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Rote Revue Nr. 2-2003: Auswandern ... - SP Schweiz

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Zeitschrift für Politik, Wirtschaft<br />

und Kultur<br />

<strong>Nr</strong>. 2/<strong>2003</strong><br />

81. Jahrgang<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong><br />

■ <strong>Auswandern</strong><br />

unmöglich –<br />

Unbehagen im<br />

Kulturkampf<br />

■ Vom Kultur- und<br />

Verteilungskampf in<br />

der <strong>Schweiz</strong><br />

■ Den<br />

Wohlfahrtsstaat<br />

weiterentwickeln


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Editorial 1<br />

Schwerpunkt<br />

Jacqueline Fehr, Andrea Hämmerle und Peter Peyer:<br />

Den Leistungs- und Wohlfahrtsstaat weiterentwickeln 2<br />

Regula Stämpfli:<br />

Vom Plappern über rechte und linke Denkverbote 7<br />

André Daguet:<br />

Linke Positionen für eine soziale <strong>Schweiz</strong> statt politischer Ratlosigkeit 11<br />

Beat Baumann:<br />

Verkäuferinnen, Chauffeure und linke Politik 17<br />

Michael Pfister:<br />

<strong>Auswandern</strong> unmöglich – Das Unbehagen im Kulturkampf 23<br />

Zur Diskussion gestellt<br />

Günter Baigger:<br />

Staatsverschuldung und Finanzierung der Altersvorsorge<br />

in Rahmen der zweiten Säule 30<br />

Repliken<br />

Linda Stibler:<br />

Replik auf <strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 1/<strong>2003</strong> 35<br />

Patricia M. Schiess Rütimann:<br />

Replik auf Peter Knoepfel 37<br />

Chronos<br />

Christian Koller:<br />

Sozialismus in einer Stadt? – Vor 75 Jahren entstand das rote Zürich 40<br />

Bücherwelt<br />

Beat Mazenauer:<br />

Das Individuum an der Globalisierungsfront 45<br />

Lisa Schmuckli:<br />

Analysen linker (Ohn-)Macht-Politik 47<br />

Die Fotos zeigen Grenzgänge – aus der Sicht von Friederike Baetcke<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


EDITORIAL<br />

Nach dem Abstimmungswochenende im November 2002 prägte Claude<br />

Longchamps das Wort der «zwei <strong>Schweiz</strong>en», die sich unversöhnlich gegenüberstehen<br />

und den Fortschritt der <strong>Schweiz</strong> behindern würden. In dieselbe<br />

Kerbe schlug auch der Zürcher Philosoph Georg Kohler, der in einem Interview<br />

im Tages-Anzeiger vom 26. November 2002 von einem Kulturkampf<br />

spricht, der in der <strong>Schweiz</strong> geführt werde. Auch für Kohler stehen zwei Konzepte<br />

der <strong>Schweiz</strong> – politisch repräsentiert in der nach Öffnung und Weltzugewandtheit<br />

bestrebten <strong>SP</strong> und einer die <strong>Schweiz</strong> verklärenden und diese<br />

als Idealstaat abschottenden SVP – in einer Konfrontationsstellung, und<br />

es geht heute gerade darum, dass dieser Kampf öffentlich geführt wird. Entscheidend<br />

ist für Kohler dabei nicht die SVP oder die <strong>SP</strong>, sondern vielmehr<br />

die FDP und die CVP.<br />

Es ist bezeichnend, dass diese beiden Parteien weder in der Asylfrage noch<br />

bei den Fragen um eine Stärkung oder Schwächung des Sozialstaates eine<br />

klare Position beziehen, obwohl gerade diese Fragen zum Kerngeschäft einer<br />

jeden Regierung gehören, die WählerInnen umtreiben und nach einer<br />

Orientierung verlangen. Dies nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Frage<br />

nach der verstärkten Regierungsbeteiligung der SVP, die ja für <strong>2003</strong> vorbereitet<br />

wird. FDP und CVP müssen sich entscheiden oder, wie es Kohler formuliert:<br />

«Das heisst... für CVP und FDP, dass man mit dieser Politik (jener<br />

der SVP) in keiner Weise mehr Kompromisse eingehen kann. Denn diese Politik<br />

zerstört die politische Kultur, aber auch alle Zukunftsmöglichkeiten der<br />

<strong>Schweiz</strong>. Dieser Kulturkampf muss jetzt geführt werden. Die regierenden Eliten<br />

müssen in der Lage sein, den Leuten zu sagen: Wer auf dieser Seite ist,<br />

findet unsere Gegnerschaft, mit ihnen gibt es keine Koalition.» Leider ist festzustellen,<br />

dass weder die CVP noch die FDP klar Position beziehen wollen.<br />

Vielmehr hält ihre Konzeptlosigkeit und Führungsschwäche unvermindert<br />

an. Dies zeigt sich etwa bei der FDP des Kantons Zürich sehr deutlich, die<br />

sich mit dem erneuten Wahlbündnis mit der SVP richtiggehend vorführen<br />

lässt.<br />

In dieser Situation der verstärkten inhaltlich-positionierenden Auseinandersetzung<br />

stellt sich die Frage, welche Politik die <strong>SP</strong> betreiben soll und<br />

welche linken Projekte lanciert werden können, um die Erstarrung aufgrund<br />

der lähmenden Pattsituation zu überwinden.<br />

Die Offenheit der <strong>Schweiz</strong> zeigt sich mit jeder Grenzüberschreitung. Die Fotografin<br />

