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Immanuel Kants Kritik jeder Theodizee

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<strong>Immanuel</strong> <strong>Kants</strong> <strong>Kritik</strong> <strong>jeder</strong> <strong>Theodizee</strong><br />

Dennoch meldet sich Mitte des 18.Jahrhunderts <strong>Kritik</strong>: Zum einen wenden sich Philosophen<br />

gegen Leibniz, die stärker als er auf die Erfahrungen setzen, die Menschen in ihrem gesellschaftlichen<br />

Alltag machen und die nun eben nicht den Eindruck vermitteln, in der bestmöglichen aller<br />

Welten zu leben; dazu trugen in besonderer Weise das Entsetzen und die Erschütterung einer<br />

optimistischen Welt- und Wirklichkeitsauffassung, wie sie Leibniz' noch hatte, bei, die durch das<br />

Erdbeben von Lissabon am 1.11.1755 bewirkt wurden.<br />

…<br />

Zum anderen fragen sich Philosophen, ob Leibniz' logisches System<br />

eigentlich wirklich so vernünftig ist, wie er es beansprucht.<br />

In besonderer Weise ist es der deutsche Philosoph IMMANUEL<br />

KANT (1724-1804), der im Zusammenhang mit dem<br />

<strong>Theodizee</strong>-Problem Argumentationen wie der von Leibniz auf<br />

zweierlei Weise die Grundlage entziehen will, wie schon der Titel<br />

seiner Schrift von 1791 Über das Mißlingen aller philosophischen<br />

Versuche in der <strong>Theodizee</strong> programmatisch anzeigt: Zum einen hält er<br />

die inhaltliche Argumentation für nicht haltbar, un-vernünftig, zum<br />

anderen bestreitet er, daß überhaupt die Vernunft das leisten könne,<br />

was man von ihr beim Versuch einer <strong>Theodizee</strong> erwarte.<br />

Was solle denn, so fragt er, die <strong>Theodizee</strong> eigentlich vorstellen?<br />

Unter einer <strong>Theodizee</strong> versteht man die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers<br />

gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt<br />

gegen jene erhebt. 5<br />

Es ist also die menschliche Vernunft, die mit sich selbst in Konflikt gerät über die vermeintlichen<br />

Zweckwidrigkeiten, die sie, die Weisheit des Weltschöpfers vorausgesetzt, festzustellen meint.<br />

Der Mensch bemüht sich darum, Plausibilitäten im Handeln Gottes ausfindig zu machen. Ist er<br />

dazu überhaupt im Stande? Nein, sagt Kant. Die menschliche Vernunft gebe zwar vor, „Gottes<br />

Sache zu verfechten", doch in der Tat sei es „die Sache unserer anmaßenden, hiebei aber ihre<br />

Schranken verkennenden, Vernunft". 6 Sie bewege sich in einem Bereich, der ihr grundsätzlich<br />

unzugänglich sei. Damit hat Kant generell die Möglichkeit einer vernünftigen Beweisführung in<br />

diesem „Rechtshandel vor dem Gerichtshofe der Vernunft" 7 bestritten.<br />

…<br />

Diese Argumentationsgänge resümierend formuliert Kant:<br />

Der Ausgang dieses Rechtshandels vor dem Gerichtshofe der Philosophie ist nun: daß alle<br />

bisherige <strong>Theodizee</strong> das nicht leiste was sie verspricht, nämlich die moralische Weisheit in<br />

der Weltregierung gegen die Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahrung an dieser<br />

Welt zu erkennen gibt, gemacht werden, zu rechtfertigen; obgleich freilich diese Zweifel als<br />

Einwürfe, so weit unsre Einsicht in die Beschaffenheit unsrer Vernunft in Ansehung der<br />

letztern reicht, auch das Gegenteil nicht beweisen können. Ob aber nicht noch etwa mit der<br />

Zeit tüchtigere Gründe der Rechtfertigung derselben erfunden werden könnten, die angeklagte<br />

Weisheit nicht (wie bisher) bloß ab instantia 9 zu absolvieren: das bleibt dabei doch<br />

noch immer unentschieden; wenn wir es nicht dahin bringen, mit Gewißheit darzutun: daß<br />

unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch<br />

Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend<br />

sei; denn alsdann sind alle fernere Versuche vermeintlicher menschlicher Weisheit,<br />

die Wege der göttlichen einzusehen, völlig abgewiesen. Daß also wenigstens eine negative<br />

Weisheit, nämlich die Einsicht der notwendigen Beschränkung unsrer Anmaßungen in<br />

