Die Partei der Freiheit
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Kapitel 6: Friedrich Naumann - ein deutscher Modelliberaler? 225<br />
mehr Menschen als selbstverstandlich hingenommen. 1m Denken dieser Menschen<br />
wurde es mit <strong>der</strong> kapitalistischen RealiHit gleichgesetzt, die immer mehr<br />
von diesem Bild abwich."<br />
Der EinfluB dieser Auffassung war jedoch enorm. Schumpeter beobachtete:<br />
"Gerade dieses Bild wurde von Marx analysiert, und auf dieses Bild stUtzt sich<br />
<strong>der</strong> dilettantische Radikalismus bis zum heutigen Tag." (Schumpeter, 1965, S.<br />
570) Es war auch das Bild, das Naumann ebensowie seine ganze Umgebung unkritisch<br />
akzeptierte, als er seine politische Odyssee begann. Obgleich er den Kapitalismus<br />
spater an<strong>der</strong>s bewerten sollte, pragte die Mar von <strong>der</strong> EntwUrdigung<br />
und <strong>der</strong> Verarmung <strong>der</strong> Arbeiter im Laissez-faire-lndustrialismus seine Ansichten<br />
bis ans Ende seines Lebens.<br />
Naumann setzte seinen Feldzug in seinem nachsten Werk Soziale Briefe an<br />
Reiche Leute fort - eine Versuch, den Reichen das "ProletarierbewuBtsein" naherzubringen<br />
(Naumann, 1895, S. 24). Gegenwartig erfolge die Gesetzgebung<br />
ausschlieBlich zugunsten <strong>der</strong> Besitzenden. Naumanns Meinung zum liberalen<br />
Werk <strong>der</strong> 1860er und 1870er Jahre, zu Freizugigkeit, Gewerbefreiheit usw.<br />
stimmt mit <strong>der</strong>jenigen seiner sozialkonservativen und sozialistischen Mentoren<br />
uberein: "<strong>Die</strong> liberale Gesetzgebungsperiode," behauptet er selbstgewiB, sei "kein<br />
Gluck" gewesen. Sie habe lediglich "die Hebung <strong>der</strong> Starken auf Kosten <strong>der</strong><br />
Schwachen" (Naumann, 1895, S. 47) gebracht. Wenn er sich auch nicht ganz<br />
dazu entschlieBen kann, die marxistische Analyse zur Stellung <strong>der</strong> Arbeit zu teilen,<br />
gefallt er sich doch dabei, mit ihr herumzuspielen. So schreibt er von dem<br />
"Tribut [...] den die Arbeit in allen ihren Formen dafur geben muB, daB sie uberhaupt<br />
existieren darf [...], del' frtiher Frohndienst hieB und del' heute unter an<strong>der</strong>en<br />
Titeln vielleicht nicht weniger schwer auf <strong>der</strong> Bevolkerung lastet."<br />
(Naumann, 1895, S. 42) Es liege in <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> Sache, daB sich die Dinge verschlechterten<br />
- "das Verhaltnis von Kapital und Arbeit verschiebt sich zusehends<br />
zu Gunsten des Kapitals" - und <strong>der</strong> Staat musse mit Gesetzen zur Beschrankung<br />
des Kapitals einspringen. Doch wie in seinen frtiheren Werken verwilft Naumann<br />
die vollkommene Vergesellschaftung als zu radikal; stattdessen predigt er flir eine<br />
gemischte Wirtschaft (mixed economy), mit aktiver Sozialpolitik und Kapitalisten,<br />
die fur all ihre Handlungen <strong>der</strong> Gemeinschaft gegenuber verantwortlich<br />
gemacht werden konnen.<br />
<strong>Die</strong> letzten Seiten dieser kleinen Arbeit sind einer Tirade gegen das Sparen<br />
gewidmet - was eine denkbar gute Probe fiir die Qualitat des Naumannschen<br />
Denkens zu jener Zeit abgibt (Naumann, 1895, S. 5lff.). 1m gegenwartigen Zustand<br />
del' Gesellschaft seien Ersparnisse verheerend. Das gelte selbst fur Ersparnisse<br />
<strong>der</strong> Arbeiter, denn wenn die Arbeiter sparen, indem sie etwa keine Mobel<br />
kaufen, "was tun dann die Tischler?" <strong>Die</strong> Reichen miiBten dazu gebracht werden,<br />
zu verstehen, "daB das Sammeln nicht moglich ist, ohne An<strong>der</strong>en das Brot zu<br />
verkiirzen." Wie ein wahrer BuBprediger scharft Naumann den Reichen ein, gegenuber<br />
<strong>der</strong> Sunde des Sparens stets wachsam zu bleiben: "Bei je<strong>der</strong> Erspamis<br />
solI ibm wenigstens gegenwartig sein, daB Etliche wiirden arbeiten kennen, wenn<br />
er das Geld ausgeben wollte." Unnotig zu sagen, daB Naumann den Folgen keine