Friederike Baetcke hat kulturelle Überschreitungen zu Bildern gemacht.<br />

Die Redaktion<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 1


SCHWERPUNKT<br />

Den Leistungs- und<br />

Wohlfahrtsstaat weiterentwickeln<br />

Hegemonie als Prinzip<br />

in Gesellschaft...<br />

Die Politik der SVP unter Christoph Blocher<br />

hat Ausdauer, System und ist programmatisch<br />

nicht dem Zufall überlassen.<br />

Jacqueline Fehr, Andrea Hämmerle<br />

und Peter Peyer<br />

Sie lehnt sich stark an die Glaubenssätze<br />

der Weissbuch-Autoren an respektive an<br />

die von Ex-CS-Chef Lukas Mühlemann<br />

anfangs 2000 im Tages-Anzeiger-Magazin<br />

präsentierte Kurzfassung. Unter dem Titel<br />

«Was die Politik von einem Unternehmen<br />

lernen muss» 1 redete Mühlemann dem Abbau<br />

der staatlichen Kontroll- und Ausgleichsfunktion<br />

das Wort: die Staatsbetriebe<br />

SBB, Post und Swisscom vollständig<br />

privatisieren, den Preisüberwacher<br />

abschaffen, das Gesundheits- und Sozialwesen<br />

dem Markt überlassen, heissen<br />

die Rezepte. NPM für die Verwaltung,<br />

mehr Eigenverantwortung für alle und die<br />

Forderung nach Beschränkung von Umweltschutz<br />

und Raumplanung rundeten<br />

die Sache ab. In der Folge orchestrierte die<br />

SVP im Parlament, was Ebner an der Börse<br />

dirigierte. Shareholder-Value wurde<br />

zum gesamtgesellschaftlichen Projekt 2 .<br />

...und Parteiengefüge<br />

Am berühmt-berüchtigten Sonderparteitag<br />

der SVP <strong>Schweiz</strong> in Lupfigen sagte<br />

Christoph Blocher: «Seit dieser Zürcher<br />

Flügel [der SVP <strong>Schweiz</strong>] identisch ist mit<br />

unserer Gesamtpartei, wird die ganze SVP<br />

einer Dauerkritik ausgesetzt und legt dafür<br />

gesamtschweizerisch von Urnengang<br />

zu Urnengang zu.» 3 Und weiter: «Die vereinigte<br />

Linke aus <strong>SP</strong>, FDP und CVP hat es<br />

weit gebracht. [...] Die SVP ist noch die<br />

einzige Partei, die zur <strong>Schweiz</strong> steht.» 4 Der<br />

SVP-Alleinvertretungsanspruch auf die gesamte<br />

nicht linke Politik war damit festgelegt.<br />

Dies kommt nicht von ungefähr.<br />

In Zürich muss beginnen,<br />

was leuchten soll im Vaterland<br />

Ein rudimentärer Überblick über eine Zürcher<br />

Erfolgsgeschichte mit Auswirkungen<br />

auf Bundesbern zeigt, wie die FDP systematisch<br />

zermürbt wurde. 1987 will Blocher<br />

den SVP-Sitz im Ständerat von Jakob<br />

Stucki verteidigen; die FDP hält nicht viel<br />

von einer Zusammenarbeit: Blocher verliert,<br />

Monika Weber (LdU) wird gewählt.<br />

Seit dieser Niederlage rächt sich Blocher<br />

am Freisinn. Der Kampf um die bürgerliche<br />

Hegemonie beginnt.<br />

1<br />

Das Magazin, 1. Januar 2000, <strong>Nr</strong>. 52, Seite 4.<br />

2<br />

siehe auch Die WochenZeitung, 8. August 2002, Nachruf<br />

auf Martin Ebner von Constantin Seibt.<br />

3<br />

Sonderparteitag der SVP <strong>Schweiz</strong> vom 16. November<br />

2002 in Lupfingen AG; siehe auch www.blocher.ch: Was<br />

Christoph Blocher am SVP-Sonderparteitag wirklich gesagt<br />

hat, «Regierungspartei oder Opposition?».<br />

4<br />

ebenda.<br />

2<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


1988 ist der Abstimmungskampf ums neue<br />

Eherecht die erste grosse Kraftprobe zwischen<br />

FDP und SVP. Blocher verliert. Fünf<br />

Jahre später folgt die EWR-Abstimmung.<br />

Blocher gewinnt. Dieser Sieg hat eine für<br />

<strong>Schweiz</strong>er Verhältnisse wohl einmalige<br />

Nachhaltigkeit – zugunsten der SVP!<br />

Im Frühling 1999 wird die SVP stärkste<br />

Fraktion im Zürcher Kantonsrat. Sie<br />

verdrängt die FDP aus dieser Position. Die<br />

SVP hat sich kantonal durchgesetzt. Im<br />

Herbst ist die SVP die Siegerin der Nationalratswahlen.<br />

Die Kantone auf Blocher-Linie<br />

legen zu. Die Zürcher SVP hat<br />

sich national durchgesetzt.<br />

<strong>2003</strong> tritt die SVP mit drei Kandidaten zu<br />

den Regierungsratswahlen an, verpasst<br />

diesen Sitz aber. Im Kantonsrat bleibt die<br />

SVP stärkste Fraktion: die FDP verliert<br />

massiv Sitze, Stimmenprozente und praktisch<br />

ihre gesamte SVP-kritische Führungsriege.<br />

Einen Monat später stimmen<br />

die FDP-Delegierten einer Listenverbindung<br />

mit der SVP im Kanton Zürich für<br />

die National- und Ständeratswahlen zu.<br />

Der stolze Zürcher Freisinn kapituliert vor<br />

der Zürcher SVP. Nach dem neuesten<br />

Wahlbarometer hat die FDP auch ihre Ur-<br />

Domäne, die Glaubwürdigkeit in der Wirtschaftspolitik,<br />

an die SVP abtreten müssen.<br />

Der Kreis ist geschlossen.<br />

Die «Schlüsselfrage»<br />

des 21. Jahrhunderts<br />

Christoph Blocher hat nach den Zürcher<br />

Wahlen eine strategische Kehrtwende<br />

gemacht und die <strong>SP</strong> wieder ins Angriffszentrum<br />

gestellt, was programmatisch logisch<br />

und mit dem Pamphlet «Freiheit statt<br />

Sozialismus» 5 schon länger angekündigt<br />

ist. Es empfiehlt sich aus zwei Gründen,<br />

darin zu lesen: Erstens entlarvt sich das<br />

5<br />

«Freiheit statt Sozialismus», Aufruf an die Sozialisten<br />

in allen Parteien, von Nationalrat Christoph Blocher, 3. April<br />

2000; zu finden unter www.blocher.ch, Rubrik Aktuell.<br />

Werk als das ideologische Fundament für<br />

die fortwährend beschworene «Eigenverantwortung»<br />

als höchste Form des<br />

menschlichen Daseins. Zweitens biegt es<br />

das Staatsbild für die SVP so zurecht, dass<br />

alle Leistungen, die der Staat im Dienste<br />

seiner BürgerInnen erbringt, als Versuch<br />

gewertet werden, das Individuum einem<br />

knechtenden Kollektivismus zu unterwerfen.<br />

Christoph Blochers Kurz-Schluss<br />

lautet: «Freiheit oder Sozialismus – Schlüsselfrage<br />

des 21. Jahrhunderts».<br />

Hinter diesen Entwicklungen steht eine<br />

ganz grundsätzliche Frage, die nur in einem<br />

grösseren historisch-internationalen<br />

Kontext zu verstehen ist. Es lohnt sich, in<br />

diesem Zusammenhang in Eric Hobsbawms<br />

brillanter Weltgeschichte des 20.<br />

Jahrhunderts die Kapitel über das goldene<br />

Zeitalter 6 und in Harald Müllers neustem<br />

Buch über die Weltordnung nach dem<br />

11. September 7 nachzulesen.<br />

Vom Polizei- zum Wohlfahrtsstaat<br />

Der moderne Staat ist vereinfacht gesagt<br />

in drei Etappen gewachsen. Diese drei<br />

Etappen sind in Schichten oder Jahrringen<br />

deutlich sichtbar und unterscheidbar. Zuerst<br />

erlangt der Staat das Gewaltmonopol.<br />

Seine Polizei und sein Militär sorgen für<br />

Sicherheit im Innern und gegen aussen.<br />

Als Zweites wird das Gewaltmonopol demokratisch<br />

organisiert und kontrolliert<br />

und rechtsstaatlich abgestützt: es gelten für<br />

alle die gleichen sauberen Verfahren und<br />

es gibt keine Willkür. Dies ist eine liberale<br />

Errungenschaft. International entspricht<br />

dieser zweite Schritt dem Völkerrecht,<br />

das massgeblich von der UNO geprägt<br />

und getragen wird. Der demokratische<br />

Rechtsstaat – aber auch das Völ-<br />

6<br />

Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, dtv 1998,<br />

S. 285ff.<br />

7<br />

Harald Müller: Amerika schlägt zurück, Fischer <strong>2003</strong>,<br />

besonders S. 93ff.<br />

Der moderne Staat<br />

ist, vereinfacht<br />

gesagt, in drei<br />

Etappen gewachsen:<br />

Errichtung<br />

erstens eines<br />

staatlichen<br />

Gewaltmonopoles,<br />

zweitens eines<br />

Rechtsstaates<br />

und schliesslich<br />

eines Wohlfahrtsstaates.<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 3


Im Wohlfahrtsstaat<br />

erbringt der Staat<br />

Leistungen:<br />

Er sorgt für den<br />

sozialen Ausgleich,<br />

soziale Gerechtigkeit,<br />

Sicherheit und für<br />

Chancengleichheit.<br />

kerrecht – schützt die Schwachen vor den<br />

Starken, die Ohnmächtigen vor den<br />

Mächtigen.<br />

Drittens schliesslich kommt die entscheidend<br />

von der Arbeiterbewegung erstrittene<br />

Wohlfahrt hinzu. Der Staat erbringt<br />

Leistungen, sorgt für den sozialen<br />

Ausgleich, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit,<br />

für Chancengleichheit in Bildung<br />

und Beruf, für einen flächendeckenden<br />

und kostengünstigen Service public. Es ist<br />

der real existierende, wesentlich sozialdemokratisch<br />

mitgeprägte europäische<br />

Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit.<br />

Zwei Modelle im Wettstreit<br />

Beginnend mit Reagan und Thatcher, verstärkt<br />

in den 90er Jahren und jetzt dramatisch<br />

beschleunigt, gibt es die fatale Entwicklung,<br />

dass die äusseren Jahrringe abgehobelt<br />

werden: Der Sozialstaat wird<br />

zurückgebaut, der Service public kommt<br />

unter Druck und wird privatisiert, aber<br />

auch der demokratische Rechtsstaat gerät<br />

in Gefahr. Gleichzeitig erfolgt ein massiver<br />

Aufrüstungsschub und der Ruf nach<br />

mehr Polizei und mehr Gefängnissen wird<br />

lauter. Diese Entwicklung ist international,<br />

aber – mit Ausnahme der militärischen<br />

Aufrüstung – auch schweizerisch. Parallel<br />

dazu wird, wie der Irak-Krieg in aller<br />

Deutlichkeit zeigt, das Völkerrecht abgewürgt<br />

und ersetzt durch das alte archaische<br />

Prinzip: Der Stärkere hat Recht. Dies<br />

ist zugleich der aktuelle Hintergrund der<br />

SVP-Politik, nämlich: Sparen und Steuernabbauen<br />

zum Ersten; mehr Eigenverantwortung<br />

und weniger soziale Sicherheit<br />

bei gleichzeitiger Aufrüstung von Polizei<br />

und (Miliz-)Armee zum Zweiten; die Abschottung<br />

gegen aussen und damit verbunden<br />

die Ablehnung jeder internationalen<br />

Kooperation zum Dritten.<br />

Der SVP-Politik des Steuer- und Leistungsabbaus,<br />

des Sozialdumpings und<br />

der Isolation müssen wir konsequent den<br />

sozialdemokratischen Wohlfahrts- und<br />

Leistungsstaat, eine Politik des Ausgleichs<br />

und der internationalen Zusammenarbeit<br />

gegenüberstellen. Im Zentrum<br />

steht die Finanzpolitik. Der aktuelle<br />

<strong>SP</strong>-Spardiskurs nach dem Muster<br />

«Ja zum Sparen, aber nicht jetzt und<br />

nicht so» zeigt, dass programmatische<br />

Schnellschüsse nicht genügen und auf<br />

dünnes Eis führen. Eine grundsätzlichere<br />

Position und Argumentation wäre<br />

nötig.<br />

An Hand von drei Beispielen wollen wir<br />

skizzieren, wie mit wechselnden Allianzen<br />

die SVP-Hegemonialmacht leer läuft, da<br />

ihr Gesellschaftskonzept nur für eine<br />

schmale, reiche Elite attraktiv und damit<br />

letztendlich nicht mehrheitsfähig ist.<br />

Steuerrefom: Mehr Ökologie<br />

für mehr Gerechtigkeit<br />

Vor rund vier Jahren überwiesen die eidgenössischen<br />

Räte eine Motion des heutigen<br />

Bundesrates Samuel Schmid (SVP),<br />

die eine Verlagerung der Bundessteuern<br />

auf die Mehrwertsteuern verlangt. Wenn<br />

das heutige Gesetz über die direkten<br />

Bundessteuern 2006 ausläuft 8 , steht genau<br />

die Frage wieder im Zentrum der Debatte,<br />

ob und wie der Staat seine Umverteilungs-<br />

und Ausgleichsfunktion wahr<br />

nimmt und damit den Boden für eine gerechte<br />

und ökologische Entwicklung unserer<br />

Gesellschaft legt.<br />

Das Modell der <strong>SP</strong> <strong>Schweiz</strong> ist klar: Kein<br />

Abbau der direkten Bundessteuern und<br />

keine Schwächung der Progression, stattdessen<br />

Steuergutschriften vom Steuerbetrag.<br />

Diese sind «progressionsneutral», der<br />

Abzug ist in allen Einkommensklassen<br />

frankenmässig gleichviel wert. Wenn die<br />

Steuerschuld kleiner ist als der Abzug, soll<br />

8<br />

Gemäss Übergangsbestimmung zu Art. 128 BV ist die<br />

Befugnis des Bundes, direkte Bundessteuern zu erheben, bis<br />

Ende 2006 befristet.<br />

4<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


die Differenz im Sinne einer negativen<br />

Einkommenssteuer ausbezahlt werden.<br />

Ein weiteres zentrales Element einer zukunftstauglichen<br />

Steuerordnung wird die<br />

Erbschaftssteuer sein. Als Folge der grossen<br />

Nachkriegsvermögen ist in den nächsten<br />

20 Jahren damit zu rechnen, dass in<br />

der <strong>Schweiz</strong> insgesamt 900 Mrd. Franken<br />

vererbt werden. Bereits eine sehr moderate<br />

Erbschaftssteuer mit einem grosszügigen<br />

Freibetrag von 1 Mio. Franken brächte<br />

Einnahmen von rund 1 bis 2 Mrd. Franken<br />

pro Jahr in die Bundeskassen, was etwa<br />

dem geschätzten strukturellen Defizit<br />

des Bundeshaushaltes entspricht.<br />

Prüfenswert ist auch das Steuerharmonisierungsmodell,<br />

das vom Mathematikprofessor<br />

Carl August Zehnder 9 bereits<br />

1998 vorgeschlagen wurde. Hohe Einkommen<br />

und Vermögen besteuert danach<br />

ausschliesslich der Bund, da diese Einkommen<br />

nicht regional, sondern im nationalen<br />

und internationalen Geschäft erwirtschaftet<br />

werden. Hohe Einkommen<br />

haben dazu die Eigenschaft, dass sie mobil<br />

sind und mit ihren permanenten Wegzugsdrohungen<br />

den Steuerwettbewerb<br />

anheizen. Als Kompensation werden<br />

mittlere und tiefe Einkommen nur von den<br />

Gemeinden und den Kantonen besteuert.<br />

Damit der Staat seine Ausgleichsfunktion<br />

wahrnehmen kann, braucht er also grundsätzlich<br />

nicht nur genügend Mittel, sondern<br />

er muss diese Mittel auch gerecht und<br />

ökologisch sinnvoll einnehmen.<br />

Kinder an die Macht<br />

9<br />

Zehnder, Carl August (1998): Steuertourismus eindämmen<br />

– kantonale Fiskalhoheit achten, in NZZ <strong>Nr</strong>.<br />

27/1998, Zürich.<br />

Eine linke und fortschrittliche Familienpolitik<br />

basiert auf der Forderung nach<br />

Chancengleichheit. Kinder sollen unabhängig<br />

von ihrer Herkunft und ihren Lebensumständen<br />

die Möglichkeit haben, ihre<br />

Fähigkeiten und Talente zu nutzen und<br />

auszubauen. Die Pisa-Studie zeigte jedoch,<br />

dass es dem schweizerischen Schulsystem<br />

nicht gelingt, diese Herkunftsunterschiede<br />

auszugleichen. Das Rezept der SVP auf<br />

diesen Befund: Familie ist Privatsache, der<br />

Staat hat in diesem Bereich nichts zu<br />

unternehmen. Um aber doch nicht ganz<br />

tatenlos zu sein, fordert die SVP separate<br />

Schulen für <strong>Schweiz</strong>er Kinder.<br />

Spannend ist die Tatsache, dass in der Familienpolitik<br />

noch nicht entschieden ist,<br />

ob das SVP-Verelendungsprogramm die<br />

Hegemonie im bürgerlichen Lager hat.<br />

War diese Frage nach dem Abstimmungsdebakel<br />

über die Mutterschaftsversicherung<br />

1999 noch klar, haben sich<br />

FDP und CVP in den letzten zwei Jahren<br />

in familienpolitischen Fragen aus den<br />

Klauen der SVP befreit und sind Koalitionen<br />

mit der <strong>SP</strong> eingegangen (Anstossfinanzierung<br />

für familienergänzende Betreuungsplätze,<br />

Neuanlauf zur Mutterschaftsversicherung,<br />

Ergänzungsleistungen<br />

für Familien, Harmonisierung und Erhöhung<br />

der Kinderzulagen).<br />

Das Konzept der <strong>SP</strong> ist klar: Zur Stärkung<br />

der Chancengleichheit müssen die Familien<br />

finanziell mehr und gezielter unterstützt<br />

werden (Erhöhung der Kinderzulagen,<br />

Steuergutschriften statt Steuerabzüge,<br />

Ergänzungsleistungen, verbesserte<br />

und eidgenössische Regelung der Alimentenbevorschussung,<br />

Mutterschaftsversicherung,<br />

tiefere Eintrittsschwelle in<br />

2. Säule). Daneben braucht es Blockzeiten<br />

sowie einen massiven Ausbau von familienergänzenden<br />

Betreuungsangeboten<br />

wie Krippen, Horte, Tagesschulen und<br />

Mittagstischen.<br />

Flug über die Alpen<br />

Die <strong>Schweiz</strong> wird als Offshore-Insel in Europa<br />

kaum überleben. Eine kluge Öff-<br />

Zur Frage<br />

einer sozialen<br />

Gerechtigkeit<br />

wird die<br />

Erbschaftssteuer<br />

werden:<br />

in den nächsten<br />

20 Jahren wird<br />

in der <strong>Schweiz</strong><br />

insgesamt<br />

900 Mrd. Franken<br />

vererbt werden.<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 5


nungspolitik mit vertraglich geregelten Beziehungen<br />

der <strong>Schweiz</strong> zur Welt muss die<br />

Antwort der <strong>SP</strong> sein. Zwei «kleinere» Geschäfte<br />

zeigen, wie die Partei, welche die<br />

<strong>Schweiz</strong>erfahne am penetrantesten hochhält,<br />

unserm Land wirtschaftlich und politisch<br />

den grössten Schaden zufügt.<br />

Erstes Beispiel: Der Staatsvertrag hätte die<br />

Verteilung des Fluglärms zwischen<br />

Deutschland und der <strong>Schweiz</strong> einvernehmlich<br />

geregelt. Das Parlament lehnt den Vertrag<br />

unter Führung von SVP und (Zürcher)<br />

Freisinn ab. Deutschland erlässt wie<br />

angekündigt für die Bewirtschaftung seines<br />

Luftraums eine Verordnung, die härter<br />

ist und kürzere Fristen setzt als der abgelehnte<br />

Staatsvertrag. Jetzt versucht der<br />

Bundesrat, bei der europäischen Kommission<br />

eine Aufschiebung der Verordnung zu<br />

erreichen. Die vielgeschmähten «fremden<br />

Richter von Brüssel» sollen entscheiden.<br />

Der Parteipräsident der SVP <strong>Schweiz</strong><br />

nimmt vor laufender Fernsehkamera unverfroren<br />

das Wort «Krieg» in den Mund. Wir<br />

sehen ihn schon kampfbereit mit dem<br />

Sturmgewehr am Rhein. Wer aber in einem<br />

Konflikt sich selber über- und den Gegner<br />

unterschätzt, verliert mit Sicherheit.<br />

Es ist dringend nötig, dass die <strong>SP</strong> zusammen<br />

mit ihrem Bundesrat beharrlich den<br />

Weg der aussen- und innenpolitischen Vernunft<br />

weitergeht. Schauen wir den Tatsachen<br />

in die Augen, ob sie uns gefallen oder<br />

nicht: Deutschland sitzt am längeren Hebel<br />

– immerhin geht es um den deutschen<br />

Luftraum – und ist nicht bereit, mehr Fluglärm<br />

zu akzeptieren, damit der Züriberg<br />

und die Goldküste ruhig schlafen können.<br />

Drehen und Wenden nützen nichts: Der<br />

Schlüssel zur Lösung liegt bei der Zürcher<br />

Regierung und heisst Südanflüge.<br />

Zweites Beispiel: Die Alpenkonvention 10<br />

ist das erste internationale Vertragswerk,<br />

10<br />

Die besten Hintergrundseiten zur Alpenkonvention finden<br />

sich unter www.cipra.org<br />

das eine gemeinsame Wirtschafts- und<br />

Umweltschutzpolitik des wichtigsten europäischen<br />

Erholungsraums formuliert<br />

und das dünn besiedelte, strukturschwache<br />

Berggebiet gegenüber den Zentren<br />

stärkt. In den Bereichen Landwirtschaft<br />

und Verkehr sind Positionen und Errungenschaften<br />

verankert, die wesentlich<br />

sozialdemokratisch mitgeprägt sind. Nachteile<br />

für die <strong>Schweiz</strong> sind nicht ersichtlich.<br />

Die Ratifizierung wird im Parlament – in<br />

einer bisher erfolgreichen Speckgürtelkoalition<br />

SVP-FDP-Economisuisse –<br />

hintertrieben. Hier läuft die SVP-Arche<br />

aber langfristig auf den Berggipfeln auf:<br />

Die <strong>SP</strong> zimmert zusammen mit ihrem<br />

Bundesrat, den Regierungen der Gebirgskantone,<br />

mit den Grünen, den weitsichtigen<br />

Berggebietsvertretern und den<br />

Gemeindevertretern – die lieber ihren Bio-<br />

Geisskäs in Europa verkaufen als auf granithartem<br />

<strong>Schweiz</strong>er Franken versauern –<br />

eine solide Mehrheit.<br />

Die alten Werte gelten noch<br />

Nur ein starker Staat kann ein sozialer<br />

Staat sein. Dem ist an sich nach wie vor<br />

nichts anzufügen. Ausser, dass die <strong>SP</strong> programmatisch<br />

klarer, transparenter und<br />

konsequenter sein muss als die SVP. Links<br />

der SVP bietet sich damit ein grosses Feld<br />

mit viel Platz und Heimatlosen. Nutzen<br />

wir das!<br />

Jacqueline Fehr ist Nationalrätin<br />

aus Winterthur (ZH) und Vizepräsidentin<br />

der Pro Fa5milia <strong>Schweiz</strong>.<br />

Andrea Hämmerle ist Nationalrat aus<br />

Pratval (GR) und Präsident der Nationalparkkommission.<br />

Peter Peyer ist Präsident der <strong>SP</strong><br />

Graubünden und Gewerkschaftssekretär.<br />

6<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


Vom Plappern über rechte<br />

und linke Denkverbote<br />

Zur Verführungskraft eines SVP-nahen Denkens<br />

Im Kanton Baselland mehr als 6 Sitze, im<br />

roten Genf auf Anhieb über 10 Sitze, im<br />

Kanton Luzern 4 und schliesslich im Blocher<br />

Kanton Zürich einen Zuwachs auf<br />

Regula Stämpfli<br />

hohem Niveau von immerhin noch einem<br />

Sitz (2% Zunahme). Was passiert denn eigentlich<br />

in der <strong>Schweiz</strong>? Die SVP verliert<br />

zwar laufend Abstimmungen – zuletzt bei<br />

der Asylinitiative zwar nur knapp, aber<br />

immerhin – doch bei den regionalen und<br />

lokalen Wahlen ist sie seit 1999 klare<br />

Punkterin. Dabei fällt auf, dass bei Abstimmungen<br />

die SVP-Unterstützung am<br />

grössten ist, wenn auch die Stimmbeteiligung<br />

hoch ausfällt, dass bei Wahlen die<br />

SVP jedoch dann gewinnt, wenn die Mobilisierung<br />

eher gering ist. Übersetzt könnte<br />

dies bedeuten, dass bei polarisierten<br />

Themen der Mainstream gerne mit Ja oder<br />

Nein mitpolitisiert, dass aber das alltägliche<br />

Politikgeschäft nach wie vor Anliegen<br />

einer Elite bleibt. Einer ausgewählten<br />

Minderheit (von rund einem Drittel bei<br />

kantonalen Wahlen und bei National- und<br />

Ständeratswahlen ca. 42%), welche vorwiegend<br />

rechtsbürgerlich orientiert ist.<br />

Dies allen Meinungs- und Trendforschungen<br />

zum Trotz, welche im Vorfeld<br />

der Wahlen meistens nicht nur der SVP,<br />

sondern vor allem auch der <strong>SP</strong> einen<br />

Wahlsieg vorhersagen. Was machen denn<br />

die anderen Parteien falsch, dass sie im<br />

Wahlfrühling und –sommer <strong>2003</strong> immer<br />

gegen die SVP einschauen?<br />

Nicht viel, aber doch einiges. Der Mitgliederschwund<br />

bei den Parteien ist ein<br />

internationaler Trend und hängt mit der<br />

gewandelten politischen Parteienkultur<br />

hin zur Mediendemokratie zusammen. Es<br />

misslingt allen drei Regierungsparteien<br />

FDP, CVP und <strong>SP</strong>, mehr Mitglieder zu mobilisieren;<br />

einzig die SVP hat in allen Kantonen<br />

(ausser in Bern) zugelegt. Die<br />

Widerstandskraft der Parteien gegen die<br />

SVP ist durch mangelnde eigene und wählerattraktive<br />

Themen geschwächt. Der Blocher<br />

Flügel der SVP schafft es immer wieder,<br />

die politische Agenda zu setzen und<br />

die Gegner zu reaktivem statt zu aktivem<br />

Verhalten zu verführen. Die SVP vereinfacht<br />

Politik. Sie schaut dem Volke aufs<br />

Maul. Sie setzt Themen, portiert Meinungsführer<br />

und polarisiert. Sie liefert eine<br />

träfe Mischung von Allerweltspartei<br />

und Polemik. Die FDP, CVP und <strong>SP</strong> agieren<br />

klassisch, funktionieren in einer politischen<br />

Kompromisssuche, wo der Begriff<br />

Politik eben vom griechischen Politeia,<br />

dem Aushandeln und Verhandeln, und<br />

nicht von Polemos, dem Gegensätze aufbauen,<br />

kommt. Und genau da liegt das<br />

Problem. Die SVP verschärft ihre Gangart<br />

mit niveaulosen Plakaten und einer<br />

Schlagwortpolitik und dominiert mit den<br />

Gegenreaktionen die öffentliche Debatte.<br />

Nach verlorenen Abstimmungen wie der<br />

UNO und der Goldinitiative baut die SVP<br />

auf Zuspitzungen und lanciert Biertischthemen.<br />

Das schafft Resonanz und zahlt<br />

sich aus.<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 7


Bundesrat<br />

und Parlament<br />

haben in der<br />

letzten Legislatur<br />

weit über 60 %<br />

aller<br />

Regierungsvorlagen<br />

an der Urne<br />

vor dem Volk<br />

durchgebracht.<br />

Keine<br />

schlechte Bilanz.<br />

Drei von fünf <strong>Schweiz</strong>er und <strong>Schweiz</strong>erinnen<br />

