />
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„Anna Blume“ lässt sich als Liebesgedicht lesen. Unumwunden schwärmerisch feiert, preist<br />
das lyrische Ich die Geliebte, wobei ke<strong>in</strong> Mittel zu grotesk o<strong>der</strong> zu schrill ist. Die<br />
sprachliche Gestaltung zeigt deutliche Züge dadaistischer Form, aber eben nicht die o.g.<br />
Ablehnung emotionalen Sprechens.<br />
Auffällige Stilmittel:<br />
Å´ rhythmische, musikalische Komposition<br />
Ũ Repetitio<br />
Å Enumeratio<br />
ÅÆ Verstöße gegen die Grammatik<br />
ÅØ Synästhesie<br />
Å Syllogismus<br />
ű Paradoxon<br />
Å Onomatopöie<br />
Å Sprachspiele<br />
„Anna Blume“ wird 1919 veröffentlicht, dem Jahr, <strong>in</strong> dem Schwitters auch se<strong>in</strong> „Merz“-<br />
Projekt beg<strong>in</strong>nt. Der Name ist e<strong>in</strong>e Verballhornung <strong>des</strong> Begriffes Kommerz. Die<br />
Verwendung nicht nur sprachlicher Versatzstücke, son<strong>der</strong>n sogar <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz von Müll zur<br />
Schaffung von Kunst wird Schwitters 1937 <strong>in</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />
Prangerausstellung „Entartete Kunst“ e<strong>in</strong>en Platz sichern. Die Nazis treiben ihn im selben<br />
Jahr <strong>in</strong>s Exil nach Norwegen.<br />
Kurzbiografien zu Kurt Schwitters<br />
Klaus Stadtmüller über Schwitters<br />
Schwitters-Kurt_Kurzbiografie.doc<br />
Schwitters-Kurt_Kurzbiografie_2.doc<br />
Schwitters_Stadtmüller.doc<br />
E<strong>in</strong>ige Zitate von Kurt Schwitters 72<br />
Zum Kunstbegriff<br />
Me<strong>in</strong> Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfasst zur<br />
künstlerischen E<strong>in</strong>heit. Zuerst habe ich e<strong>in</strong>zelne Kunstarten mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> vermählt. Ich habe<br />
Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, dass die Anordnung rhytmisch e<strong>in</strong>e<br />
Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bil<strong>der</strong> und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze<br />
gelesen werden sollen. Ich habe Bil<strong>der</strong> so genagelt, dass neben <strong>der</strong> malerischen Bildwirkung<br />
e<strong>in</strong>e plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen <strong>der</strong> Kunstarten zu<br />
verwischen.<br />
Zur Collagetechnik<br />
Ich habe Banalitäten vermerzt, d.h. e<strong>in</strong> Kunstwerk aus Gegenüberstellung und Wertung an<br />
sich banaler Sätze gemacht.<br />
72 Zitiert nach Stadtmüller, S. 2 und S. 4<br />
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