Ansehung dessen, was uns zu hoch ist, für uns erreichbar sei: das muß noch bewiesen<br />

werden, um diesen Prozeß für immmer zu endigen; und dieses läßt sich gar wohl tun. 10


Kant ist der Überzeugung, daß kein Sterblicher mit der Einsicht, wie die von uns erfahrene Welt<br />

(die „Sinnenwelt") mit der übersinnlichen Welt zusammenhängt, begabt ist; bei dieser erkenntniskritischen<br />

Einsicht bleibt Kant aber nicht stehen: Er erläutert die Bedingung der Möglichkeit,<br />

d.h. was – wenn es überhaupt je eine solche geben werde – zu einer ,wahren <strong>Theodizee</strong>' gehöre,<br />

indem er die folgende Unterscheidung einführt:<br />

Alle <strong>Theodizee</strong> soll eigentlich Auslegung der Natur sein, sofern Gott durch dieselbe die<br />

Absicht seines Willens kund macht. Nun ist jede Auslegung des deklarierten Willens eines<br />

Gesetzgebers entweder doktrinal oder authentisch. Die erste ist diejenige, welche jenen<br />

Willen aus den Ausdrükken, deren sich dieser bedient hat, in Verbindung mit den sonst<br />

bekannten Absichten des Gesetzgebers, herausvernünftelt; die zweite macht der Gesetzgeber<br />

selbst.<br />

Die Welt, als ein Werk Gottes, kann von uns auch als eine göttliche Bekanntmachung der<br />

Absichten seines Willens betrachtet werden. Allein hierin ist sie für uns oft ein verschlossenes<br />

Buch; <strong>jeder</strong>zeit aber ist sie dies, wenn es darauf angesehen ist, sogar die<br />

Endabsicht Gottes (welche <strong>jeder</strong>zeit moralisch ist) aus ihr, obgleich einem Gegenstande der<br />

Erfahrung, abzunehmen. Die philosophischen Versuche dieser Art Auslegung sind<br />

doktrinal, und machen die eigentliche <strong>Theodizee</strong> aus, die man daher die doktrinale nennen<br />

kann.— Doch kann man auch der bloßen Abfertigung aller Einwürfe wider die göttliche<br />

Weisheit den Namen einer <strong>Theodizee</strong> nicht versagen, wenn sie ein göttlicher Machtspruch,<br />

oder (welches in diesem Falle auf eins hinausläuft) wenn sie ein Ausspruch der selben<br />

Vernunft ist, wodurch wir uns den Begriff von Gott als einem moralischen und weisen<br />

Wesen notwendig und vor aller Erfahrung machen. Denn da wird Gott durch unsre Vernunft<br />

selbst der Ausleger seines durch die Schöpfung verkündigten Willens; und diese Auslegung<br />

können wir eine authentische <strong>Theodizee</strong> nennen. Das ist aber alsdann nicht Auslegung einer<br />

vernünftelnden (spekulativen), sondern einer machthabenden praktischen Vernunft, die, so<br />

wie sie ohne weitere Gründe im Gesetzgeben schlechthin gebietend ist, als die unmittelbare<br />

Erklärung und Stimme Gottes angesehen werden kann, durch die er dem Buchstaben seiner<br />

Schöpfung einen Sinn gibt. 11<br />

Aufgaben<br />

1. Erörtern Sie die von Kant vorgetragenen und von ihm abgewiesenen Argumente<br />

einer <strong>Theodizee</strong>. Prüfen Sie, ob sich dazu aus der Beschäftigung mit der<br />

Hiob-Dichtung vertraute Argumente verwenden lassen.<br />

2. Überprüfen Sie, ob sich <strong>Kants</strong> Unterscheidung zwischen doktrinaler und<br />

authentischer <strong>Theodizee</strong> in Gedanken der Hiob-Dichtung wiederfindet.<br />

5<br />

6<br />

7<br />

9<br />

10<br />

11<br />

<strong>Immanuel</strong> Kant, Werke in zehn Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. 9, Schriften zur Anthropologie,<br />

Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1983, S. 105 [Wiss.Buchgesellschaft].<br />

Kant, ebd.<br />

Kant, ebd.<br />

Ab instantia - lat.: vom gegenwärtigen Zeitpunkt aus.<br />

Kant, S. 114 f.<br />

Kant, S. 115 f<br />

Aus:<br />

A. Willert, Das Leiden der Menschen und der Glaube an Gott, Vandenhoeck & Ruprecht,<br />

Göttingen (1997), S. 100-104

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