wählen heute nicht mehr eine Partei,<br />

sondern Personen aus verschiedenen<br />

Parteien. Deshalb sind im politischen Diskurs<br />

knackige politische Aussagen gefragt<br />

und weniger Mittelmass. Der <strong>SP</strong> gelingt es<br />

nicht, trotz grossem Ja der Bevölkerung<br />

zur Chancengleichheit – nieder mit der<br />

Abzockergesellschaft, besserer Bildung,<br />

Ausbau der AHV – die Leute allgemein<br />

und vor allem auch die eigenen Leute zu<br />

mobilisieren. Im besten Falle verbessert<br />

sich die <strong>SP</strong> um ein, zwei Prozentpunkte,<br />

im schlechtesten Falle kann sie sich bei<br />

den kommenden National- und Ständeratswahlen<br />

im Herbst noch knapp halten.<br />

Die SVP dagegen räumt im rechten Rand<br />

vollständig auf, knabbert gleichzeitig in der<br />

Mitte und höhlt die Stammlande von CVP<br />

und FDP stetig, aber sicher aus. Diesen<br />

Trend unterstützen die beiden angegriffenen<br />

Parteien. Während sich beispielsweise<br />

die FDP-Parteipräsidentin Langenberger<br />

klar von der Blocher-Partei distanziert,<br />

gleichen die inhaltlichen Postulate der<br />

Freisinnigen immer mehr der SVP. Was die<br />

FDP-Delegierten am 14. März <strong>2003</strong> mit<br />

Bundesrat Villiger und dem Vorschlag, die<br />

Erbschaftssteuer auf nationaler Ebene einzuführen<br />

(eigentlich ein uraltes liberales<br />

Postulat), machten, sprach Bände. Mit einer<br />

derartigen Politik unterscheidet sich<br />

die FDP nicht von der SVP.<br />

Ganz ähnlich die CVP, die nun in ihrer<br />

Torschlusspanik meint, während Abstimmungskämpfen<br />

vor allem die <strong>SP</strong> diffamieren<br />

zu müssen. Antisozialistisch war<br />

zwar schon immer eine Trendmarke der<br />

CVP, doch als SVP-Bremse wird dies der<br />

Zahnbürstenpartei nicht viel bringen.<br />

Dummerweise spielen auch die Grünen im<br />

Wahljahr <strong>2003</strong> nicht die beste Rolle. Das<br />

Umfrage-Unterstützungspotenzial für linke<br />

Anliegen ist in der <strong>Schweiz</strong> erstaunlich<br />

hoch; es liegt bei fast einem Drittel. Was<br />

jedoch fehlt ist eine breitere Mobilisierung<br />

von links für soziale und grüne Themen.<br />

Politstrategisch werden mehrere Varianten<br />

diskutiert, wie der SVP denn beizukommen<br />

wäre. Die Vorschläge reichen von Isolation<br />

über Integration, von der Aus- oder<br />

Einklammerung Blochers in den Bundesrat.<br />

Die Ideen sind zwar reizvoll, zielen<br />

aber völlig an der politischen Realität vorbei.<br />

Solange ein Grossteil der Stimmberechtigten<br />

nicht merkt, dass Politik kein<br />

Game mit Siegern und Gewinnern, sondern<br />

ein hartes Verhandeln, Aushandeln<br />

und Kompromissfinden ist, wird die SVP<br />

mit ihrem Doppelkurs der Oppositionsund<br />

Regierungspartei Erfolg finden. Nehmen<br />

wir einmal an, Christoph Blocher<br />

würde tatsächlich in den Bundesrat gewählt.<br />

Viele erhoffen sich damit einen Pazifizierungseffekt.<br />

Sie liegen damit aber<br />

völlig falsch. Denn der Zürcher Unternehmer<br />

lässt sich nicht einbinden. Und<br />

welcher Art ein zweiter SVP-Sitz im<br />

Bundesrat wäre, zeigt der Kanton Zürich.<br />

Dort ist die SVP zwar in der Exekutive eingebunden,<br />

im Parlament aber Teil der Opposition,<br />

und das Resultat ist in Finanzund<br />

Budgetfragen eine ausgesprochene<br />

Katastrophe. Klar, die <strong>Schweiz</strong> ist nicht<br />

mit der Zauberformel geboren und die<br />

SVP wird nach dem 19. Oktober <strong>2003</strong><br />

zweifellos und mit gutem Recht einen weiteren<br />

Sitz für sich im Bundesrat beanspruchen.<br />

Doch ebenso gut kann die Parlamentsmehrheit<br />

ihr diesen Sitz verweigern.<br />

Denn selbst wenn es arithmetisch<br />

unstimmig ist, kann es politisch klug sein,<br />

die CVP auf Kosten der SVP zu stützen.<br />

Schliesslich geht es ums Regieren, das<br />

heisst darum, Mehrheiten zu finden und<br />

politische Kompromisse zu suchen. In der<br />

letzten Legislatur haben Bundesrat und<br />

Parlament weit über 60% aller Regierungsvorlagen<br />

an der Urne vor dem Volk<br />

durchgebracht. Keine schlechte Bilanz für<br />

die eigene Regierungstätigkeit, selbst wenn<br />

die Zwischentöne mittlerweile reichlich<br />

laut und aggressiv werden!<br />

Doch all diese politikwissenschaftlichen<br />

Ausführungen bilden eigentlich nur einen<br />

8<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


Teil der Analyse, weshalb die SVP die politische<br />

Kultur in diesem Land so wahlerfolgreich<br />

vergiftet. Denn das Phänomen<br />

SVP reicht viel weiter. In die Grundverfassung<br />

dieses Landes und in die Medienstruktur,<br />

die wahrhaft kulturkämpferische<br />

Blüten treibt. Mittlerweile gehört es<br />

nämlich zum guten Ton, auf die Classe politique<br />

und die Politisierenden in diesem<br />

Lande einzuprügeln. Auf der Rechten passiert<br />

das relativ plump und plakativ, auf der<br />

salonlinken Ebene etwas subtiler. Schauen<br />

wir mal genauer hin, wie der Boden für<br />

SVP-nahe Ideen beackert wird:<br />

Vor ein paar Wochen komplimentierte der<br />

«Monsterkopf» der WoZ, Constantin<br />

Seibt, seinen Journikollegen und Weltwoche-Chefredaktor<br />

Roger Köppel mit:<br />

«Du leistest Aussergewöhnliches.» Klar,<br />

einem klugen, witzigen, ironischen und<br />

zwischendurch selbstgefälligen Brillantschreiber<br />

wie Seibt passieren keine undifferenzierten<br />

Komplimente. Deshalb<br />

durchsetzt er seine scherzhaft und doch<br />

sinnigen Symbiosephantasien von WoZ<br />

und Weltwoche mit ein paar kritischen<br />

Krümeln. Beide Wochenzeitungen frönen<br />

gerne dem schweizerischen Besserwissertum<br />

und geben am liebsten Journis Papier,<br />

die zwar nicht recht bellen, dafür aber<br />

umso gezielter beissen können. Versteckt<br />

hinter einer Designersprache zerstört vor<br />

allem die Weltwoche mit Texten zu Asyl,<br />

Frauenhandel, Drogen und Sex die letzten<br />

Überreste der mittlerweile so verpönten<br />

Political Correctness. Die Gradlinigkeit<br />

des Denkens verschwindet hinter einer<br />

Haltung des «anything goes», welches sich<br />

in der Weltwoche in einem Underdog-<br />

Bashing und in der WoZ in einer regelmässigen<br />

Sozi-Schelte manifestiert. Was<br />

hat dies alles mit dem von Prof. Georg<br />

Kohler im Tages-Anzeiger vom 26. November<br />

2002 angesprochenen Kulturkampf<br />

und der SVP zu tun? Der Philosoph<br />

Kohler meinte in besagtem Artikel,<br />

dass es zwei <strong>Schweiz</strong>en gäbe: eine Reformschweiz<br />

und eine auf ländlich-konservativ<br />

fixierte Blocher-<strong>Schweiz</strong>. Wenn es<br />

doch nur so einfach wäre! Denn der Zusammenhang<br />

zwischen Weltwoche-Artikel<br />

und dem SVP-Siegeszug ist verdammt<br />

komplex, aber zwingend, und liegt in der<br />

Struktur der schweizerischen politischen<br />

Kommunikation. Das Plappern über «jenseits<br />

von rechten und linken Denkverboten»<br />

ist nämlich mittlerweile hip. Nicht<br />

unter den Rechten, denn die kannten noch<br />

nie irgendwelche Verbote punkto Menschlichkeit,<br />

Grundrechten, Toleranz und Diskurs,<br />

sondern frönten von Anfang an der<br />

Worthurerei, der Tabubrüche und der<br />

Menschenverachtung. Nein. Die Aufhebung<br />

von Denkverboten ist besonders cool<br />

bei den Linken. Die Materialienverehrung<br />

der schon immer etwas anal fixierten<br />

<strong>Schweiz</strong> verdichtet sich in der Designersprache<br />

von Weltwoche und in der wahnwitzigen<br />

Subkulturinszenierung der WoZ.<br />

In dieser Schludrigkeit, sich selten in die<br />

Haut des anderen zu versetzen, für sich<br />

aber Beobachtungsmacht zu reklamieren,<br />

steckt politisches Dynamit. Setzt den<br />

Raum frei, in welchem sich die Rechten<br />

schliesslich mit Rassismus, grober Vereinfachung<br />

und Ausgrenzung wohl fühlen<br />

und sich breit machen können. Denn die<br />

Sucht, um jeden Preis aufzugeilen und zu<br />

unterhalten, ist beleibe kein ausschliesslich<br />

rechtes Phänomen. Während die<br />

Rechten in Fussballstadien grölen und<br />

«Wir sind wieder wer» schreien, zerstören<br />

wir Linksintellektuellen mit indifferenzierten,<br />

von oben herab geäusserten Statements<br />

und der vor allem auch mit der in<br />

der Kunst verehrten Perversion, mit der<br />

Entzauberung der Welt, mit der öffentlichen<br />

Inszenierung von Intimität, Werte,<br />

die herzlich wenig mit Humanität und politischer<br />

Verantwortung zu tun haben.<br />

Denn schliesslich gilt die Moral auch bei<br />

den Linken nur noch als Ausfluss eines<br />

unreflektierenden und vor allem unmodernen<br />

Geistes.<br />

Die kulturelle und auch von links praktizierte<br />

Zelebrierung des Anstössigen hält<br />

Es gehört zum<br />

guten Ton,<br />

auf die Classe<br />

politique und die<br />

Politisierenden in<br />

diesem Lande<br />

einzuprügeln.<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 9


der SVP das Trottoir frei, damit sie umso<br />

schneller durch die Gassen rasen kann. Es<br />

gibt gerade in der <strong>Schweiz</strong> das Phänomen<br />

der Kritik an allem. Doch dummerweise<br />

erstreckt sich diese Kritik gerne auf Personen<br />

und Werte, welche der demokratischen<br />

Gesellschaft wichtig sein sollten: Politiker<br />

sind nicht nur in rechter Betrachtungen<br />

Idioten oder bestensfalls Tollpatschige,<br />

der politische Kompromiss<br />

und die Verhandlungsfähigkeit nicht nur<br />

bei den Konservativen «ein fauler Zauber»<br />

und die meisten Reformvorschläge zu<br />

Steuer- und Finanzregelungen «unbrauchbar».<br />

Die Meinungsmacher in diesem<br />

Land beschäftigen sich vor allem mit<br />

Destruktivität und Dekonstruktion. Damit<br />

nehmen sie aber all denjenigen die Kraft,<br />

die nach politischen Lösungen suchen und<br />

die Widerstandskraft gegen rechten Plakativismus<br />

üben. Als Bundesrat Villiger die<br />

Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer<br />

bekannt gab, hätten alle – die Medien,<br />

die <strong>SP</strong>, das Oltener Bündnis und die<br />

liberalen Vordenker – laut jubilieren und<br />

die Zeitungsspalten füllen sollen. Mit grossem<br />

Tamtam und wirkungsvollen Arena-<br />

Auftritten. Denn zum ersten Mal seit langem<br />

wurde das grösste politische Problem<br />

der <strong>Schweiz</strong>, nämlich die Ungleichheit,<br />

thematisiert. Doch alle – mit Ausnahme<br />

des hervorragenden Kommentars von<br />

Iwan Städler im Tages-Anzeiger – blieben<br />

still. Meinten in vorauseilendem Defaitismus,<br />

dass Villigers Vorschlag von den<br />

Bürgerlichen abgeschossen würde. Was<br />

dann auch mit schöner Sicherheit an der<br />

besagten Delegiertenversammlung passierte.<br />

Doch einmal mehr wurde auf der<br />

linken Seite eine gute Gelegenheit verpasst,<br />

einen spannenden, politisch hoch<br />

explosiven und zukunftsweisenden Issue<br />

auf die politische Agenda zu setzen. Von<br />

den publikumswirksamen elektronischen<br />

Medien ganz zu schweigen.<br />

Nicht was die SVP sagt, ist anstössig, denn<br />

sie sagte dies schon immer und blieb eine<br />

Weile auch eine Minderheit, sondern wie<br />

wir mittlerweile auf die SVP reagieren und<br />

ihr den Boden mit beliebigem Wortstilismus<br />

oder Stillschweigen freischaufeln,<br />

ist pornographisch. Es gibt in der <strong>Schweiz</strong><br />

ein Klima, wo es schon fast müssig geworden<br />

ist, darüber zu spekulieren, welche<br />

politische Taktik die Linke gegen die<br />

SVP anwenden sollte. Denn sämtliche<br />

Vorschläge der Rezepte zwischen Integration<br />

und Isolation zeigen eine politische<br />

Praxis, die das Land im Jahre <strong>2003</strong> dazu<br />

gebracht hat, dass ernsthaft darüber diskutiert<br />

wird, ob das Bankgeheimnis in der<br />

Bundesverfassung verankert werden soll<br />

oder nicht. Die <strong>Schweiz</strong> steht nicht vor einem<br />

Kulturkampf, sondern vor einem<br />

Scherbenhaufen. Denn die von Prof.<br />

Kohler angesprochene Reformschweiz<br />

ist relativ kleinlaut und wenn hörbar, dann<br />

im Designerkostüm. Auch die Blocher-<br />

<strong>Schweiz</strong> allein gibt es nicht. Denn dafür ist<br />

das Land zu bunt. Was es aber zur Genüge<br />

gibt: ein politisches Flickwerk an allen<br />

Ecken und Enden. Der Reformstau und<br />

die Rezession sind mittlerweile tägliches<br />

Brot, die Gemeinden ersticken in den eigenen<br />

Schulden, die Arbeitslosigkeit<br />

steigt, die soziale Ungleichheit in der Vermögensverteilung<br />

macht sich noch breiter,<br />

der Kantönligeist der Schulen und Universitäten<br />

befördern nach wie vor nur<br />

Mittelmass und-und-und.<br />

Die civitas maxima, ganz gleich, ob man<br />

sie praktisch für möglich oder wünschenswert<br />

hält, ist zumindest eine theoretisch<br />

einwandfreie, den menschlichen<br />

Wesensanalgen nicht widersprechende<br />

Setzung. Es täte Not, mehr Zivilcourage<br />

zu zeigen und gewisse Wahrheiten auch<br />

als solche zu benennen.<br />

Regula Stämpfli ist promovierte Politologin<br />

und lebt und arbeitet in Brüssel<br />

und Bern. Neustes Werk: Vom<br />

Stumm- zum Stimmbürger. Das Abc<br />

der <strong>Schweiz</strong>er Politik, Zürich / Orell<br />

Füssli <strong>2003</strong>.<br />

10<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


Linke Positionen für eine<br />

soziale <strong>Schweiz</strong> statt<br />

politischer Ratlosigkeit<br />

Die politische Landschaft der <strong>Schweiz</strong> ist<br />

in Bewegung. Die These von zwei verschiedenen<br />

<strong>Schweiz</strong>en, welche heute die<br />

Öffentlichkeit polarisieren, ist aufgrund<br />

der Wahlen und Abstimmungen der letzten<br />

zehn Jahre plausibel. Dass FDP und<br />

CVP, verunsichert durch die SVP-Wahlerfolge,<br />

auf diese Entwicklung konfus,<br />

André Daguet<br />

widersprüchlich und ohne stringente<br />

nachvollziehbare Strategie reagieren,<br />

ist überhaupt nicht erstaunlich. Wenn<br />

sich dagegen die <strong>SP</strong> und die Linke, aufgeschreckt<br />

durch das letzte Abstimmungswochenende,<br />

selber verunsichern,<br />

ist es höchste Zeit daran zu erinnern,<br />

dass ohne starke linke Bewegung die<br />

<strong>Schweiz</strong> nicht sozialer wird.<br />

These 1:<br />

Die SVP ist realpolitisch bei weitem nicht<br />

so erfolgreich wie das Image der Partei<br />

in den Medien und in der Öffentlichkeit.<br />

Blocher und Co. verstehen das populistische<br />

Handwerk ganz einfach weit besser<br />

als alle andere Parteien, einschliesslich der<br />

linken Parteien in der <strong>Schweiz</strong>. Dennoch:<br />

Die SVP ist realpolitisch bei weitem<br />

nicht so erfolgreich wie das Image der Partei<br />

in den Medien, das seit Mitte der neunziger<br />

Jahre viele eingebettete Journalisten<br />

verbreiten, die sich für Blocher, seine SVP<br />

und dessen grössten Abzocker Martin Ebner<br />

die Finger während Jahren wund geschrieben<br />

haben.<br />

Die politische Bilanz der SVP ist vielmehr<br />

äusserst mager, wenn wir die Zahl der verlorenen<br />

strategisch relevanten Abstimmungen,<br />

die Zahl der gescheiterten Exekutivwahlen<br />

auf kantonaler und kommunaler<br />

Ebene sowie das mediokre<br />

politische SVP-Führungspotential in<br />

Bund, Kantonen und Gemeinden in Betracht<br />

ziehen.<br />

Die SVP weist auf nationaler Ebene<br />

nicht einmal einen Wähleranteil von einem<br />

Viertel aus, ist nicht stärker als die <strong>SP</strong><br />

und hat sich ihren Zuzug an WählerInnen<br />

seit zehn Jahren praktisch ausschliesslich<br />

über die vollständige Absorption der<br />

Rechtsaussenparteien, <strong>Schweiz</strong>er Demokraten<br />

und Autopartei sowie der Rechten<br />

von CVP und FDP alimentiert.<br />

These 2:<br />

Umgekehrt stimmt: Die SVP nimmt eine<br />

hegemoniale Position innerhalb des<br />

bürgerlichen Lagers ein, derweil FDP<br />

und CVP durch ihre Führungsschwäche<br />

in der Politlandschaft herumeiern.<br />

Mit ihrem rechtspopulistische Programm<br />

der Abschottung der <strong>Schweiz</strong> und der<br />

Fremdenfeindlichkeit verhindert die SVP<br />

nicht nur den sozialen Fortschritt in der<br />

<strong>Schweiz</strong>, sondern hat durch ihre hegemoniale<br />

Stellung innerhalb des bürgerlichen<br />

Lagers eine eigentliche Krise von<br />

FDP und CVP ausgelöst. Dass die beiden<br />

Parteien, verunsichert durch die Wahlerfolge<br />

der SVP, seit Jahren konfus, widersprüchlich<br />

und ohne klar nachvollzieh-<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 11


Fotos: Friederike Baetcke<br />

12<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 13


Die soziale Frage<br />

bleibt die grösste<br />

Herausforderung<br />

für die Linke.<br />

bare Strategie reagieren, erstaunt nicht angesichts<br />

der Führungsschwäche beider<br />

Parteien, spätestens seit dem durch Filz<br />

und Abzockereien ausgelösten freien Fall<br />

der mit der FDP und CVP verbandelten<br />

Wirtschaftselite. Der gnadenlose Absturz<br />

von Andres Leuenberger, der langjährigen<br />

Vorzeigefigur der <strong>Schweiz</strong>er Wirtschaftsbosse,<br />

spricht Bände.<br />

These 3:<br />

Die SVP wird ihre jetzige hegemoniale<br />

Rolle rechtsaussen nur so lange halten,<br />

als Blocher als der einzige reale Kopf der<br />

herrschenden SVP in der Politik verbleibt.<br />

Dann ist Schluss mit dem politischen<br />

Marionettentheater.<br />

Parteipräsident Ueli Maurer ist eine Marionette<br />

von Blocher, was auch immer<br />

Köppels Weltwoche schreibt. Maurer und<br />

die durch Blochers Schutzschirm gedeckte<br />

Zürcher Führungscrew im rechten<br />

Sumpf von Auns und anderen rechtsextremen<br />

Bewegungen werden ihre Marionettenrolle<br />

solange spielen, als Blocher der<br />

SVP die Politik diktiert. Sie werden den<br />

Abgang von Blocher politisch nicht überleben.<br />

Die SVP verfügt national, kantonal<br />

und kommunal im rechten Spektrum über<br />

derart wenig qualifizierte politische Kader,<br />

dass mit dem Ausscheiden von Blocher und<br />

seiner Millionenspenden die SVP an der<br />

Rechtsaussenfront rapide bröckeln wird.<br />

Die fähigeren Köpfe der SVP auf nationaler<br />

Ebene wollen ihre politischen Rollen<br />

nicht aufs Spiel setzen. Doch im<br />

Hintergrund wird die Ablösung der Prätorianergarde<br />

von Blochers Gnaden bereits<br />

jetzt vorbereitet. Das wird die Politlandschaft<br />

zwischen SVP, FDP und CVP<br />

noch einmal heftig durchschütteln.<br />

These 4:<br />

Für die Linke in der <strong>Schweiz</strong> gilt weiterhin:<br />

Links der <strong>SP</strong> gibt es kein politisch<br />

relevantes nationales Projekt. Und bei<br />

den Grünen dominiert die politische Unklarheit<br />

wie seit langem nicht mehr.<br />

Links der <strong>SP</strong> gibt es kein politisch relevantes<br />

nationales Projekt. Diese These, die<br />

im Januar 1996 von Peter Bodenmann zusammen<br />

mit dem Autor dieses Artikels<br />

1996 in der <strong>Rote</strong>n <strong>Revue</strong> publiziert worden<br />

