AP073(2005) J. Klopfer: Europäische Friedensordnung - DSS
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20 Selbst wenn man dem Überschwang der Kautskyschen Idee von den Vereinigten Staaten Europas nicht folgt, speziell was die Auflösung des Militärs und die Ära des ewigen Friedens betrifft, so scheint mir doch so viel daran richtig: Eine Vereinigung der europäischen Staaten hätte sicher den Krieg nicht abgeschafft, wohl aber vermeiden können, daß die europäischen Mächte übereinander herfallen und einen Weltkrieg herbeiführen, und danach noch einen zweiten. Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob in der damaligen historischen Situation das Friedenskonzept Karl Kautskys mehr Erfolgsaussichten hatte als das Rosa Luxemburgs. Entscheidend ist vielmehr, welches von beiden in der Tendenz mehr für den Frieden bewirken kann. Und das ist für meine Begriffe jenes, das auch bürgerliche Anläufe zur Eindämmung des Militarismus trotz ihrer Halbheiten in das Ringen um einen konkreten, lebensnotwendigen Frieden einbezieht, anstatt sie zu bekämpfen. Während des Ersten Weltkrieges - das hatte ich früher gar nicht zur Kenntnis genommen - war die Idee der Vereinigten Staaten von Europa sogar vom ZK der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands zur politischen Forderung erhoben worden, um solche Kriege künftig auszuschließen. Doch genau dagegen führte Lenin eine scharfe Polemik. Ging es in der Auseinandersetzung zwischen den orthodoxen Sozialdemokraten um Karl Kautsky und den linken um Rosa Luxemburg über die Vereinigten Staaten von Europa um den möglichen Weg zum Frieden, so ging es Lenin in diesem Streit nicht um Frieden, sondern um den Weg zum Sozialismus. Für Lenin waren „die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär.“ 8 Sie wären ein „Abkommen der europäischen Kapitalisten … darüber, wie man gemeinsam den Sozialismus in Europa unterdrücken“ könnte. Das rückständige, „von Altersfäulnis befallene Europa“ wäre dann „die Organisation der Reaktion zur Hemmung der raschen Entwicklung Amerikas“. Vor allem aber, und das ist sein entscheidender Einwand, seien die „Vereinigten Staaten der Welt (nicht aber Europas) … jene staatliche Form der Vereinigung und der Freiheit der Nationen, die wir mit dem Sozialismus verknüpfen“. 9 Doch auch die Losung der Vereinigten Staaten der Welt lehnte er ab, und zwar deshalb, weil „sie die falsche Auffassung von der Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem 8 W. I. Lenin, Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, in: Lenin, Werke, Bd. 21, Berlin 1960, S. 343. 9 Ebenda, S. 345.
Lande und eine falsche Auffassung von den Beziehungen eines solchen Landes zu den übrigen entstehen lassen“ könnte. Daran schließt er einen Gedanken an, mit dem, als dieser drei Jahre später in Rußland verwirklicht wurde, das Verhängnis begann. Er lautet: „Das siegreiche Proletariat dieses Landes würde sich … der übrigen, der kapitalistischen Welt entgegenstellen, würde die unterdrückten Klassen der anderen Länder auf seine Seite ziehen, in diesen Ländern den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen und notfalls sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen.“ 10 Das war nicht ein anderer Weg zum Frieden, das war die Absage an Frieden zugunsten der Weltrevolution. Es war dies keine geniale Weiterentwicklung des Marxismus, sondern Bruch mit dem Marxismus. Als diese Strategie des Sieges des Sozialismus in einem Land realisiert wurde, machte das eine gesamteuropäische Vereinigung für lange Zeit unmöglich. Ich bin noch einmal auf diese strategischen Kontroversen eingegangen, die in der sozialistischen Bewegung am Anfang des vorigen Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Extreme, ausgefochten wurden, weil sie die Vereinigung Europas bis auf den heutigen Tag berühren und in der theoretischen Debatte über das Verhältnis dieser Vereinigung zu Krieg und Frieden hilfreich sein können. Vor allem die Katastrophen der beiden Weltkriege haben dieser Idee zur praktischen Wirksamkeit verholfen. „In den folgenden Generationen hat die Furcht vor einer Wiederkehr der blutigen Exzesse des Nationalismus dazu geführt, auf die Vereinigung Europas zu setzen.“ 11 Man kann wohl sagen, mit der Europäischen Union ist die Idee der Vereinigten Staaten von Europa in den Prozeß ihrer Verwirklichung eingetreten, wenn auch in modifizierter Form, unter veränderten historischen Bedingungen. Die Nationalstaaten der EU sind zwar geblieben und sie werden es noch lange bleiben. Sie sind aber keine Bundesstaaten wie in den USA. Aber sie haben in allen Bereichen der Gesellschaft einen Grad gegenseitiger Bindungen und Abhängigkeiten erreicht, der es, ähnlich wie in einem Bundesstaat, unnötig und auch unmöglich macht, ihre Interessenkonflikte mittels bewaffneter Gewalt auszufechten. Das kann man gar nicht hoch genug schätzen. Es bedeutet, daß mächtige Staaten, die im blutigen 20. Jahrhundert Erzfeinde waren und die furchtbarsten Kriege der bisherigen Geschichte gegeneinander geführt haben, nun 21 10 Ebenda, S. 345 f. 11 J. Kocka, Wo liegst du, Europa?, in: Die Zeit vom 28.11.2002, S. 11.
