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MEISTER ECKHART – DER „LESEMEISTER“ ALS „LEBEMEISTER“

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Bartosz Wójcik<br />

1. Zur Einführung<br />

„Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist“, konstatierte Anfang<br />

des 20. Jahrhunderts der große Philosoph Ludwig Wittgenstein 1 . Diese Bemerkung<br />

offenbart nicht nur Ängste und Zweifel der Neuzeit; sie ist vielmehr eine so<br />

offensichtliche wie notwendige Feststellung menschlichen Bedürfnisses nach<br />

Gotteserfahrung angesichts des Welträtsels. Ähnlich anthropologisch bemerkt im etwa<br />

demselben Zeitraum Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph, in „Ekstase und<br />

Bekenntnis“ 2 , auf die Zeit des Mittelalters <strong>–</strong> wenn auch vom Gesichtspunkt eines<br />

modernen Menschen <strong>–</strong> zurückblickend:<br />

„Wenn wirklich die Religion, wie man sagt, sich „entwickelt“ hat, so kann man<br />

als ein wesentliches Stadium dieses Vorganges die Wandlung ansehen, die sich in<br />

der Auffassung Gottes vollzogen hat. Zuerst scheint der Mensch mit dem Namen<br />

Gottes vornehmlich das erklärt zu haben, was er an der Welt nicht verstand. So<br />

wurde die Ekstase <strong>–</strong> das, was der Mensch an sich am wenigsten verstehen konnte<br />

<strong>–</strong> zu Gottes höchster Gabe.“ 3<br />

So begriffen scheint uns das göttliche Geheimnis, die Antwort auf die Frage nach<br />

dem Sinn unserer Existenz in sich zu tragen, und zugleich auch die Chance zu<br />

gewährleisten, das unmittelbare, mystische Erfahren Gottes, diese Antwort auch für uns<br />

zugänglich zu machen.<br />

Dieses Bedürfnis des Menschen nach Offenbarung des himmelsorientierten irdischen<br />

Ziels beschäftigt den Bürger der Welt seit langem. Der um die Wende vom 13. zum 14.<br />

Jahrhundert lebende Meister Eckhart (Eckart, Eckehart) 4 gilt als Hauptvertreter der<br />

deutschen Mystik. Dieser erst im 19. Jahrhundert entstandene Begriff bezeichnet <strong>–</strong><br />

kurzum <strong>–</strong> eine religiöse Bewegung, die einen direkten Zugang zu Gott suchte. In der Zeit<br />

der reformatorischen Bewegungen, die sich langsam immer weiter ausbreiteten <strong>–</strong> der<br />

Grund dafür war vor allem, allerdings neben den wirtschaftsbedingten Hungersnöten<br />

oder Aufbrüchen lokaler Identitäten, eine offensichtliche Krise im Schoß der Kirche, die<br />

im 16. Jahrhundert zur endgültigen Spaltung jener gewichtigen europäischen Macht<br />

führte <strong>–</strong> wurde nach Lösungen gesucht, die letzten Endes <strong>–</strong> wenngleich zu jener Zeit<br />

wohl noch, nomen est omen, unbewußt <strong>–</strong> das Entstehen eines neuen Bewußtseins zur<br />

Folge hatten. Es waren verschiedenste Wege, die durch diesen Gedanken <strong>–</strong> gediehen ja<br />

schon seit der Zeit einer Hildegard von Bingen <strong>–</strong> gebahnt wurden; von den<br />

Spekulationen eines Meister Eckhart, bis hin zu fraulichen Perzeptionen (wie z.B.<br />

Beginen), denen die gelehrte Theologie verschlossen blieb. Insofern <strong>–</strong> wie es Ferdinand<br />

Seibt in seinem vortrefflichen Buch „Glanz und Elend des Mittelalters“ 5 richtig bemerkt<br />

<strong>–</strong> entstand daraus keine alternative Lebensform 6 , als Tatsache bleibt, daß „das neue<br />

1 Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/Main 1983, S. 114.<br />

2 Einführende Worte zu: Ekstatische Konfessionen, Jena 1909.<br />

3 In: Sloterdijk, P. (Hrsg.), Mystische Zeugnisse, München 1994, S. 55.<br />

4 Im einzigen erhaltenen Originalbrief (1305) unterschreibt er sich mit Ekhardus.<br />

5 Berlin 1987.<br />

6 S. 570.

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