ist, hatte damals eine breite politische<br />

und kontroverse Diskussion provoziert.<br />

Für die Einschätzung sieben Jahre später<br />

gilt weiterhin: Es gibt kein relevantes nationales<br />

politisches Projekt links der <strong>SP</strong>.<br />

Und auch eine zweite These hat unverändert<br />

Gültigkeit: Die soziale Frage bleibt<br />

die grösste Herausforderung für die Linke<br />

und die Gewerkschaftsbewegung in der<br />

<strong>Schweiz</strong>. Diese Feststellung gilt heute nach<br />

dem jüngsten Angriff von Sozialminister<br />

Couchepin auf Rentenalter, AHV-Rente,<br />

BVG-Rente und die Krankenversicherung<br />

erst recht. Die Frage, die sich dabei stellt:<br />

Hat die <strong>SP</strong> und die Linke insgesamt gelernt,<br />

mit dieser politischen Einschätzung<br />

richtig umzugehen?<br />

Wichtig für die Linke in der <strong>Schweiz</strong> ist die<br />

Erfahrung der neunziger Jahre: Die <strong>SP</strong> hat<br />

ihren grössten historischen Wahlsieg seit<br />

1918 im Herbst 1995 errungen, weil die<br />

Partei mit linken Positionen angetreten ist,<br />

die soziale Frage ins Zentrum ihrer Politik<br />

gestellt hat und damit die politische Zuspitzung<br />

zwischen rechts und links mit Erfolg<br />

vollzogen hat.<br />

Die Grünen, die soeben das zwanzigjähriges<br />

Jubiläum begossen haben, streiten<br />

heute darüber, ob sie sich von der Linken<br />

wieder verabschieden sollen. Das Streitgespräch<br />

zwischen zwei wichtigen Exponenten<br />

der Grünen, Ruth Genner und<br />

Bernhard Pulver in der Berner Zeitung<br />

vom 24. Mai ist sehr aufschlussreich. Bernhard<br />

Pulver im Originalton: «Ich finde, die<br />

GPS sollte sich aus der Links-rechts-Konfrontation<br />

heraushalten.» Und Ruth Genner:<br />

«Ich spreche hier lieber über politische<br />

Entscheidungskriterien als vom<br />

Rechts-links-Schema.»<br />

14<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


These 5:<br />

Der Versuch, die <strong>SP</strong> politisch in der Mitte<br />

zu positionieren, war keine brauchbare<br />

Antwort in den achtziger Jahren, und ist<br />

es schon gar nicht auf die Politik der<br />

Rechten heute.<br />

Schon in der zweiten Hälfte der achtziger<br />

Jahre hat ein sozialdemokratischer Arbeitskreis,<br />

vorwiegend <strong>SP</strong>-Bundesbeamte,<br />

mit ihrer Schrift «Sozialdemokratie 2000»<br />

den Versuch unternommen, die Partei in<br />

der Mitte neu zu positionieren und sich<br />

aus dem politischen Schema von linker<br />

und rechter Politik zu verabschieden. Ihr<br />

politisches Rezept der Modernisierung,<br />

unter anderem mit dem Abbau direktdemokratischer<br />

Institutionen, das Abschminken<br />

linker Positionen, z.B. in der<br />

Armeefrage, und die damit verbundene<br />

Öffnung für neue Mittelschichten blieben<br />

ohne nachhaltige Wirkung, ganz einfach<br />

weil die Realanalyse nicht stimmte. Die<br />

politische Mitte ist kein politischer Standort,<br />

sondern eine virtuelle Konstruktion<br />

des Unpolitischen. Der Versuch, sich aus<br />

dem politischen Schema von links und<br />

rechts zu verabschieden, entbehrt einer<br />

sauberen Analyse der gesellschaftlichen,<br />

politischen und wirschaftlichen Verhältnisse<br />

in der Realentwicklung. Nicht weniger<br />

zum politischen Flop geworden ist<br />

das «Gurtenmanifest» vom Mai 2001, das<br />

inhaltlich und analytisch aber noch dünner<br />

war als der erste Versuch einer politischen<br />

Neuorientierung nach rechts in den<br />

achtziger Jahren.<br />

These 6:<br />

Um eine hegemoniale linke Politik zu<br />

entwickeln, steht sich die politische Linke<br />

in der <strong>Schweiz</strong> vorab selber im Weg,<br />

solange sich linke Parteien und kleinere<br />

Politsekten über den hegemonialen<br />

Anspruch innerhalb der Linken streiten.<br />

Die Zersplitterung der Linken in der<br />

<strong>Schweiz</strong>, namentlich die fortlaufende<br />

Spaltungsbewegung innerhalb politischer<br />

Gruppierungen links der <strong>SP</strong>, trägt oft die<br />

Züge eine politischen Sektarismus, der für<br />

die Durchsetzung der Grundwerte einer<br />

sozialen <strong>Schweiz</strong> wenig hilfreich ist. Für<br />

eine soziale <strong>Schweiz</strong> braucht es eine starke<br />

Linke in der <strong>Schweiz</strong>, die in der Lage<br />

ist, eine linke politische Debatte zu führen,<br />

sich aber nicht in einem Kleinkrieg über<br />

dogmatisierte Positionen selber lähmt, wie<br />

dies z.B. in jüngster Zeit mit der Abspaltung<br />

des «Mouvement pour le socialisme»<br />

aus der Solidarité oder mit den politisch<br />

sterilen Querelen von ExponentInnen des<br />

Oltner Bündnisses mit der Sozialdemokratie<br />

geschehen ist. Statt sich auf eine linke<br />

politische Plattform zu einigen, findet<br />

ein politischer Kleinkrieg statt, der nicht<br />

mehr den Kampf um die soziale <strong>Schweiz</strong><br />

stärkt, sondern ein gemeinsames politisches<br />

Projekt der Linken hintertreibt.<br />

Und oft ebenso schwer tut sich die <strong>SP</strong> und<br />

die politische Linke insgesamt gegenüber<br />

der Gewerkschaftsbewegung, die spätestens<br />

seit Mitte der neunziger Jahre als soziale<br />

Bewegung und politische Kraft des<br />

Landes an Profil gewonnen hat. Die Gewerkschaften<br />

sind die grösste soziale Bewegung<br />

der <strong>Schweiz</strong>, die nicht nur in der<br />

Gesamtarbeitsvertragspolitik die entscheidende<br />

Rolle spielt, sondern ihrerseits<br />

das grösste politische Mobilisierungsund<br />

Vetopotential im Kampf um eine soziale<br />

<strong>Schweiz</strong> und gegen den massiv drohenden<br />

Sozialabbau repräsentiert.<br />

These 7:<br />

Die soziale Frage ist die entscheidende<br />

Frage, welche die Menschen in der<br />

<strong>Schweiz</strong> bewegt. Das definiert die Position<br />

der <strong>SP</strong> als linke politische Kraft im<br />

Bündnis mit der Gewerkschaftsbewegung.<br />

Was vor sieben Jahren in der Analyse der<br />

politisch-gesellschaftlichen Situation der<br />

neunziger Jahre galt, zeigt sich heute in<br />

noch grösserer Schärfe als in der Krise der<br />

neunziger Jahre:<br />

Der politische<br />

Kleinkrieg innerhalb<br />

der Linken<br />

schwächt den<br />

Kampf um die<br />

soziale <strong>Schweiz</strong>.<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 15


• Immer mehr Menschen auch in den industrialisierten<br />

Ländern werden pauperisiert<br />

und marginalisiert. Praktisch<br />

alle Gesellschaften werden unsozialer,<br />

obwohl die wachsende ungleiche Verteilung<br />

der Einkommen und Vermögen<br />

das Wachstum behindert.<br />

• Wir brauchen eine nachhaltige und<br />

wachstumorientierte Wirtschafts- und<br />

Konjunkturpolitik, um den offenen<br />

und schleichenden Sozialabbau zu<br />

stoppen, die soziale Sicherung zu stärken<br />

und die Lohn- und Chancengleichheit<br />

zwischen Frauen und Männern<br />

endlich durchzusetzen. Die These<br />

stimmt: Die Totengräber des Wachstums<br />

sind nicht die Gewerkschaften und die<br />

politische Linke, sondern die Parteien<br />

der Rechten und der Wirtschaftsdachverband<br />

Economie Suisse.<br />

• Der Erhalt des Service public gegen die<br />

Politik der Liberalisierung, Deregulierung<br />

und Privatisierung ist ein Angelpunkt<br />

linker Politik. Dass diese Auseinandersetzung<br />

für die Linke nicht nur<br />

zentral, sondern auch erfolgreich sein<br />

kann, haben die Abstimmungserfolge<br />

gegen das EMG und andere Vorlagen in<br />

der Elektrizitätswirtschaft gezeigt.<br />

• Der radikale ökologische Umbau zahlt<br />

sich ökonomisch aus und generiert Beschäftigung.<br />

Und dennoch ist er in den<br />

letzten zehn Jahren nicht wesentlich<br />

vorangekommen. Im Gegenteil: Weite<br />

Teile der Wirtschaft haben den ökologischen<br />

Umbau bisher erfolgreich verhindert,<br />

obschon er für Industrie und<br />

Gewerbe in der <strong>Schweiz</strong> eine der spannendsten<br />

wirtschaftlichen und technologischen<br />

Herausforderungen wäre.<br />

These 8:<br />

Die Linke muss wieder lernen, ihre eigene<br />

Sprache zu pflegen. So wie das die<br />

SVP seit Jahren mit Erfolg tut.<br />

Die Linke hat ihre eigene ökonomische<br />

Analyse und Logik, die mit den neoliberalen<br />

Theorien und Dogmen der Bürgerlichen<br />

und der Arbeitgeber nicht kompatibel<br />

ist. Die <strong>SP</strong> und die linke Bewegung<br />

insgesamt muss wieder lernen, einen politischen<br />

Diskurs zu pflegen, den uns die<br />

politische und ökonomische Analyse nahe<br />

legt. Die schleichende Übernahme politischer<br />

und ökonomischer Diskurse der<br />

politischen Rechten oder der Arbeitgeberverbände<br />

hilft uns nicht weiter und<br />

macht uns zu Gefangenen einer bürgerlichen<br />

Logik. Hier müssen wir unsere eigenen<br />

politische Logik entgegensetzen:<br />

• Die Finanzierung der AHV als das effizienteste<br />

System der Altersvorsorge ist<br />

auch langfristig nicht gefährdet, sondern<br />

bedarf im Gegenteil eines Ausbaus zur<br />

existenzsichernden Rente, unter anderem<br />

mit der 13. Monatsrente, ohne Rentenaltererhöhung<br />

und einschliesslich einer<br />

sozialverträglichen Flexibilisierung<br />

des Rentenalters ab 62 oder 60 Jahren.<br />

• Mehr Lohngerechtigkeit durch höhere<br />

Einkommen für tiefere und mittlere Einkommensgruppen<br />

sind wirtschaftlich<br />

und volkswirtschaftlich keine Belastung,<br />

sondern fördern das Wirtschaftswachstum<br />

und die Beschäftigung.<br />

• In Zeiten der wirtschaftlichen Krise<br />

braucht es aus sozialen und ökonomischen<br />

Gründen nicht neoliberale Sparprogramme<br />

und Steuerentlastungen für<br />

höhere Einkommen, sondern eine antizyklische<br />

Finanz- und Geldpolitik<br />

mittels vorgezogener öffentlicher Investitionen<br />

und branchenbezogener Impulsprogramme.<br />

André Daguet, Jg. 1947, lic.rer.pol.,<br />

Vizepräsident der Gewerkschaft<br />

Smuv, bis 1996 Generalsekretär der<br />

<strong>SP</strong> <strong>Schweiz</strong>, lebt in Bern.<br />

16<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


Verkäuferinnen,<br />

Chauffeure und<br />

linke Politik<br />

Die fast 50-prozentige Unterstützung für<br />

die Asyl-Initiative der SVP kann als Votum<br />

gegen Flüchtlinge und eine offene und<br />

solidarische <strong>Schweiz</strong> interpretiert werden.<br />

Es tobe ein Kulturkampf – so die Einschätzung<br />

von Georg Kohler 1 –, der jetzt<br />

geführt werden müsse und bei welchem<br />

die CVP und FDP entschieden gegen die<br />

SVP und die Zerstörung der politischen<br />

Beat Baumann<br />

Kultur und den Zukunftsmöglichkeiten<br />

der <strong>Schweiz</strong> auftreten müssten. Besonders<br />

enttäuschend mag sein, dass die Initiative<br />

auch bei linken Wählerinnen und Wählern<br />

eine gewisse Unterstützung fand. Engagierte<br />

Bürgerinnen und Bürger wenden<br />

sich frustriert und angewidert von der Politik<br />

ab, da sie hinter diesem Abstimmungsverhalten<br />

fremdenfeindliche und<br />

nur langfristig veränderbare Einstellungen<br />

vermuten.<br />

Ich gehe in diesem Artikel von einer anderen<br />

These aus. In diesem Abstimmungsverhalten<br />

kommen Verunsicherung,<br />

Protest und Projektion eigener Existenzängste<br />

zum Ausdruck, die mit der<br />

Unzufriedenheit über eine zunehmend ungerechte<br />

Verteilungssituation zu tun haben.<br />

Die ökonomische Lage der Ärmsten,<br />

aber auch der unteren Mittelschicht, der<br />

Verkäuferinnen und der Chauffeure hat<br />

sich in den vergangenen Jahren massiv verschlechtert.<br />

Im neoliberalen Projekt wird<br />

1<br />

Georg Kohler im Tages-Anzeiger vom 24. November<br />

2002.<br />

eine grössere Ungleichheit in Kauf genommen,<br />

weil eine prosperierende Wirtschaft<br />

nur über eine finanzielle Entlastung<br />

der Unternehmen und Grossverdiener zu<br />

erzielen sei. Das galt lange Zeit als starkes<br />

Argument gegen eine politische Aufwertung<br />

der sozialen Gleichheit, auch in Kreisen<br />

der Sozialdemokratie 2 . Nun ist die<br />

Nebenwirkung der neoliberalen Medizin<br />

– eine grössere Ungleichheit – zwar eingetreten,<br />

nur blieb leider deren Wirkung –<br />

Wirtschaftswachstum und mehr Wohlstand<br />

für alle – aus.<br />

Liegt hier ein Ansatzpunkt einer linken<br />

Politik mit der sozialen Gleichheit als zentralem<br />

Wert? Die Kunst der Politik bestünde<br />

in einer Verbindung des Interesses<br />

der unteren Mittelschicht an einer Einkommensumverteilung<br />

mit dem Anliegen<br />

der linksliberalen Mittelschicht, allen gesellschaftlichen<br />

Gruppen, unabhängig von<br />

Geschlecht, Sexualität, Aufenthaltsstatus,<br />

Nationalität usw., die gleiche Anerkennung<br />

zukommen zu lassen 3 .<br />

Massive Umverteilung<br />

in den 90er Jahren<br />

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist<br />

die Beobachtung und Bestätigung eines<br />

allgemeinen Eindrucks, dass es in den 90er<br />

2<br />

Mahnkopf, Birgit (2000): Formel 1 der neuen Sozialdemokratie:<br />

Gerechtigkeit durch Ungleichheit. Zur Neuinterpretation<br />

der sozialen Frage im globalen Kapitalismus;<br />

in PROKLA <strong>Nr</strong>. 4.<br />

3<br />

Fraser, Nancy (2002): Soziale Gerechtigkeit in der Wissensgesellschaft:<br />

Umverteilung, Anerkennung und Teilhabe;<br />

in Heinrich-Böll-Stiftung (Hrs.), Gut zu Wissen – Links<br />

zur Wissensgesellschaft, Verlag Westfälisches Dampfboot.<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 17


Jahren zu einer unerwünschten Umverteilung<br />

der Einkommen gekommen ist. Eine<br />

im Auftrag des Staatssekretariats für<br />

Wirtschaft (seco) erstellte Studie belegt eine<br />

zunehmende soziale Ungleichheit bei<br />

den Haushalten 4 . Die Autoren stützen sich<br />

auf Daten der Verbrauchserhebung 1990<br />

sowie der Einkommens- und Verbrauchserhebung<br />

1998 des Bundesamtes für Statistik.<br />

Sie berechnen das Einkommen pro<br />

Äquivalenzperson 5 für die Jahre 1990 und<br />

1998 und teilen die Haushalte im Erwerbsprozess<br />

in Abhängigkeit der Einkommenshöhe<br />

in 6 Gruppen. Dabei sind<br />

die ärmsten 10 Prozent der Haushalte die<br />

4<br />

Müller André / Michael Marti / Renger van Nieuwkoop<br />

(2002): Globalisierung und die Ursachen der Umverteilung<br />

in der <strong>Schweiz</strong>, Studie im Auftrag des Staatssekretariats für<br />

Wirtschaft seco, Bern.<br />

3<br />

Das Einkommen pro Äquivalenzperson gibt das Einkommen<br />

eines Haushaltes im äquivalenten Einkommen eines<br />

Einpersonenhaushaltes mit gleichem Wohlstandsni<br />

veau an.<br />

kinderreichsten mit einem Schnitt von 1,3<br />

Kindern pro Haushalt. In den reichsten 10<br />

Prozent der Haushalte leben dagegen im<br />

Durchschnitt lediglich 0,3 Kinder.<br />

Von den Einnahmen der Haushalte (Löhne,<br />

Sozialleistungen, Kapitaleinkommen)<br />

werden die Zwangsausgaben (Steuern,<br />

Beiträge an die Sozialversicherungen,<br />

Prämien, Miete) subtrahiert und so das<br />

verfügbare Einkommen (für Nahrungsmittel,<br />

Mobilität, Kleidung usw.) ermittelt.<br />

Was sagt die Tabelle aus? Die Einnahmen<br />

haben in allen Gruppen zugenommen, am<br />

stärksten bei den reichsten 10 Prozent, was<br />

nicht überrascht. Deutlich aber auch bei<br />

den ärmsten 10 Prozent, aber am schwächsten<br />

bei den unteren 10–25 Prozent. Entscheidend<br />

für den Lebensstandard sind jedoch<br />

nicht die Einnahmen, sondern das<br />

Tabelle: Das verfügbare Einkommen pro Jahr, geordnet nach Einkommensstärke,<br />