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Daran schließt er einen Gedanken an, mit dem, als dieser drei Jahre später in<br />
Rußland verwirklicht wurde, das Verhängnis begann. Er lautet: „Das siegreiche<br />
Proletariat dieses Landes würde sich … der übrigen, der kapitalistischen<br />
Welt entgegenstellen, würde die unterdrückten Klassen der anderen Länder auf<br />
seine Seite ziehen, in diesen Ländern den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen<br />
und notfalls sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und<br />
ihre Staaten vorgehen.“ 10<br />
Das war nicht ein anderer Weg zum Frieden, das war die Absage an Frieden<br />
zugunsten der Weltrevolution. Es war dies keine geniale Weiterentwicklung<br />
des Marxismus, sondern Bruch mit dem Marxismus. Als diese Strategie des<br />
Sieges des Sozialismus in einem Land realisiert wurde, machte das eine gesamteuropäische<br />
Vereinigung für lange Zeit unmöglich.<br />
Ich bin noch einmal auf diese strategischen Kontroversen eingegangen, die in<br />
der sozialistischen Bewegung am Anfang des vorigen Jahrhunderts, des Jahrhunderts<br />
der Extreme, ausgefochten wurden, weil sie die Vereinigung Europas<br />
bis auf den heutigen Tag berühren und in der theoretischen Debatte über<br />
das Verhältnis dieser Vereinigung zu Krieg und Frieden hilfreich sein können.<br />
Vor allem die Katastrophen der beiden Weltkriege haben dieser Idee zur<br />
praktischen Wirksamkeit verholfen. „In den folgenden Generationen hat die<br />
Furcht vor einer Wiederkehr der blutigen Exzesse des Nationalismus dazu geführt,<br />
auf die Vereinigung Europas zu setzen.“ 11<br />
Man kann wohl sagen, mit der <strong>Europäische</strong>n Union ist die Idee der Vereinigten<br />
Staaten von Europa in den Prozeß ihrer Verwirklichung eingetreten, wenn<br />
auch in modifizierter Form, unter veränderten historischen Bedingungen. Die<br />
Nationalstaaten der EU sind zwar geblieben und sie werden es noch lange<br />
bleiben. Sie sind aber keine Bundesstaaten wie in den USA. Aber sie haben in<br />
allen Bereichen der Gesellschaft einen Grad gegenseitiger Bindungen und<br />
Abhängigkeiten erreicht, der es, ähnlich wie in einem Bundesstaat, unnötig<br />
und auch unmöglich macht, ihre Interessenkonflikte mittels bewaffneter Gewalt<br />
auszufechten.<br />
Das kann man gar nicht hoch genug schätzen. Es bedeutet, daß mächtige<br />
Staaten, die im blutigen 20. Jahrhundert Erzfeinde waren und die furchtbarsten<br />
Kriege der bisherigen Geschichte gegeneinander geführt haben, nun<br />
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11 J. Kocka, Wo liegst du, Europa?, in: Die Zeit vom 28.11.2002, S. 11.