Die Partei der Freiheit
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Kapitel 6: Friedrich Naumann - ein deutscher Modelliberaler? 221<br />
gewesen zu sein. In Leipzig und Erlangen ging er dem Studium <strong>der</strong> Theologie<br />
nach, urn dann, als es ihn zur Soziallehre Johann Hinrich Wichems zog, einige<br />
Zeit als Oberhelfer im Rauhen Haus in Hamburg zu verbringen und spater in <strong>der</strong><br />
Inneren Mission in Frankfurt am Main zu dienen. <strong>Die</strong>se Einflusse hatten unzweifelhaft<br />
die groBte Wirkung auf Naumann - und zwar sowohl durch das, was sie<br />
ausschlossen, als auch durch das, was sie mit sich brachten. We<strong>der</strong> tiber das Studium<br />
des Rechts noch tiber eine solide fundierte Sozialwissenschaft (etwa <strong>der</strong><br />
theoretischen Nationalokonomie o<strong>der</strong> Geschichte) gelangte Naumann dazu, sich<br />
mit politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen auseinan<strong>der</strong>zusetzen.<br />
Stattdessen ging er von einer geistigen Welt emotional befrachteter Symbole,<br />
erhabener Geftihle und moralischer Gebote aus. AuBerdem blieb ibm die grundlegend<br />
katholische Naturrechtsidee, die in <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Form eine<br />
Hauptquelle des klassischen Liberalismus ist, verschlossen (vgl. z.B. Naumann,<br />
1964b, S. 69; C:hrist, 1969, S. 50f.).<br />
Obwohl er auf eine kirchliche Laufbahn vorbereitet war, macht Naumann nicht<br />
den Eindruck, mit einem starken religiosen Glauben in irgendeinem traditionellen<br />
Sinn gesegnet gewesen zu sein. Er war unfahig, im christlichen Evangelium <strong>der</strong><br />
ErIosung und <strong>der</strong> personlichen Errettung Elfullung zu finden (C:onze, 1950, S.<br />
381). Wie es einem jungen Kirchenamtsanwarter geziemte, fuhlte er sich <strong>der</strong><br />
Nachstenliebe zugetan, doch das blieb, wie er sich ausdruckte, "eine Flamme rur<br />
die kein Docht sich zeigte," bis er die Konzepte des Christlich-Sozialen und des<br />
Evangelisch-Sozialen entdeckte. Dann erst kamen Naumann und seine Freunde<br />
"zur Heimat, zur Klassenbewegung <strong>der</strong> abhangigen Leute." (Naumann, 1964a, S.<br />
583f.) Er fing an, "unseren Heiland sozial zu verstehen, das heiBt, ibn in seiner<br />
Stellung zu Herrschem und Beherrschten, Reichen und Annen genau zu<br />
verfolgen."<br />
Es war folglich die politische - o<strong>der</strong>, wie Naumann lieber sagte, die soziale <br />
Auffassung von Jesus, die seine Phantasie von fruh an beschaftigte. Spater gab er<br />
ohne jede sichtbare Verlegenheit zu: "Wir wollten Jesus einfach als hohen und<br />
obersten Anwalt modemer Wirtschaftsbestrebungen verwenden." (Naumann,<br />
1964a, S. 608) <strong>Die</strong> Reduktion Jesus Christus yom Heiland aller Menschen zum<br />
Ftirsprecher <strong>der</strong> Annen, zu jemand, fur den "die Annen sein Lebensstoff waren,<br />
sein Sorgen, Sinnen, Traumen, Lieben, Leiden, Sterben," (Naumann, I964a, S.<br />
602f., 611) blieb in Naumanns gesamter politischer Laufbahn ebenso unveran<strong>der</strong>t,<br />
wie auch seine Gleichsetzung <strong>der</strong> "Reichen" mit tyrannischen "Herrschem."<br />
Naumann widmete sich einer "intensive[n], religios-soziologische[n] Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit <strong>der</strong> marxistischen Gesinnung," und studierte dabei die Werke<br />
Marxens, Engels' und Bebels, wie auchdie Lassalles und an<strong>der</strong>er. (Heuss, 1960,<br />
S. 24) Wieviel er yom Marxismus begriffen hat, ist angesichts seiner Interpretation,<br />
daB Marx "eine ruhige beobachtende [sic] Philosophie" mit einem "revolutionare[n]<br />
Drangen" (Naumann, I964a, S. 570) vereint habe, schwer zu sagen.<br />
Heuss zufolge war Naumann nichtsdestoweniger "uberwaltigt von den groBen<br />
logischen Vereinfachungen" des Marxismus (Heuss, 1949, S. 308) - eine verstandliche<br />
Reaktion fUr jemanden ohne kritisch-analytischen Zugang zu Ideen.