1990 und 1998, in CHF<br />

zu Preisen von 1990,<br />

Quelle: MÜLLER / MARTI /<br />

NIEUWKOOP (Fn 4),<br />

ärmste 10%<br />

Armutsbevölkerung<br />

10%–25%<br />

25%–50%<br />

untere Mittelschicht<br />

50%–75%<br />

75%–90%<br />

reichste 10%<br />

obere Mittelschicht (inkl.<br />

linksliberale Mittelschicht) Oberschicht<br />

18<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


verfügbare Einkommen, und dies hat sich<br />

an den Rändern der Verteilung, bei den<br />

ärmstes 10 Prozent und den reichsten<br />

10 Prozent, extrem differenziert. Für die<br />

ärmsten 10 Prozent der Haushalte ist das<br />

frei verfügbare Jahreseinkommen in den<br />

90er Jahren deutlich zurückgegangen.<br />

Wie die Tabelle zeigt, war es 1998 pro<br />

Äquivalenzperson real um rund 2300<br />

Franken tiefer als 1990. Betrug sein Anteil<br />

am Gesamteinkommen 1990 noch 68 Prozent,<br />

so waren es 8 Jahre später nur noch<br />

53 Prozent, was einem Rückgang von 14<br />

Prozentpunkten entspricht!<br />

Anders die Situation der reichsten 10 Prozent<br />

der Haushalte: Zwar sind auch hier<br />

die Zwangsausgaben stärker angestiegen<br />

als das gesamte Einkommen. Das frei verfügbare<br />

Einkommen pro Äquivalenzperson<br />

ist aber im betrachteten Zeitraum<br />

noch um 10249 Franken (oder gut 12 Prozent)<br />

gestiegen.<br />

Die zunehmende Ungleichheit ist nicht auf<br />

die ärmsten und reichsten Haushalte beschränkt.<br />

Insgesamt ging bei den ärmeren<br />

50 Prozent der Haushalte das frei verfügbare<br />

Einkommen zurück, bei den darüber<br />

liegenden 40 Prozent der reicheren Haushalte<br />

stagnierte es und bei den reichsten<br />

10 Prozent stieg es – wie wir schon gesehen<br />

haben – deutlich an.<br />

Eine vereinfachte Zuordnung von Gesellschaftsschichten<br />

zu den statistischen<br />

Kategorien zeigt folgendes Bild: Die Lage<br />

der Armutsbevölkerung hat sich massiv<br />

verschlechtert und der Lebensstandard der<br />

unteren Mittelschicht ist ebenfalls markant<br />

gesunken. Die obere Mittelschicht lebt am<br />

Ende der 90er Jahre etwa gleich gut wie zu<br />

Beginn. Einzig die Oberschicht konnte ihr<br />

verfügbares Einkommen steigern. Dieses<br />

Muster der verstärkten Ungleichverteilung<br />

könnte aus dem Lehrbuch stammen.<br />

Interessant ist, wie diese zustande gekommen<br />

ist. Die Erkenntnis lautet, dass<br />

für die zunehmende Schieflage der Verteilung<br />

primär die Mechanismen des Nationalstaats<br />

verantwortlich sind und nicht<br />

etwa die Globalisierung. Konkret sind es<br />

die gestiegenen Ausgaben bei Kindern,<br />

Mieten, Krankenkassenprämien und Steuern,<br />

welche zu einem tieferen Lebensstandard<br />

der ärmeren Gesellschaftshälfte<br />

geführt haben.<br />

Enttäuschte Gerechtigkeit<br />

der unteren Mittelschicht...<br />

Eine klare Verschlechterung musste die<br />

untere Mittelschicht in den 90er Jahren<br />

hinnehmen. Doch wer gehört eigentlich<br />

zur unteren Mittelschicht? Ich habe als<br />

Kriterium die Höhe des verfügbaren Einkommens<br />

gewählt, was natürlich nicht die<br />

ganze soziale Lage widerspiegelt und auch<br />

von der Lebensphase abhängig ist; so reduzieren<br />

Kinder beispielsweise das verfügbare<br />

Einkommen ganz stark. Die untere<br />

Mittelschicht umfasst die traditionelle Arbeiterschicht,<br />

die Beschäftigten der Produktion<br />

des zweiten Sektors (Textil, Maschinenindustrie,<br />

Bau usw.), FacharbeiterInnen<br />

ohne besonderen Status oder<br />

ArbeiterInnen ohne Berufsabschluss. Zur<br />

unteren Mittelschicht gehören aber auch<br />

Angestellte in den privaten Dienstleistungsbetrieben<br />

(Servicemonteure, Service-<br />

Angestellte, technische Angestellte usw.)<br />

sowie RentnerInnen mit bescheidenen<br />

Rentenleistungen.<br />

Kennzeichen für die untere Mittelschicht<br />

sind relativ geringe Löhne und zunehmend<br />

auch unsichere berufliche Perspektiven.<br />

Sie ist besonders stark von Statusverlust,<br />

Erwerbslosigkeit, Aussteuerung und Verarmung<br />

bedroht. Neoliberale Veränderungen<br />

schmälern zudem auch den Status<br />

jener Angestellten bei der öffentlichen<br />

Hand, die bis vor kurzem eine sichere, vergleichsweise<br />

gut bezahlte Stelle hatten; so<br />

sind beispielsweise die Chauffeure jene Berufsgruppe<br />

mit dem grössten Lohnverlust<br />

in den vergangenen Jahren. Durch den so-<br />

Für die untere<br />

Mittelschicht<br />

hat sich das<br />

«Tauschverhältnis»<br />

mit dem Staat<br />

negativ verändert.<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 19


Der unteren<br />

Mittelschicht<br />

ist die<br />

Kontrolle<br />

über ihren<br />

Lebensstandard<br />

entglitten.<br />

zialen Wandel, durch Scheidung oder Einelternfamilien<br />

steigen Personen, v.a. Frauen,<br />

materiell in die untere Mittelschicht ab.<br />

Ein beträchtlicher Teil der unteren Mittelschicht<br />

hat keinen <strong>Schweiz</strong>er Pass.<br />

Für die untere Mittelschicht hat sich das<br />

«Tauschverhältnis» mit dem Staat negativ<br />

verändert. Steuern, Abgaben, Prämien und<br />

Sozialversicherungsbeiträge nahmen zu<br />

und das verfügbare Einkommen ab. Viele<br />

sind working poor, leben knapp über<br />

der Armutsgrenze, aber mit der Begleichung<br />

von Steuern und Krankenkassenprämien<br />

fallen sie darunter. Gleichzeitig<br />

scheint der Staat weder ihre künftigen Altersrenten<br />

noch die Ausbildungsperspektiven<br />

ihrer Kinder sichern zu können.<br />

Die untere Mittelschicht fühlt sich durch<br />

den Staat ungerecht behandelt und versucht<br />

dort Korrekturen vorzunehmen, wo es ihr<br />

möglich scheint, indem sie Steuerreduktionen<br />

unterstützt, obwohl sie davon nicht<br />

profitiert hat, wie die Statistik zeigt. Wer zur<br />

unteren Mittelschicht zählt, ist stolz darauf,<br />

ein finanziell unabhängiges Leben zu<br />

führen, das auf die eigene Leistung zurückgeführt<br />

wird. Das zunehmend ungünstigere<br />

Verhältnis von Kosten und Nutzen mit<br />

dem Staat verletzt den für die Mittelschicht<br />

wichtigen Wert der Leistungsgerechtigkeit.<br />

Der unteren Mittelschicht ist die Kontrolle<br />

über ihren Lebensstandard entglitten;<br />

trotz erhöhten Anstrengungen in den 90er<br />

Jahren ist das verfügbare Einkommen zurückgegangen<br />

und die Zukunftsperspektiven<br />

unsicherer geworden. Gerechtigkeitserwartungen<br />

der unteren Mittelschicht<br />

sind zutiefst enttäuscht worden.<br />

Die Leistungsgerechtigkeit, der zentrale<br />

Wert der unteren Mittelschicht, wird von<br />

Staat und Markt unterhöhlt 6 . Die Erwerbsarbeit<br />

wird zunehmend anspruchsvoller<br />

und intensiver, aber die Entlöhnung<br />

verbleibt auf dem alten Niveau. Verstärkt<br />

wird das Gefühl, dass das Einkommen mit<br />

Leistung nur bedingt kontrollierbar ist,<br />

auch durch die Entwicklung bei den Löhnen<br />

der Manager, die jede Relation zur<br />

Leistung verloren haben und einzig mit ihrer<br />

aussergewöhnlichen Machtpositionen<br />

zu tun haben. Der Flexibilisierungszwang<br />

des Neoliberalismus bringt eine<br />

neue und oft unzumutbare Verfügbarkeit<br />

der Menschen hervor und verstärkt das<br />

Gefühl einer starken Fremdbestimmung.<br />

Aus Kontrollverlust und sozialer Verunsicherung<br />

können intolerante und ausgrenzende<br />

Einstellungen folgen. Das Kontrollkonzept<br />

besagt, dass Personen, deren<br />

Handlungen stark external bestimmt sind,<br />

autoritär und ausgrenzend reagieren und<br />

als Folge davon Rassismus, Fremdenfeindlichkeit<br />

und Ausgrenzung von sozialen<br />

Schwachen zunehmen 7 . Die in der<br />

unteren Mittelschicht populäre Forderung<br />

nach «mehr Leistungsgerechtigkeit» wendet<br />

sich unter solchen Umständen gegen<br />

Ausgesteuerte, SozialhilfeempfängerInnen<br />

oder AsylbewerberInnen, indem deren<br />

finanzielle Unterstützung von einer<br />

«Gegenleistung» abhängig gemacht wird.<br />

Eine Position, die mit dem «Dritten<br />

Weg» auch in der Sozialdemokratie eine<br />

Basis gefunden hat.<br />

...und der linksliberalen<br />

Mittelschicht<br />

Personen der linksliberalen Mittelschicht<br />

sind materiell gut gestellt und konnten ihren<br />

Status in den 90er Jahren auf hohem<br />

Niveau halten. Sie streben sinnerfüllte Lebensstile<br />

an, die mit ihren Wertvorstellungen<br />

übereinstimmen, wie beispielsweise<br />

eine gleichmässigere Verteilung der Erwerbs-<br />

und Familienarbeit zwischen den<br />

6<br />

Mahnkopf, Birgit (2000): Formel 1 der neuen Sozialdemokratie:<br />

Gerechtigkeit durch Ungleichheit. Zur Neuinterpretation<br />

der sozialen Frage im globalen Kapitalismus;<br />

in PROKLA <strong>Nr</strong>. 4.<br />

7<br />

Heitmeyer, Wilhelm (2001): Autoritärer Kapitalismus,<br />

Demokratieentleerung und Rechtspopulismus; in Loch,<br />

Dietmar und Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.), Schattenseiten der<br />

Globalisierung, edition suhrkamp.<br />

20<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


Geschlechtern. Viele von ihnen engagieren<br />

sich bei den Organisationen der Zivilgesellschaft<br />

und einige auch bei den linken<br />

Parteien. Ihr politisches Interesse gilt<br />

einem guten Zusammenleben der unterschiedlichen<br />

Gruppen und einem würdigen<br />

und gerechten Umgang mit den<br />

Schwächsten in der Gesellschaft. Selbstverständlich<br />

ist der Sozialstaat auch im<br />

materiellen Interesse dieser Gruppe. Sie ist<br />

materiell so gut positioniert, dass sie im<br />

Allgemeininteresse auch einer Umverteilung<br />

zu ihren Ungunsten zustimmen<br />

kann. Doch auch ihre Gerechtigkeitserwartungen<br />

werden durch Fremdenfeindlichkeit,<br />

eine zunehmend repressivere<br />

Flüchtlingspolitik und dem fehlenden<br />

politischen Willen für eine bessere Integration<br />

der Ausländer und Ausländerinnen<br />

stark enttäuscht. Die Folgen davon sind<br />

Politikverdrossenheit, Rückzug aus der Politik,<br />

fehlendes Engagement und letztlich<br />

ein Verlust der Ideale.<br />

Enttäuschte Gerechtigkeit, die es bei beiden<br />

für die Linke relevanten Gesellschaftsschichten<br />

gibt, ist der Nährboden<br />

für Rechtspopulismus und Politikabstinenz.<br />

Ein linke Politik mobilisiert nur<br />

dann ausreichend, wenn beide Gruppen<br />

– untere sowie linksliberale Mittelschicht<br />

sich und ihre Gerechtigkeitsvorstellungen<br />

darin wiederfinden. Wie können Verteilungsfragen<br />

und Fragen der Anerkennung<br />

zusammengebracht werden? Die untere<br />

Mittelschicht wird dann die offene <strong>Schweiz</strong><br />

mittragen, wenn sie sich gerecht behandelt<br />

fühlt. Und die linksliberale Mittelschicht<br />

wird nur dann zu Verteilungskorrektur zu<br />

ihren Ungunsten bereit sein, wenn sich eine<br />

Perspektive für eine solidarische Gesellschaft<br />

abzeichnet. Vor diesem Hintergrund<br />

plädiere ich für eine linke Politik,<br />

welche Anerkennung aller gesellschaftlichen<br />

Gruppen und insbesondere Bedarfsgerechtigkeit<br />

der sozial Schwächsten<br />

mit einer leistungsgerechteren materiellen<br />

Besserstellung der unteren Mittelschicht<br />

in Zusammenhang bringt.<br />

Soziale Ungleichheit kein Thema?<br />

Der Trend zu einer immer egalitäreren Einkommensverteilung<br />

hat sich seit den<br />

80er Jahren in allen westlichen Industrieländern<br />

markant umgekehrt und die<br />

soziale Ungleichheit müsste eigentlich ein<br />

grosses Thema unserer Zeit sein, erst recht<br />

einer linken Politik 8 . Warum das nicht so<br />

ist, liegt natürlich an der langwährenden<br />

Dominanz des Neoliberalismus. Aber<br />

nicht darauf, sondern auf einen anderen<br />

Punkt möchte ich hinweisen. Was in der<br />

Sprache über Gesellschaft nicht abgebildet<br />

wird, kann auch nicht zu einem politischen<br />

Thema werden. Denn häufig wird<br />

ausgeblendet, dass die Gesellschaft vertikal,<br />

d. h. einkommensabhängig gegliedert<br />

ist. Bei den Verteilungskonflikten beobachten<br />

wir eine Verlagerung von der vertikalen,<br />

einkommensabhängigen zur horizontalen<br />

Ebene zwischen unterschiedlichen<br />

Gruppen. Leben die Alten auf<br />

Kosten der Jungen, Singles auf Kosten der<br />

Familien? Bei solchen Fragen werden die<br />

Gruppen als homogen betrachtet, ungeachtet<br />

dessen, dass es reiche und arme Alte,<br />

reiche und arme Singles wie Familien<br />

gibt. Im Zuge des «Individualismus» ist<br />

der Gesellschaft das Verständnis für die soziale<br />

Schichtung, das Klassenbewusstsein<br />

abhanden gekommen.<br />

8<br />

Nolte, Paul (2001): Unsere Klassengesellschaft, in die<br />

ZEIT <strong>Nr</strong>. 2.<br />

«Ein Plädoyer für mehr Klassenbewusstsein<br />

– das mag sich antiquiert anhören, wie<br />

die Aufforderung zur Rückkehr in die<br />

Denkwelten der Arbeiterbewegung vor<br />

hundert Jahren. Es heisst aber nur, dass wir<br />

ein geschärftes Bewusstsein dafür brauchen,<br />

in einer Welt zu leben, die immer<br />

noch durch soziale Ungleichheit, durch<br />

Schichtung und Klassendifferenzen geprägt<br />

wird. Das weiter zu verdrängen,<br />

kann angesichts der rasanten Veränderungen,<br />

wie wir sie zum Beispiel in der Informations-<br />

und Wissensökonomie erle-<br />

Enttäuschte<br />

Gerechtigkeit<br />

bei den für die<br />

Linken relevanten<br />

Gesellschaftsschichten<br />

ist der Nährboden<br />

für Rechtspopulismus<br />

und<br />

Politikabstinenz.<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 21


en, und angesichts der demografischen<br />

Veränderungen, denen wir nicht ausweichen<br />

können, politisch gefährlich sein...<br />

Mit Klassenkampf hat das gar nichts zu<br />

tun, wohl aber mit gesellschaftlicher<br />

Selbstaufklärung.» 9<br />

Werden in der Politik Gruppenbezeichnungen<br />

gewählt, die eine Schichtung der<br />

Gesellschaft zum Ausdruck bringen, so<br />

sind es in der Regel drei, die präsent sind:<br />

Die grösste Aufmerksamkeit erheischen<br />

die «Grossverdiener» und der «Mittelstand».<br />

Die Linke sorgt zusammen mit den<br />

Organisationen der Zivilgesellschaft für eine<br />

Repräsentation der «Armutsbevölkerung».<br />

Die untere Mittelschicht ist nicht<br />

präsent oder allenfalls im Bild vom «kleinen<br />

Mann von der Strasse». Die im politischen<br />

Raum konkurrierenden Massnahmen<br />

der Armutsbekämpfung und der steuerlichen<br />

Entlastung bringen der unteren<br />

Mittelschicht keinen grösseren Nutzen.<br />

Konzept für die klassische<br />

Verteilungspolitik nötig<br />

Die Linke hat sich immer wieder und auch<br />

mit Erfolg für den sozialen Ausgleich und<br />

eine bessere Stellung der unteren Mittelschicht<br />

eingesetzt. Es sind viele einzelne,<br />

für sich allein unspektakuläre Massnahmen<br />

wie z. B. die gebrochene Rentenformel<br />

bei der AHV, eine Erhöhung der Kinderzulagen<br />

oder die Verteidigung des Mischindexes<br />

von AHV/IV. Zwei Volksinitiativen<br />

vom 18. Mai setzten bei den<br />

stärksten Ungleichheitsfaktoren der 90er<br />

Jahre an, bei den Mieten und den Prämien<br />

der Krankenkassen (und ihre Ablehnung<br />

verschärft wohl die finanzielle Stellung der<br />

unteren Mittelschicht). Warum genügt dies<br />

9<br />

Nolte, Paul (2001): Unsere Klassengesellschaft, in die<br />

ZEIT <strong>Nr</strong>. 2.<br />

allein nicht? Es gibt keinen klaren Adressaten<br />

– ein vages «Viele würden profitieren»<br />

reicht nicht, Zusammenhänge werden<br />

zu wenig deutlich, Kontinuität nicht<br />

ersichtlich. Nötig wäre ein eigentliches<br />

Konzept zur Verteilungspolitik, welches<br />

Zielsetzung, Adressaten, Spannungsfelder,<br />

Zusammenhänge und zentrale Massnahmen<br />

beinhaltet, ein Konzept, wie es die<br />

<strong>SP</strong>S in der Familienpolitik entwickelt hat.<br />

Ein konzeptionell zu bearbeitendes Spannungsfeld<br />

beispielsweise besteht darin,<br />

dass die untere Mittelschicht immer wieder<br />

für Steuersenkungen votiert, obwohl<br />

die Ungleichheit damit eher zunimmt. Soziale<br />

Steuern wie eine Erbschaftssteuer<br />

oder eine Reichtumssteuer haben bei ihr<br />

keine Chance; aber sie gehören zweifellos<br />

in Instrumentenkasten einer linken Umverteilungspolitik.<br />

Und wo sollte eine Umverteilungspolitik<br />

ansetzen? Eine vorläufige<br />

Antwort liefert die Statistik mit vier<br />

hauptsächlichen Ansatzpunkten: Mieten,<br />

Prämien der Krankenversicherung,<br />

Steuern und Kinderkosten 10 . Nicht ein<br />

Kulturkampf, sondern ein Verteilungskampf<br />

tobt. Nicht Positionierung allein ist<br />

gefragt, sondern eine finanzielle Entlastung<br />

der unteren Mittelschicht und vor allem<br />

der Familien. Denn so werden Vertrauen<br />

in den Staat zurückgewonnen und fremdenfeindliche<br />

Einstellungen abgebaut.<br />

Die Stärkung einer offenen und solidarischen<br />

<strong>Schweiz</strong>, die alle gesellschaftlichen<br />

Gruppen gleichermassen akzeptiert, führt<br />

nicht über pädagogische Massnahmen und<br />

Moralappelle, sondern über eine gerechtere<br />

Verteilung, von der insbesondere die<br />

untere Mittelschicht profitieren müsste.<br />

10<br />

Bauer, Tobias Baumann, Beat (<strong>2003</strong>): Familien, Armut<br />

und Politik; in FamPra.ch <strong>Nr</strong>. 2.<br />

Beat Baumann ist Ökonom und<br />

Redaktor der <strong>Rote</strong>n <strong>Revue</strong><br />

22<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


<strong>Auswandern</strong> unmöglich<br />

Das Unbehagen im Kulturkampf (Brief aus Mexiko-Stadt)<br />

Si la scie scie la scie<br />

Et si la scie qui scie la scie<br />

Est la scie que scie la scie<br />

Il y a suisscide métallique.<br />

(Marcel Duchamp zu Jean Tinguelys<br />

«Homage to New York», 1960)<br />

Der liebe Gott der Christenheit sei nicht<br />

mehr wert als der Osiris der Ägypter oder<br />

der «Viztzilipuzli» (so die Verballhornung<br />

des kriegerischen Gottes Huitzilopochtli)<br />

der mexikanischen Azteken, schrieb der<br />

junge Theologe Jakob Heinrich «Henri»<br />

Michael Pfister<br />

Meister (1744–1826), Pfarrerssohn aus<br />

Küsnacht am Zürichsee, in seinem religionspsychologischen<br />

Traktat «Des origines<br />

des principes religieux» (Vom Ursprung<br />

der religiösen Grundsätze). Es war<br />

im Jahre des Herrn (nicht etwa des Viztzilipuzli)<br />

1768 – im ersten Schrecken über<br />

den Effekt seiner auf dem Hintergrund der<br />

französischen Aufklärung eigentlich harmlosen<br />

Gedankengänge flüchtete Henri<br />

Meister «zu einer Molkenkur» in den<br />

Thurgau und von dort weiter nach Paris.<br />

Das war wohlgetan, denn in Zürich wurde<br />

seine «verworrene, zweydeutige, tükische,<br />

spöttische Schrift» von Henkershand<br />

verbrannt, ihr Autor seiner Priesterwürde<br />

und seines Bürgerrechts enthoben und<br />

«contumaciter»zu Kerkerhaft im Wellenbergturm<br />

verurteilt. Von Voltaire hochgelobt,<br />

verkehrte der junge <strong>Schweiz</strong>er in<br />

Paris mit Diderot, Grimm und anderen<br />

Köpfen der Aufklärung, mässigte sich<br />

allerdings mit zunehmendem Alter und<br />

kehrte nach zwanzig Jahren, aufs Blut entsetzt<br />

über die Französische Revolution, in<br />

seine Heimatstadt zurück, wo er sich in einem<br />

Bändchen mit dem Titel «Reise von<br />

Zürich nach Zürich» an die «Zurückhaltung<br />

und Beengung» erinnerte, «die üblicherweise<br />

den lebendigsten Regungen sowohl<br />

durch den Geist unserer politischen<br />

Verfassung als auch durch die Strenge unserer<br />

Sitten und unserer religiösen Ansichten<br />

aufgezwungen werden».<br />

Den «Diskurs in der Enge» gab es also<br />

schon in der <strong>Schweiz</strong> des 18. Jahrhunderts.<br />

Erst durch das 20. zieht er sich aber<br />

wie ein roter Faden. Der Volksschullehrer<br />

und Erzähler Albin Zollinger schildert in<br />

den 30er Jahren «Die grosse Unruhe» seines<br />

Protagonisten Urban von Tscharner,<br />

der nach Paris flieht, getrieben vom<br />

«Instinkt, mit dem Gewohnten zu brechen,<br />

sehnlich ausschweifend Bewegung<br />

ins Dasein zu bringen, sich an den<br />

Gegensätzen zu entzünden». Das «Leben<br />

des Herzens» lässt sich Tscharner nicht<br />

«verkrümeln», denn «in der Heimat regierte<br />

der Geist der Frauenvereine, ungefähr<br />

das Widerwärtigste, was ihm in die<br />

Nase riechen konnte». «Die Welt ist eng,<br />

ich muss weiter hinweggehen, um vor den<br />

Nachstellungen der Heimat sicher zu<br />

sein», feuert sich Zollingers Emigrant selber<br />

an und freut sich darüber, in einem Pariser<br />

Bordell «prickelnd aufgewühlt mit<br />

dem neuen, anders duftenden, anders at-<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 23


Stabile<br />

Unterhosen<br />

sind für potente<br />

Weltschweizer<br />

im Stile Zollingers<br />

und Nizons<br />

natürlich<br />

unentbehrlich.<br />

menden Weibe allen ihm nur genehmen<br />

Möglichkeiten gegenüberzusitzen». In<br />

der Weltstadt sind die Frauen nicht in Vereinen<br />

organisiert, dafür haben manche eine<br />

andere Hautfarbe: «Tscharner, die Nase<br />

erhebend, stiess auf einen Nebel Parfüm,<br />

die Spur einer Negerin, die soeben<br />

die Strasse zu überqueren sich anschickte.<br />

Ihr Antlitz aus Kohle und Schnee dämmerte<br />

sonderbar drohend durch die Regenluft,<br />

obwohl sie sich, in der ständigen<br />

leisen Verlegenheit ihrer Rasse, Gleichmut<br />

wie einen Pelz umgelegt hatte.» Keine Frage,<br />

dass Tscharner das von ihm «Pharaonin»<br />

getaufte «schöne, sonderbare Wild»<br />

im Sturmlauf erobert.<br />

Zollingers Held kehrt gestählt wie ein<br />

Reisläufer von seinem Ego-Trip in die<br />

<strong>Schweiz</strong> zurück, ganz anders als Max<br />

Frischs trübsinniger Stiller, dessen Auswanderung<br />

eher einer Hegelschen Reise<br />

ins Negative gleicht, wobei die glückliche<br />

Aufhebung in der Synthese einer vermittelten<br />

Identität allerdings ungesichert<br />

bleibt. Ein fröhlicher Exilant ist hingegen<br />

Paul Nizon, der sich in Paris ebenfalls auf<br />

die Suche nach der exquisiten Schneekohle<br />

begibt und in der Rue St-Denis genauso<br />

unentgeltlich betreut wird wie<br />

weiland Zollingers Tscharner an der Rue<br />

Victoire. Nizon ist darüber hinaus eine<br />

Analyse des «Diskurses in der Enge»<br />

(1970) zu verdanken: «Das Fluchtmotiv<br />

zieht sich durch die schweizerische Literatur<br />

wie eine ansteckende Krankheit. (…)<br />

In unserer Literatur reissen die Helden<br />

aus, um Leben unter die Füsse zu bekommen<br />

– wie in Wirklichkeit die Schriftsteller<br />

ins Ausland fliehen, um erst einmal<br />

zu leben, um Stoffe zu erleben. Flucht als<br />

Kompensation von Ereignislosigkeit und<br />

Stoffmangel.»<br />

Doch die «sonderfall-mässige Enge», die<br />

peinigende Muse schreibender <strong>Schweiz</strong>er<br />

Männer, scheint aufgesprengt: Die<br />

<strong>Schweiz</strong> ist modern und international geworden,<br />

wenigstens ihre Städte bilden ein<br />

Quartier im «global village» – auf den<br />

Strassen gibt es Cafés, an der Langstrasse<br />

Pharaoninnen noch und noch, allenthalben<br />

Sushi, Subkultur und Street Parade<br />

bis zum Abwinken; der Zürcher Philosophieprofessor<br />

Georg Kohler konstatiert<br />

eine «Mediterranisierung (…) samt den<br />

mehr oder weniger echten Palmen auf den<br />

Trottoirs», die Alpen dürfen als geschleift<br />

bezeichnet werden. Dementsprechend<br />

ist das «Malaise»-Gequengel trotz Swissair,<br />

Gotthard und Zuger Massaker allgemeiner<br />

Zufriedenheit gewichen. Sogar den<br />

von Dürrenmatt in seiner legendären Havel-Rede<br />

über das «Gefängnis <strong>Schweiz</strong>»<br />

(1990) vermissten Zivildienst gibt es heute,<br />

wenn auch durch eine moralische Deklarationspflicht<br />

verbrämt. Das NZZ-<br />

Folio verzeichnete «Neopatriotismus»<br />

und «<strong>Schweiz</strong>er Erfolgsgeschichten», und<br />

der brillanteste Realsatiriker unter unseren<br />

«opinion leaders», «Weltwoche»-<br />

Chefredaktor Roger Köppel, lobte das<br />

«Genie des Mittelmasses», das just die<br />

internationale Kompetitionsfähigkeit verbürgt:<br />

«Kein Land der Welt dürfte mit<br />

hochwertigeren Ampeln, Tunnelbeleuchtungen<br />

und Strassenlaternen ausgerüstet<br />

sein. (…) Ein Kleiderfabrikant wie Calida<br />

produziert die weltweit vermutlich stabilsten<br />

Herrenunterhosen.» Langsamkeit und<br />

Vorsicht entlarvt Köppel als Schlüssel zum<br />

Erfolg und betont, «dass die <strong>Schweiz</strong> mit<br />

ihrem Hang zur Bedächtigkeit in der Geschichte<br />

vor allem erfreuliche Erfahrungen<br />

machte».<br />

Stabile Unterhosen sind für potente Weltschweizer<br />

im Stile Zollingers und Nizons<br />

natürlich unentbehrlich. Doch brauchen<br />

wir sie in unserem urbanisierten Paradies<br />

überhaupt noch? Vielleicht schon bald<br />

wieder. Deuten nicht die knappen Resultate<br />

in den Volksabstimmungen über den<br />

UNO-Beitritt und die Asyl-Initiative der<br />

SVP darauf hin, dass die böse, alte<br />

<strong>Schweiz</strong> nicht aufgesteckt hat? Wenn<br />

schon Old Europe bockt, warum sollte<br />

nicht auch Old Switzerland einen zweiten<br />

24<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


Frühling spüren? Nachdem im letzten Jahr<br />

49,9% der EidgenossInnen jegliche Einwanderung<br />

in die <strong>Schweiz</strong> hatten unterbinden<br />

wollen, diagnostizierte oberwähnter<br />

Professor Kohler die Existenz<br />

«zweier <strong>Schweiz</strong>en» und rührte die Trommeln<br />

zu einem Kulturkampf «zwischen<br />

den urbanen Gebieten der Gegenwartsmoderne<br />

und ländlichen Gebieten, wo<br />

noch andere Tempi herrschen». Nur<br />

Haaresbreite trennt uns von der alten<br />

Enge.<br />

Dürfen wir es also doch wieder mit den<br />

Altvorderen halten und Auswanderungsgelüste<br />

hegen? Aber wohin? Als <strong>Schweiz</strong>er<br />

mit angeblich erfolgsträchtigem Hang<br />

zur Bedächtigkeit kann ich nicht aufs Rekognoszieren<br />

verzichten und gönne mir<br />

zur Zeit ein sechswöchiges Probiererli Mexico<br />

City. Eine Tequila-Idee vielleicht, sollte<br />

es denn ausgerechnet in der zweitgrössten<br />

Megalopolis der Welt (geschätzte<br />

Einwohnerzahl zwischen 20 und 25 Millionen)<br />

Freiraum für einen Flüchtling aus<br />

dem engen Tal geben? Der hohe Himmel<br />

ist hier bekanntlich bräunlich getrübt,<br />

auch wenn es in den letzten fünfzehn Jahren<br />

gebessert haben soll. Der eine oder andere<br />

Bekannte hat mir vor der Abreise hämisch<br />

geraten, Gasmaske (Smog), Helm<br />

(Erdbeben) und Maschinenpistole (Kriminalität)<br />

nicht zu vergessen.<br />

Mexiko ist stolz auf seine Revolutionstradition,<br />

dennoch spreizt sich hier die<br />

Schere von Reichtum und Armut noch<br />

weiter als in der <strong>Schweiz</strong> – eine mögliche<br />

Erklärung für die starke Zunahme von<br />

Raubüberfällen und Entführungen. Auch<br />

das soll aber bald besser werden: Der Held<br />

von New York, Rudy Giuliani, ist angetreten,<br />

in der Stadt der Toleranz die «zerotolerance»-Diät<br />

einzuführen. Im Unterschied<br />

zur <strong>Schweiz</strong> ist Mexiko natürlich<br />

auch schon lange UNO-Mitglied; zurzeit<br />

verfügt es sogar über einen Sitz im Sicherheitsrat,<br />

der ihm im Vorfeld des<br />

Irak-Kriegs schwer zu schaffen machte.<br />

Sollte man aus Überzeugung und traditioneller<br />

Aversion gegen die Gringos<br />

«Nein» sagen zum Krieg oder doch lieber<br />

Realpolitik betreiben, auf das Veto der<br />

Russen und Franzosen vertrauen und mit<br />

einem «Ja» den drohenden Sanktionen<br />

der USA entgehen. Das angestammte<br />

Reich der Freiheit und der unbegrenzten<br />

Möglichkeiten verabreicht dem ärmeren<br />

Nachbarn wenig Zuckerbrot und viel Peitsche.<br />

Jederzeit können Massnahmen getroffen<br />

werden, die es den Millionen von<br />

illegalen mexikanischen MigrantInnen<br />

in den Staaten verunmöglichen, ihre<br />

Lohngelder ohne enorme Verluste nach<br />

Hause zu schicken. An der Grenze, der<br />

«frontera», die über weite Strecken dem<br />

Rio Grande entlang verläuft, machen sich<br />

amerikanische Waffennarren einen Sonntagsspass<br />

daraus, klandestine Einwanderer<br />

abzuknallen. Im Frühling <strong>2003</strong> trat jedoch<br />

eine grosszügige Regelung in Kraft:<br />

Junge Mexikaner konnten sich freiwillig<br />

bei der US-Armee melden und erhielten<br />

als Gegenleistung für den Einsatz im Irak<br />

die amerikanische Staatsbürgerschaft –<br />

«carne de cañon» heisst das auf Spanisch.<br />

Nicht dass es die «frontera» in unserer<br />

mittelmässig-paradiesischen <strong>Schweiz</strong> nicht<br />

gäbe. Dass die so genannte SVP-<strong>Schweiz</strong><br />

der imaginären Landesmauer mit der Asyl-<br />

Inititative noch eine Zinne aufsetzen wollte,<br />

hat niemanden überrascht. Doch was<br />

ist die Haltung der so genannten <strong>SP</strong>-<br />

<strong>Schweiz</strong> in dieser Sache? Stimmt es<br />

wirklich, dass die urbane Partei im von<br />

Georg Kohler geforderten Kulturkampf<br />

zur «Kontrollidee nicht mehr ein so inniges<br />

Verhältnis unterhält»? Diesen Eindruck<br />

hat man nicht, wenn sich die <strong>SP</strong> für<br />

die Säuberung des Rotlichtmilieus im Zürcher<br />

Stadtkreis einsetzt, aber wenig dafür<br />

tut, dass Ausländerinnen anderswo als in<br />

Massagesalons Arbeitsbewilligungen erhalten<br />

können. Ökonomisch und machtpolitisch<br />

leuchtet die Halbherzigkeit in Sachen<br />

Sans-Papiers und Immigration freilich<br />

ein – schliesslich haben Ausländer<br />

keine von jenen Stimmzetteln zu bieten,<br />

Dürfen wir also<br />

doch wieder mit<br />

den Altvorderen<br />

halten und<br />

Auswanderungsgelüste<br />

hegen?<br />

Aber wohin?<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 25


Wäre eine<br />

«urbane», weltoffene<br />

Strategie<br />

gegen diese<br />

alte <strong>Schweiz</strong><br />

der Kampf<br />

für ein «Land<br />

ohne Eigenschaften»?<br />

dank denen die <strong>SP</strong> auf einer ähnlichen Erfolgswelle<br />

surft wie die SVP. Und ist es<br />

nicht erfreulich, dass es einer Mehrheit der<br />

Einheimischen so gut geht, dass mit<br />

Mieterschutzvorlagen oder einer entschlossenen<br />

Politik gegen Steueroasen<br />

kaum Staat zu machen ist? Ein gewisses<br />

Unbehagen im Kulturkampf kommt auf.<br />

Das Urbane gegen das Ländliche zu stellen,<br />

ist eine nicht besonders neue, nicht<br />

besonders mutige und nicht besonders<br />

selbstkritische Strategie. Ehrlicherweise<br />

musste man dem grundsätzlich unsäglichen<br />

Christoph Mörgeli doch ein kleines<br />

bisschen Recht geben, als er sich in einer<br />

Kolumne in der Pendlerzeitung «Metropol»<br />

unter der Überschrift «Moritz, Markus<br />

und Sepp lachen» an den «Cüplisozialisten»<br />

stiess, die sich in Christoph Marthalers<br />

«Hotel Angst» über eine provinzielle<br />

Knorr-Aromat- und Cervelat-<br />

<strong>Schweiz</strong> mokieren.<br />

Zweieinhalb Stunden südlich von Mexico<br />

City, im malerischen Silberstädtchen<br />

Taxco, lerne ich den <strong>Schweiz</strong>er Musiker<br />

und Filmemacher Cyrill Schläpfer kennen,<br />

der mit seinem (jetzt auf DVD erhältlichen)<br />

Film «Ur-Musig» und mit seinem<br />

Plattenlabel «csr-records» einer der wenigen<br />

Brückenbauer zwischen der «ländlichen»<br />

und der «urbanen» <strong>Schweiz</strong> ist.<br />

Schläpfer kommt seit sieben Jahren immer<br />

wieder für ein paar Monate oder gar ein<br />

Jahr nach Mexiko, um Energie zu tanken,<br />

sich seiner eigenen Musik zu widmen oder<br />

auch Projekte in Zusammenarbeit mit mexikanischen<br />

Kollegen in Angriff zu nehmen.<br />

Er schätzt das hiesige Traditionsbewusstsein<br />

und bedauert, dass die «modernen»<br />

<strong>Schweiz</strong>er ihre angeblich «hinterwäldlerische»<br />

Volksmusik so schnöde<br />

ablehnen, wie Schläpfer es sonst nur bei<br />

den Deutschen und den Japanern feststellt.<br />

Leider seien Ländler in der <strong>Schweiz</strong> nach<br />

wie vor «nicht die Musik, die man der<br />

Freundin schenken kann», meint Cyrill<br />

Schläpfer.<br />

Paul Nizon sprach in seinem «Diskurs in<br />

der Enge» von der <strong>Schweiz</strong>er «Igelpsychose»<br />

als von «einer immerwährenden<br />

verdächtigen Angst, unsere «Eigenart» zu<br />

verlieren». Wäre dann die «urbane»,<br />

weltoffene Strategie gegen diese alte<br />

<strong>Schweiz</strong> der Kampf für ein «Land ohne Eigenschaften»?<br />

Es käme sehr darauf an, ob<br />

eine solche Eigenschaftslosigkeit Raum<br />

böte für das Nebeneinander verschiedener,<br />

stark ausgeprägter Identitäten – oder ob es<br />

mehr um eine opportunistisch-neutrale<br />

Mitte im Stil der expo.02 ginge, von der<br />

aus man sich das grösste Publikum und<br />

damit die grössten Renditen im Mainstream<br />

der Märkte sichern könnte.<br />

So wie der Ländler automatisch als<br />

Soundtrack zum «Puurezmorge» abgestempelt<br />

wird, freuen sich die Medien darüber,<br />

dass sich Christoph Blocher als Albert-Anker-Sammler<br />

in Szene setzt. Diese<br />

simplen Zuordnungen in Musik und<br />

bildender Kunst werden wenigstens durch<br />

die <strong>Schweiz</strong>er Literatur etwas ins Wanken<br />

gebracht: Gottfried Keller eignete sich<br />

schlecht als Schutzpatron der Diamantfeiern.<br />

Robert Walser, zeitweiliger Auswanderer<br />

in Berlin, und Friedrich Glauser,<br />

Fremdenlegionär und Weltenbürger,<br />

haben vor langem eine ländliche <strong>Schweiz</strong><br />

beschrieben, die nicht bloss hinterwäldlerisch<br />

ist: Glausers Porträt des marokanischen<br />

Wüstenpostens «Gourrama» und<br />

seiner zusammengewürfelten Besatzung ist<br />

sogar lesbar als eine Utopie eines Landes<br />

ohne Eigenschaften oder besser eines<br />

Treffpunktes prägnanter, aber grundverschiedener<br />

Eigenschaften, die sich in den<br />

Legionären aus verschiedenen Nationen<br />

verkörpern. Aber auch in jüngerer Zeit haben<br />

<strong>Schweiz</strong>er Autoren wie Peter Weber<br />

oder Tim Krohn den kulturkämpferischen<br />

Zwang zum Urban-Modernen mit Toggenburger<br />

Landschaftspanoramen («Der<br />

Wettermacher») und Glarner Sprachexperimenten<br />

(«Die Quatemberkinder»)<br />

unterlaufen und dabei weltfrischeste Heimatliteratur<br />

geschaffen.<br />

26<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


Handkehrum kritisieren jüngere Mexikaner<br />

das traditionelle Tequila-und-Tod-Klischee.<br />

Die «mexicanidad» im Sinne von<br />

Octavio Paz’ erfolgreichem Heimatporträt<br />

«Das Labyrinth der Einsamkeit» wird heute<br />

entlarvt als künstliche nationale Identität<br />

im Dienste der Zementierung einer<br />

Einparteienherrschaft, die im Jahr 2000<br />

nach gut sieben Jahrzehnten auf demokratischem<br />

Weg gefallen ist. Sollte man also<br />

nicht auch die «suicidad» der <strong>Schweiz</strong><br />

lieber ein für alle Mal ad patres schicken<br />

den Suizid begehen, der im analog zur<br />

«mexicanidad» gebildeten spanischen<br />

Neologismus steckt? Wer in Mexiko lebt<br />

und von einer <strong>Schweiz</strong>er Firma oder vom<br />

<strong>Schweiz</strong>er Staat bezahlt wird, der geniesst<br />

Nationalprivilegien, wie es früher Adels–<br />

privilegien gab. Ein Vorrecht der Geburt,<br />

das es seit der – mit reichlich terroristischer<br />

Energie vorangetriebenen – Französischen<br />

Revolution eigentlich nicht mehr geben<br />

sollte. Was, wenn die SVP-<strong>Schweiz</strong> für einen<br />

wirklich konsequenten Liberalismus<br />

auf der ganzen Welt, für einen freien Markt<br />

ohne Arbeitsverbote und ohne <strong>Schweiz</strong>er<br />

Schutzzölle einträte? Für Demokratie<br />

auch in jenen Gebieten, die «dafür noch<br />

nicht reif» sind, wie sich westlich-nördliche<br />

Wirtschaftsführer voller Stolz auf besagte<br />

Französische Revolution gerne ausdrücken?<br />

Was, wenn sich die <strong>SP</strong>-<strong>Schweiz</strong><br />

für schwächere «Sozialpartner» ohne<br />

<strong>Schweiz</strong>er Pass genauso einsetzen würde<br />

wie für Einheimische? Wenn der nationale<br />

Kampf der beiden grössten Parteien durch<br />

die Abschaffung des Nationalstaates überflüssig<br />

würde? Wenn sich der Kulturkampf<br />

zwischen Hinterwald und Vorderstadt auf<br />

diese Weise erledigte? Dann gäbe es keinen<br />

rettenden Horizont für beengte Literaten<br />

mehr. Man könnte nicht mehr auswandern.<br />

Transzendenz und erlösendes<br />

Jenseits wären endgültig abgeschafft.<br />

Den Konkurrenzkampf auf dem Unterwäschemarkt<br />

müssten die <strong>Schweiz</strong>er<br />

Qualitätsunternehmen jedenfalls nicht<br />

fürchten – die Herrenunterhosen, die ich<br />

mir für wenig Geld bei einem mexikanischen<br />

Strassenhändler gekauft habe, fallen<br />

bereits nach dem ersten Tragen aus der<br />

Naht.<br />

Michael Pfister ist Philosoph, Übersetzer<br />

und Journalist.<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 27


Fotos: Friederike Baetcke<br />

28<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 29


ZUR DISKUSSION GESTELLT<br />

Staatsverschuldung und<br />

Finanzierung der<br />

Altersvorsorge<br />

Günter Baigger<br />

Im Rahmen der zweiten Säule der Altersvorsorge<br />

wird zurzeit ein Deckungskapital<br />

von rund 600 Milliarden Franken<br />

verwaltet. Das Problem der öffentlichen<br />

Verschuldung (rund 220 Milliarden Franken)<br />

wird gewöhnlich getrennt davon<br />

diskutiert, obwohl beide Themen zusammenhängen.<br />

Eine höhere Staatsverschuldung<br />

könnte mehr Kapital der zweiten<br />

Säule absorbieren. Nicht das Ausmass<br />

der Staatsverschuldung ist das Hauptproblem<br />

der <strong>Schweiz</strong>er Wirtschaft, sondern<br />

das Anlagevolumen der zweiten Säule.<br />

Staatliches Sparen verstärkt hingegen<br />

den rezessiven Einfluss der zweiten<br />

Säule.<br />

Verschiedene, vor allem sozialdemokratisch<br />

orientierte Politiker weisen mit<br />

Recht darauf hin, dass die öffentliche<br />

Hand in der heutigen konjunkturellen Situation<br />

weniger sparen sollte. Eine Verschuldung<br />

der öffentlichen Hand von<br />

mehreren Milliarden Franken sei angesichts<br />

der momentanen rezessiven Tendenzen<br />

weniger problematisch, als manche<br />

bürgerlichen Politiker uns glauben<br />

machen wollten.<br />

Sosehr diese Argumentation überzeugt,<br />

ein anderer Vorgang beeinflusst die Konjunktur<br />

weit stärker, nämlich der Sparprozess<br />

im Rahmen der zweiten Säule. In<br />

seinen Ausmassen übertrifft dieser die<br />

Staatsverschuldung bei weitem. Heute liegen<br />

die im Rahmen der zweiten Säule angesparten<br />

Kapitale (inkl. Gruppenversicherungsverträge)<br />

über 600 Milliarden<br />

Franken. Dagegen nimmt sich die öffentliche<br />

Verschuldung mit ihren derzeit<br />

rund 220 Milliarden Franken 1 geradezu<br />

bescheiden aus. Nicht die öffentliche Verschuldung<br />

ist das Problem, sondern das<br />

Sparvolumen der zweiten Säule.<br />

Der Kapitalstock der zweiten Säule hat<br />

seinen Höhepunkt jedoch noch nicht erreicht.<br />

Der jährliche Zuwachs an Ersparnissen<br />

übertrifft die Neuverschuldung der<br />

öffentlichen Hand bei weitem. Ein Beharrungszustand<br />

ist in den nächsten Jahren<br />

nicht in Sicht. Die jährliche Gesamtzunahme<br />

des Kapitals der zweiten Säule<br />

betrug im Jahr 1998 über 50 Milliarden<br />

Franken. Heute liegt sie zwar darunter.<br />

Wertsteigerungen und Kapitalerträge fallen<br />

kleiner aus als damals. Bei einem<br />

Deckungskapital von rund 600 Milliarden<br />

Franken (fast das Dreifache der gesamten<br />

Schulden der öffentlichen Hand [Bund,<br />

Kantone und Gemeinden] in der <strong>Schweiz</strong>)<br />

dürfte die Verzinsung auch im Jahr <strong>2003</strong><br />

bei mehr als 20 Milliarden Franken liegen.<br />

Dank des positiven Beitragsleistungssaldos<br />

sind somit in der zweiten Säule auch<br />

heute noch jedes Jahr 20 bis 30 Milliarden<br />

Franken neu anzulegen. In diesem Ausmass<br />

werden jedes Jahr Gelder dem<br />

1<br />

Die öffentliche Verschuldung betrug im Jahr 2000 207<br />

Milliarden Franken und im Jahr 2002 217 Milliarden Franken.<br />

Somit betrug der mittlere jährliche Zuwachs in diesen<br />

Jahren 5 Milliarden Franken.<br />

30<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


Konsum entzogen. Bei Debatten über<br />

Staatsverschuldung sind allenfalls Beträge<br />

von 5 bis maximal 10 Milliarden Franken<br />

strittig, also geringfügige Beträge im<br />

Vergleich zu dem, was im Rahmen der<br />

zweiten Säule jedes Jahr neu anzulegen ist.<br />

Nicht die öffentliche Verschuldung belastet<br />

den Kapitalmarkt, sondern das Deckungskapital<br />

der zweiten Säule.<br />

Zu beachten ist die Komplementarität von<br />

öffentlicher Verschuldung und Sparen im<br />

Rahmen der beruflichen Vorsorge: Der<br />

Staat kann Obligationen ausgeben, welche<br />

die Vorsorgeeinrichtungen kaufen können.<br />

Die Ersparnisse der Vorsorgeeinrichtungen<br />

können somit die Verschuldung des<br />

Staates auffangen. In der heutigen Situation<br />

könnten Schulden den Kapitalmarkt<br />

entlasten. Ein Staat, welcher auf die<br />

Schuldenbremse tritt, nimmt hingegen den<br />

Pensionskassen Anlagemöglichkeiten, erschwert<br />

die Aufnahme des Kapitalzuwachses<br />

der zweiten Säule. Gleichzeitig<br />

verstärkt er die rezessiven Tendenzen der<br />

zweiten Säule.<br />

Hinzu kommt Folgendes: Das BVG befreit<br />

die öffentlich-rechtlichen Kassen vom<br />

Prinzip der Bilanzierung in geschlossener<br />

Kasse. Öffentlich-rechtliche Kassen müssen<br />

nicht alle Deckungskapitale ausfinanzieren.<br />

Sie dürfen ihren Deckungsgrad<br />

reduzieren. Begründet wurde dies mit der<br />

Perennitätsbedingung: Öffentlich-rechtliche<br />

Pensionskassen bestehen «ewig» und<br />

können deshalb immer mit dem nötigen<br />

Mittelzufluss rechnen. Mit der Privatisierung<br />

öffentlicher Dienstleistungen hat sich<br />

dies geändert. Ein erheblicher Teil der heute<br />

vorhandenen öffentlichen Schulden<br />

rührt daher, dass der Staat bei der Privatisierung<br />

den entsprechenden Pensionskassen<br />

das für eine volle Kapitalisierung<br />

notwendige Geld nachgeschossen hat 2 .<br />

Wir stehen vor folgendem Paradoxon: Der<br />

2<br />

Und dabei hiess es doch, Privatisierungen entlasten den<br />

Staat finanziell.<br />

Staat nimmt Schulden auf, damit die Pensionskassen<br />

mehr sparen können. Einerseits<br />

zwingt man die Kassen zu voller Finanzierung,<br />

obwohl es ihnen fast unmöglich<br />

ist, diese Gelder zu einem<br />

vernünftigen Zinssatz anzulegen. Andererseits<br />

hindern bürgerliche Politiker den<br />

Staat trotz Rezession (!) Schulden zu machen,<br />

welche bei Pensionskassen angelegt<br />

werden könnten.<br />

Dies entkräftet auch den häufig von bürgerlicher<br />

Seite geäusserten Einwand, mit<br />

Hilfe einer geringeren öffentlichen Verschuldung<br />

wolle man vermeiden, allzu hohe<br />

Belastungen künftigen Generationen<br />

aufzubürden. Wenn der Staat in diesem<br />

Ausmass Gelder in die zweite Säule<br />

presst, anstatt zu investieren, werden künftige<br />

Generationen mehr als durch Schulden<br />

bestraft. Zu beachten ist auch, dass<br />

das Erwirtschaften der Verzinsung auf diesem<br />

Kapital künftige Generationen ebenfalls<br />

belastet.<br />

Die Kapitalisierung der zweiten Säule hat<br />

folgende Nachteile:<br />

1. Die zweite Säule entzieht dem Konsum<br />

Gelder und verstärkt die rezessive Tendenz<br />

der Wirtschaft. Einschränkend ist<br />

hinzuzufügen, dass das andere Extrem,<br />

Sparquote Null und keine Kapitaldeckung<br />

in der Rentenversicherung, der<br />

Wirtschaft ebenfalls nicht förderlich wäre.<br />

Die Wirtschaftstheorie favorisiert deshalb<br />

einen optimalen Kapitalisierungsgrad,<br />

jenseits dessen die Wirtschaft in<br />

der Rezession landet und diesseits dessen<br />

die Wirtschaft zu wenig investiert,<br />

was ebenfalls das Wachstum hemmt.<br />

Die Sparquote der <strong>Schweiz</strong> dürfte oberhalb<br />

des optimalen Wertes liegen. Obwohl<br />

die <strong>Schweiz</strong> die höchste Pro-Kopf-<br />

Kapitalisierung der Altersvorsorge aller<br />

europäischer Staaten (wahrscheinlich<br />

sogar der ganzen Welt) aufweist, hat die<br />

<strong>Schweiz</strong> seit den achtziger Jahren in Europa<br />

die tiefsten Wachstumsraten. Da-<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 31


ei wurde anlässlich der Einführung des<br />

Obligatoriums der zweiten Säule vorgebracht,<br />

das Deckungskapital belebe<br />

die <strong>Schweiz</strong>er Wirtschaft.<br />

Man mag einwenden, dass nicht die Kapitalbildung<br />

im Rahmen der zweiten<br />

Säule, sondern andere Variablen die<br />

Wirtschaft negativ beeinflusst haben<br />

könnten. Gegen diesen Einwand spricht<br />

das gewaltige Volumen der zweiten Säule.<br />

Man muss nur fragen: Wie würde die<br />

<strong>Schweiz</strong>er Wirtschaft aussehen, wenn<br />

pro Jahr 30 Milliarden Franken weniger<br />

gespart würden, und in den Konsum<br />

fliessen könnten?<br />

2. Man hat auch vorgebracht, dass Investition<br />

in Aktien die Anlageprobleme lösen<br />

würde. Wenn man davon absieht,<br />

dass viele Statistiken über Aktienanlagen<br />

Fehler enthalten, zeigt die Erfahrung<br />

der vergangenen Jahre, dass Anlagen in<br />

Aktien weder die Wirtschaft beflügelt<br />

haben noch die Anlageprobleme der<br />

Pensionskassen lösen konnten. Man<br />

hatte zu Beginn der neunziger Jahre die<br />

Anlagebestimmungen für Pensionskassen<br />

wesentlich gelockert zugunsten eines<br />

hohen Aktienanteils. Die Kassen haben<br />

dies stark ausgenutzt. Der Aktienanteil<br />

stieg von unter 5 auf über 20<br />

Prozent, mit zunächst rasanten Erfolgen<br />

und mit dem Katzenjammer, der heute<br />

Platz gegriffen hat. Die Erhöhung des<br />

Aktienanteils ging übrigens auch zulasten<br />

der Anlagen in Staatspapieren.<br />

Wahrscheinlich hätte man das Geld besser<br />

beim Staat angelegt 3 .<br />

3<br />

Längerfristig kann die Aktienrendite die nominalen<br />

Wachstumsraten der Wirtschaft nicht übersteigen. Denn die<br />

Rendite gemessen in Franken gehorcht dem gleichen exponentiellen<br />

Wachstumsgesetz wie das verzinste Kapital.<br />

Falls die Rendite über der Wachstumsrate der Wirtschaft<br />

liegt, würde der Frankenbetrag der Rendite schliesslich das<br />

Bruttoinlandprodukt übertreffen. Dies wäre unmöglich. Die<br />

Erfahrung zeigt aber, dass die Aktienrendite schon lange vorher<br />

sinkt. Für den Anlagezeitraum einer Vorsorgeeinrichtung,<br />

welcher sich über mehr als 30 Jahre erstreckt, ist also<br />

mit einer realen (= inflationsbereinigten) Rendite von<br />

1 bis 3 Prozent zu rechnen.<br />

3. Das Deckungskapitalverfahren wird<br />

unter anderem damit begründet, dass<br />

es Sicherheit biete gegenüber demographischen<br />

Veränderungen. Das Verhältnis<br />

zwischen Beitragszahlern und<br />

Rentnern werde sich im Laufe der nächsten<br />

20 Jahre verschlechtern. Nur das<br />

Deckungskapitalverfahren biete den<br />

Rentnern genügend Sicherheit. Dagegen<br />

spricht jedoch folgende Überlegung.<br />

Wenn die Zahl der Beitragszahler zurückgeht,<br />

beginnen die Deckungskapitale<br />

zu schrumpfen. Vorsorgeeinrichtungen<br />

müssen Aktiven auflösen, d. h.<br />

verkaufen. Der Erlös daraus fliesst als<br />

Rente an die Pensionierten. Da dieser<br />

Verkaufsprozess gewaltige Beträge<br />

(mehrere Milliarden Franken pro Jahr)<br />

umsetzt, hat er Rückwirkungen auf<br />

den Preis des Kapitals. Es ist mit einer<br />

Entwertung des Kapitals zu rechnen,<br />

was zu einer Reduktion der Renten<br />

führen kann. Das Deckungskapitalverfahren<br />

bietet somit keine Immunität<br />

gegenüber demographischen Veränderungen.<br />

Hinzu kommt, dass demographische<br />

Veränderungen und der<br />

daraus resultierende Kapitalabbau auf<br />

mehrere Jahre im Voraus absehbar<br />

sind. Privatleute können auf Baisse<br />

spekulieren und damit den Kursverfall<br />

der einschlägigen Papiere verstärken<br />

mit Gewinnen zu Lasten der Pensionskassen.<br />

4. Das Ausmass an sicheren Anlagen ist<br />

begrenzt. Je mehr Geld die Pensionskassen<br />

anzulegen haben, desto höher<br />

steigt das Anlagerisiko. Dabei sind es<br />

erhebliche Beträge, welche verloren gehen<br />

können. Beispiel Swissair: Swissairaktien<br />

und -obligationen waren im<br />

Anlage-Portefeuille vieler Pensionskassen<br />

vertreten. Beim Grounding der<br />

Swissair verloren <strong>Schweiz</strong>er Pensionskassen<br />

deshalb an die 5 Milliarden<br />

Franken. Ähnlich negative Wirkungen<br />

hatten auch die Kursverluste anderer<br />

Firmen 4 . Staatsanleihen hingegen bie-<br />

32<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


ten mehr Sicherheit. Staatsanleihen gibt<br />

es aber nur, wenn der Staat sich verschuldet.<br />

5. Das gewaltige Anlagevolumen senkt bereits<br />

jetzt die Rendite der Pensionskassen<br />

5 . Wenn die Pensionskassen nicht<br />

mehr den technischen Zins erwirtschaften,<br />

führt dies zu einem Anlageproblem.<br />

Wie dramatisch mittlerweile<br />

die Situation ist, konnte man der «NZZ<br />

am Sonntag» vom 30.3.<strong>2003</strong> entnehmen.<br />

Versicherer wie Vaudoise oder<br />

Helvetia Patria wollen keine neuen<br />

BVG-Geschäfte abschliessen. Paul Müller,<br />

Chef <strong>Schweiz</strong> der Rentenanstalt,<br />

spricht für eine Reduktion des Zinssatzes<br />

auf zwei Prozent. Er wäre «nicht unglücklich,<br />

wenn wegen Prämienerhöhungen<br />

verärgerte Kunden selber künden<br />

würden». Eigentlich müssten bei<br />

Politikern die Alarmglocken läuten,<br />

wenn wesentliche Träger der zweiten<br />

Säule sich in dieser Weise aus dem BVG<br />

verabschieden wollen.<br />

4<br />

Risikoreiche Anlagen zeichnen sich dadurch aus, dass<br />

sie entweder sehr hohe Gewinne oder sehr hohe Verluste<br />

erzeugen. Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitstheorie<br />

gibt es dabei Verlierer und Gewinner. Viele sehen<br />

die Verlierer als Versager und die Gewinner als Könner an.<br />

Es wird übersehen, dass der Erfolg zufallsabhängig ist. In<br />

Zeiten hoher Volatilität wächst der Druck der Destinatäre<br />

von Vorsorgeeinrichtungen auf die Verantwortlichen, in risikoreiche<br />

Anlagen zu flüchten, um von kurzfristigen Zufallsschwankungen<br />

zu profitieren. Ökonomen, welchen der<br />

den Börsengewinnen zugrunde liegende Zufallsmechanismus<br />

unbekannt ist, sagen dann, das Kapital wandert an<br />

die Orte, wo es am meisten Nutzen abwirft. Aus der Theorie<br />

ergibt sich hingegen, dass ähnlich wie beim Roulett der<br />

Ertrag durch Martingalbedingungen determiniert ist, d. h.,<br />

dass kein Spielsystem die Gewinnchancen verbessert. Der<br />

Kenner ist nicht überrascht, wenn Kinder (oder zufällige Systeme)<br />

an der Börse den gleichen Anlageerfolg wie so genannte<br />

Experten oder Analysten ernten.<br />

5<br />

Dieser Effekt kann folgenden Verlauf nehmen: Aufgrund<br />

der Nachfrage der Pensionskassen steigen die Kurse. Diese<br />

Kurssteigerungen scheinen zunächst alle Anlageprobleme<br />

zu lösen. Deshalb treten weitere Anleger hinzu (z. B.<br />

auch der AHV-Ausgleichsfonds). Der Wert von Aktien steigt<br />

wie bei seltenen Briefmarken weiter. Eines Tages wird aber<br />

den Börsenteilnehmern klar, dass die Papiere überbewertet<br />

sind. Dann bricht die Seifenblase zusammen.<br />

6. Rückkoppelungen verstärken das Anlageproblem.<br />

Sinken die Zinsen, so haben<br />

Pensionskassen die Möglichkeit, die<br />

Beiträge anzuheben, um tiefere Renditen<br />

zu kompensieren und den Leistungsstand<br />

zu halten. Damit steigen<br />

Spar- und Anlagevolumen. Eine andere<br />

Möglichkeit besteht darin, Leistungen<br />

zu senken. Damit verringert sich der Abbau<br />

der Kapitale, was per Saldo ebenfalls<br />

zu einer Kapitalerhöhung führen<br />

kann. Der Mix aus Beitragserhöhung<br />

und Leistungssenkung vieler <strong>Schweiz</strong>er<br />

Pensionskassen wird die anzulegenden<br />

Kapitale insgesamt erhöhen. Hinzu<br />

kommt, dass auch die private Sparneigung<br />

(und damit die gesamtwirtschaftliche<br />

Ersparnisbildung) steigt, wenn die<br />

Renten der zweiten Säule nicht sicher<br />

sind. Dies ist bereits der Fall, wenn die<br />

Unsicherheit nur vermeintlich ist. Privates<br />

Sparen wirkt ähnlich wie Sparen<br />

in der zweiten Säule. Falls man die zweite<br />

durch die dritte Säule substituieren<br />

möchte, ist aufgrund der geringeren Effizienz<br />

des privaten Sparens sogar mit<br />

einem zusätzlichen Anstieg der Kapitalbildung<br />

zu rechnen 6 .<br />

7. Aufgrund des gewaltigen Anlagevolumens<br />

besteht die Gefahr, dass das Kapital<br />

in ungeeignete Hände kommt:<br />

– Wirtschaftspublizisten haben Aktien<br />

hochgeschrieben und mit grossem<br />

Nachdruck die Aktienanlage für Pensionskassen<br />

propagiert. Pensionskassen<br />

haben daraufhin wie erwähnt ihr Aktienportefeuille<br />

aufgestockt. Profitiert<br />

haben diejenigen, welche damals ihre<br />

Papiere zu günstigen Preisen verkaufen<br />

konnten.<br />

– Im Übrigen wäre zu prüfen, wie viel<br />

Pensionskassengeld durch schlichte<br />

Kriminalität wie Insidervergehen oder<br />

Unterschlagungen verloren geht. Diesbezügliche<br />

Zeitungsmeldungen sind<br />

relativ häufig. Geld – besonders in enormen<br />

Mengen – zieht zwielichtige Existenzen<br />

an.<br />

6<br />

Dies als Seitenbemerkung an die Adresse von Sozialabbauern.<br />

Eine private Vorsorge könnte aus rein ökonomischen<br />

Gründen kaum die in der Bundesverfassung geforderte<br />

Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung leisten.<br />

Das Sparen würde die Wirtschaft ersticken und damit auch<br />

die private Vorsorge.<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 33


Aus sozialpolitischen Überlegungen ist es<br />

schliesslich paradox, wenn in einer Situation,<br />

in welcher bei Rentenkassen ein eigentlicher<br />

Anlagenotstand herrscht, über<br />

eine Kürzung der Renten nachgedacht<br />

wird. Man fragt sich, ob man vor vollen<br />

Fleischtöpfen verhungern will. Angesichts<br />

von Leistungskürzungen mutet das<br />

seinerzeitige Versprechen, dass die zweite<br />

Säule das Gleiche leiste wie die Volkspension,<br />

aber sicherer sei, wie ein Witz an 7 .<br />

Die Sicherheit des Deckungskapitalverfahrens<br />

war auch ein Grund dafür, dass<br />

man das Eintrittsgenerationenproblem<br />

in Kauf nahm. Ausgerechnet jetzt, wo es<br />

immer noch Eintrittsgenerationen gibt,<br />

und wo immer noch nicht alle Versicherten<br />

die vollen BVG-Leistungen erhalten,<br />

denkt man an Rentenkürzungen. Hinzu<br />

kommt, dass den Pensionskassen die Bewährungsprobe<br />

noch bevorsteht. Wie sicher<br />

werden die Renten sein, wenn sich<br />

das Verhältnis von Beitragszahlern und<br />

Rentnern den Prognosen entsprechend<br />

verschlechtern wird, wo doch die Verzinsung<br />

bereits jetzt ein Problem darstellt?<br />

Aus wirtschaftspolitischen Überlegungen<br />

hingegen stellt die zweite Säule in der heutigen<br />

Form eine wirtschaftspolitische<br />

Zeitbombe dar 8 .<br />

Zur Frage, was man jetzt tun könne und<br />

solle, nenne ich abschliessend einige<br />

konkrete Vorschläge:<br />

• Es ist zu prüfen, inwieweit Pensionskassen<br />

vom Prinzip der vollen Kapitalisierung<br />

befreit werden sollen. Eventuell<br />

muss ein umlagefinanzierter Pool aufgebaut<br />

werden, welcher Beiträge an<br />

Pensionskassen mit ungünstiger Altersstruktur<br />

leistet. Man sollte auch den<br />

seinerzeitigen Vorschlag von Prof. Dr.<br />

Schwartz prüfen 9 , die Kapitalisierung<br />

der Pensionskassen an die wirtschaftliche<br />

Lage anzupassen.<br />

• Eine andere Möglichkeit bestünde darin,<br />

die Pensionskassen zu verpflichten,<br />

Anleihen anderer Sozialversicherungszweige<br />

(etwa der Arbeitslosenversicherung)<br />

zu zeichnen, welche diese in der<br />

Hochkonjunktur wieder zurückzahlen<br />

müssten.<br />

• Der <strong>Schweiz</strong>er Staat sollte das unsinnige<br />

Gesetz der Schuldenbremse annullieren.<br />

Sonst sieht es düster aus für die <strong>Schweiz</strong>er<br />

Wirtschaft.<br />

• Rentenkürzungen sind abzulehnen. Sie<br />

wären Gift für die Konjunktur. Aus sozialpolitischen<br />

Gründen sind sie nicht<br />

zu verantworten.<br />

7<br />

Die vielfach schlecht geredete AHV steht heute besser da.<br />

8<br />

Ähnlich argumentiert auch der emeritierte freisinnige<br />

ETH-Professor Hans Würgler, welcher in den siebziger Jahren<br />

die Expertenkommission zur Behandlung der volkswirtschaftlichen<br />

Fragen der Sozialversicherungen präsidierte.<br />

In einem Interview mit der Sonntagszeitung vom 20.4. äussert<br />

er sich drastisch. Er sagt: «Das Drei-Säulen-System<br />

müsste theoretisch zerschlagen und die zweite Säule aufgeteilt<br />

werden: Ein Teil kommt in die AHV zur Verstärkung<br />

der ersten Säule, der Rest wird der dritten Säule, dem privaten<br />

Sparen, zugewiesen. Die Konzentration auf zwei Säulen<br />

würde das Zwangssparen teilweise entschärfen.»<br />

9<br />

Jean-Jacques Schwartz, Gesamtwirtschaftliche Probleme<br />

der zweiten Säule, <strong>Schweiz</strong>erische Z. für Sozialversicherung<br />

1977, 199–219.<br />

Günter Baigger, Dr. sc. math., lebt in<br />

Kriens. Er ist Mitglied der <strong>SP</strong>S und arbeitet<br />

in der sozialpolitischen und in<br />

der finanzpolitischen Kommission<br />

mit.<br />

34<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


REPLIKEN<br />

Replik auf<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 1/<strong>2003</strong><br />

Die letzte Nummer der <strong>Rote</strong>n <strong>Revue</strong> war<br />

der aktuellen Bildungspolitik gewidmet.<br />

Hohe Erwartungen waren damit verknüpft.<br />

Die Enttäuschung war entsprechend<br />

gross. Da war zwar viel von Bildung<br />

Linda Stibler<br />

die Rede, vom internationalen Wettbewerb<br />

und nicht zuletzt vom europäischen<br />

Selbstverständnis – von einer wirklichen<br />

linken Bildungspolitik oder auch nur dem<br />

Ansatz zu einer alternativen Denkweise<br />

auf diesem Gebiet keine Spur!<br />

Im Gegenteil: Da stimmen Sozialdemokraten<br />

in hohen Tönen ins Lied des allgemeinen<br />

Konkurrenz- und Wettbewerbsdenkens<br />

ein, das die Bildungsdebatte im<br />

letzten Jahrzehnte beinahe total überlagert<br />

hat, ohne zu merken, dass sie von einer<br />

neoliberalen Doktrin vereinnahmt werden.<br />

Nach diesem Muster ist Bildung der wichtigste<br />

Rohstoff, den die Wirtschaft braucht.<br />

Und sie braucht ihn so genormt und vergleichbar<br />

wie irgend möglich. Also sind<br />

Schulen und Universitäten dazu verpflichtet,<br />

diesen Rohstoff so aufzubereiten,<br />

dass er unter kleinstmöglichen Verlusten<br />

und Risiken zum richtigen Zweck eingesetzt<br />

werden kann. Selbstverständlich sollen<br />

die Kosten für die in dieser Weise vorgenommene<br />

«Veredelung» von der Allgemeinheit<br />

getragen werden, den Gewinn<br />

streicht die Wirtschaft ein; schliesslich trägt<br />

sie zum allgemeinen Wohlstand bei und<br />

gibt den Leuten Arbeit – solange es ihr<br />

passt und so lange es rentiert.<br />

Zugegeben, diese Skizze ist etwas holzschnittartig<br />

und vielleicht auch überzeichnet.<br />

Aber kommen wir auf den<br />

konkreten Inhalt des Heftes zurück:<br />

Die Pisa-Studie vergleicht den Wissensoder<br />

Fertigkeitsstand in Schlüsselqualifikationen<br />

unter Schülern verschiedener<br />

Länder. Sie vergleicht aber nicht Bildung,<br />

und sie definiert auch nicht, was Bildung<br />

sein könnte oder welche Art von Bildung<br />

die Gesellschaft in den nächsten zehn Jahren<br />

nötig hat, wenn diese Generation ins<br />

Erwachsenenleben tritt. Diese Debatte<br />

könnte allenfalls in der Öffentlichkeit geführt<br />

werden. Das Gegenteil ist der Fall,<br />

Die öffentliche Reaktion (und diejenige<br />

der Bildungspolitiker) auf die Pisa-Studie<br />

wird lediglich auf dem Konkurrenzniveau<br />

geführt: Welches Land ist besser? Warum<br />

ist ein Land besser als das andere? Was<br />

kann getan werden, damit ein Land die<br />

Konkurrenzfähigkeit ihrer Schulabgänger<br />

verbessern kann?<br />

Die Debatte um die Bologna-Studie wird<br />

nicht anders geführt. Kann der Wert eines<br />

Hochschulstudiums an den möglichst<br />

vergleichbaren Abschlüssen gemessen<br />

werden? Seit wann ist Mobilität ein Bildungsinhalt?<br />

Global vergleichbare Abschlüsse<br />

machen es vor allem den Abnehmern<br />

von Hochschulabgängern leichter,<br />

sich weltweit (und nicht etwa europaweit)<br />

die scheinbar Tüchtigsten auszusuchen<br />

und sie in die entsprechenden Zentren abzuziehen.<br />

Sie sind auf mobilitätswillige<br />

und mobilitätsgewohnte Leute angewie-<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 35


sen, die den Beruf über ihre persönlichen<br />

und örtlichen Bindungen zu stellen vermögen.<br />

Was das aber alles mit europäischem<br />

Bewusstsein zu tun hat, ist schleierhaft.<br />

Den wortreich beschworenen Nutzen,<br />

den diese Bologna-Reform für die<br />

europäischen Bürger und ihr demokratisches<br />

Selbstverständnis haben soll, ist<br />

ebenso wenig offensichtlich.<br />

Da müsste konkret gesagt werden, dass die<br />

Universitäten bereit und in der Lage dazu<br />

sind, das Bindeglied zwischen Hochschule<br />

und einfachem Bürger zu schaffen, ihr<br />

Wissen und ihre Einsichten nach unten –<br />

oder nach hinten – zu transferieren und in<br />

einen Austausch mit der übrigen Gesellschaft<br />

zu treten. Das wäre eine demokratische<br />

und vornehme Aufgabe der Universitäten,<br />

die notabene von der öffentlichen<br />

Hand finanziert sind, mehr und<br />

mehr aber in der so genannten Eigenverantwortung<br />

von wirtschaftlichen Interessen<br />

dominiert werden. (Die Universität Basel<br />

ist ein bedenkliches Beispiel.) Darüber<br />

wird in der Bologna-Diskussion kein Wort<br />

verloren. Stattdessen werden Forderungen<br />

aufgestellt. Etwa 15 Prozent mehr finanzielle<br />

Mittel sollen aufgewendet werden für<br />

die Anpassung der Hochschulen ans Bologna-Modell<br />

und für Stipendien (damit<br />

nicht nur die Kinder wohlhabender Leute<br />

aufsteigen). Das ist, gelinde gesagt, in<br />

der heutigen Situation eine Anmassung,<br />

auch eine Anmassung so genannt linker<br />

Bildungspolitik. Wenn überhaupt noch<br />

Geld für Bildung aufzutreiben ist, dann<br />

müsste es zuerst und ohne Einschränkung<br />

jenen zugute kommen, die in den letzten<br />

schwierigen Jahren zu kurz gekommen<br />

sind. Es müsste in den vierten Bildungssektor<br />

für die Aus- und Weiterbildung von<br />

Erwachsenen gesteckt werden, um jenen<br />

Leuten eine Nachholbildung und auch jenen<br />

Selbstwert zu geben, der sie erst zu<br />

selbstbewussten, kritischen und mündigen<br />

Bürgern macht. Wenn hier nicht rasch ein<br />

Ausgleich geschafft wird, schlittern wir<br />

weiter auf dem Weg zur Zweidrittelsgesellschaft,<br />

auf deren einen Seite die Reichen,<br />

Mächtigen, Arroganten und Gutverdienenden<br />

stehen und auf der andern<br />

Seite die Ausgegrenzten, die werktätigen<br />

Armen, der dumme Normalverdiener, die<br />

Frustrierten, das grosse Heer jener, die auf<br />

der Strecke geblieben sind. Es lohnt sich,<br />

in diesem Zusammenhang den Streifen<br />

«Bowling for Columbine» von Michael<br />

Moore über die Hintergründe des Amoklaufs<br />

in der gleichnamigen Schule anzusehen.<br />

Da erklärt zum Beispiel ein Mitglied<br />

einer gewalttätigen Schülergang seinen<br />

Standpunkt: Die Eltern sagen dir,<br />

wenn du den Abschluss für die höhere<br />

Stufe nicht hinkriegst, ist dein Leben versaut;<br />

du wirst zu den Untersten und zu den<br />

Armen gehören. Dasselbe pauken sie dir<br />

auch in der Schule ein. Was also, so könnte<br />

man sich fragen, bleibt an Hoffnung<br />

noch übrig, wenn man die obere Stufe<br />

nicht schafft? Man kann nur noch zum<br />

Gewehr greifen.<br />

Linke Bildungspolitik, die diesen Namen<br />

verdient, muss grundsätzlich von der<br />

Gleichwertigkeit der Menschen ausgehen<br />

und demnach den Bildungsanspruch aller<br />

– der Dummen und der Gescheiten, der<br />

Privilegierten und weniger Privilegierten –<br />

gegen die Übergriffe der globalisierten Profitwirtschaft<br />

verteidigen (was keineswegs<br />

mit den Interessen einer gesellschafts- und<br />

sozialverträglichen Wirtschaft zu verwechseln<br />

ist).<br />

Linda Stibler, Journalistin, <strong>SP</strong>-Mitglied<br />

und Bildungsaktivistin, Basel<br />

36<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


Replik auf Peter Knoepfel<br />

zur Eigentumsdebatte<br />

Peter Knoepfel hat in der letzten Nummer<br />

der <strong>Rote</strong>n <strong>Revue</strong> unter dem Titel «Die <strong>SP</strong><br />

braucht eine neue Eigentumsdebatte»<br />

seine Überlegungen zur schweizerischen<br />

Eigentumsordnung und vor allem zum<br />

Umgang mit den natürlichen Ressourcen<br />

Patricia M. Schiess Rütimann<br />

dargelegt. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten<br />

muss es ein Anliegen sein,<br />

dass jeder Mann und jede Frau eine Chance<br />

hat, Eigentum oder andere langfristig<br />

geschützte Rechte am Boden und an anderen<br />

Gütern zu erlangen. Ich stimme Peter<br />

Knoepfel zu: Die Verteilung von Eigentum<br />

ist heute ungerecht, und es ist<br />

auch noch in einem anderen Bereich eine<br />

«Umverteilung» notwendig: Es geht<br />

nicht an, dass auch denen die saubere und<br />

elektrosmogfreie Luft ausgeht, die sich bemühen,<br />

auf umweltbelastend hergestellte<br />

Produkte und die Mobiltelefonie zu verzichten;<br />

dass immer noch grosse Flächen<br />

überbaut werden, womit wir nicht nur unseren<br />

eigenen Lebensraum einengen, sondern<br />

auch den von unseren Kindern und<br />

Kindeskindern, von den Pflanzen und Tieren<br />

ganz zu schweigen; oder dass sich ein<br />

immer dichterer Lärmteppich ausbreitet,<br />

genährt von Flugzeugen, Autos und einer<br />

zu jeder Tages- und Nachtzeit aktiven<br />

Unterhaltungsindustrie. Es regt sich auch<br />

zu Recht Widerstand, wenn Quartiere,<br />

Dörfer und Täler durch den Abbruch charakteristischer<br />

Gebäudegruppen oder<br />

durch phantasielose Neubauten ihr Gesicht<br />

verlieren oder zwecks touristischer<br />

Vermarktung auf ein Postkartenidyll mit<br />

entsprechender nächtlicher Beleuchtung<br />

reduziert werden.<br />

Peter Knoepfel bezeichnet diese Vorgänge,<br />

mit denen sich einzelne auf Kosten der<br />

übrigen Einwohnerinnen und Einwohner<br />

bereichern und nicht selten der Umwelt<br />

schwere Schäden zufügen, als «schleichende<br />

Privatisierung». Dieser Begriff ist<br />

einprägsam. Er zeigt: Einzelne tun etwas,<br />

womit sie alle anderen von der Nutzung<br />

oder vom harmlosen, stillen Genuss eines<br />

Gutes ausschliessen.<br />

Diese Usurpation insbesondere der natürlichen<br />

Ressourcen möchte Peter<br />

Knoepfel folgendermassen bekämpfen:<br />

Der Staat solle an Luft, Landschaft, Wasser<br />

etc. neue eigentumsähnliche Titel<br />

schaffen. Diese Titel würden den Inhaberinnen<br />

und Inhabern keine unbeschränkte<br />

Verfügungsmacht gewähren, sondern nur<br />

beschränkte Verfügungs- und Nutzungsrechte.<br />

Der Staat würde bei der Zuteilung<br />

dieser Titel auf eine breitere Streuung achten,<br />

indem jeder Person gewisse minimale,<br />

für ihre Entfaltung notwendige Rechte<br />

garantiert würden. Er behielte auch die<br />

Kompetenz, die Berechtigungen bei Bedarf<br />

abzuändern. Diese Verleihung von beschränkten<br />

Rechten hätte gemäss Peter<br />

Knoepfel auch den Vorteil, dass Verantwortlichkeiten<br />

klar festgemacht würden<br />

und die Berechtigten motivierter wären,<br />

mit den ihnen anvertrauten Gütern verantwortungsvoll<br />

umzugehen.<br />

Tatsächlich ist die beunruhigende Tendenz<br />

festzustellen, dass private Eigentümer<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 37


versuchen, ihr Eigentum immer weiter in<br />

die Höhe und in die Tiefe auszudehnen.<br />

Einerseits, indem von Sportbahnen und<br />

Kraftwerken Eigentum an kulturunfähigem<br />

Land im Hochgebirge reklamiert<br />

wird, andererseits, indem sich immer<br />

häufiger Fragen stellen, wer denn nun<br />

Rechte am Erdinnern, insbesondere am<br />

Grundwasser, geltend machen kann 1 .<br />

Diese Entwicklungen dürfen wir nicht aus<br />

den Augen verlieren. Peter Knoepfel<br />

spielt jedoch auf anderes an: Auf die negativen<br />

Auswirkungen der häufig kostenlosen<br />

Nutzung natürlicher Ressourcen auf<br />

die Allgemeinheit. Die Fahrzeuge, die in<br />

der <strong>Schweiz</strong> herumfahren, sind hierzu zugelassen.<br />

Ihre Beeinträchtigungen der<br />

Luft, der Wohnqualität, der Erdölvorkommen,<br />

der sicheren Fortbewegung von<br />

Fussgängerinnen und Velofahrern etc. werden<br />

jedoch weder durch Steuern und Abgaben<br />

der Automobilindustrie noch durch<br />

die den einzelnen Fahrzeughalterinnen<br />

und -haltern auferlegten Kosten in genügende<br />

Masse gedeckt. Dasselbe gilt für den<br />

Flugverkehr, für ganze Industriezweige<br />

und Kraftwerke, die ihre Produkte so gesehen<br />

zu billig anbieten können, weil sie<br />

eben nicht für die so genannten externen<br />

Kosten aufkommen müssen. Und selbst<br />

wenn das Finanzielle befriedigend geregelt<br />

wäre, bliebe die störende Tatsache, dass<br />

die Umwelt geschädigt wird und alle Menschen,<br />

nicht nur die Verursacher, in ihrer<br />

Lebensqualität beeinträchtigt werden.<br />

Nur, ich sehe darin – anders als Peter<br />

Knoepfel – kein Problem des im Privatrecht<br />

geregelten Eigentums. Die Ressourcen,<br />

die solchermassen unverantwortlich<br />

genutzt und übernutzt werden, sind mit<br />

wenigen Ausnahmen eben gerade nicht<br />

Privateigentum der Autofahrenden, der<br />

Aktionäre eines Betriebes, der Discobesucher,<br />

Stromlieferanten oder -bezüger.<br />

Dass gentechnisch veränderte Organismen<br />

1<br />

Eine aktuelle Übersicht bietet: Christina Schmid-Tschirren,<br />

Wem gehört das Finsteraarhorn? – Artikel 664 ZGB im<br />

Lichte der Praxis, in: Festschrift 100 Jahre Verband bernischer<br />

Notare, Langenthal <strong>2003</strong><br />

eine Gefährdung umliegender Kulturen<br />

darstellen, hängt nicht damit zusammen,<br />

dass die Forschungsanstalt Eigentum an<br />

ihnen oder der Versuchsfläche erlangt hat.<br />

Das Eigentum an den verschiedenen<br />

Strassenkategorien gehört nicht den Automobilistinnen<br />

und -mobilisten, genauso<br />

wenig wie sie Rechte an der Luft beanspruchen<br />

wollen. Diese Privaten, die ihre<br />

Interessen rücksichtslos durchsetzen, behaupten<br />

meist nicht einmal, dass ihnen<br />

dieses Recht allein zukomme oder dass sie<br />

so etwas wie Eigentum an den unveräusserlichen<br />

Gütern hätten. Insofern ist der<br />

Begriff der «schleichenden Privatisierung»<br />

nicht glücklich gewählt.<br />

Selbst wenn solche problematischen Nutzungen<br />

am Eigentum anknüpfen – z.B. am<br />

Eigentum am Grund und Boden, auf dem<br />

der Flughafen errichtet worden ist, oder an<br />

der privatrechtlichen Herrschaft über eine<br />

Unternehmung so sind es nicht die privatrechtlichen<br />

Bestimmungen, welche<br />

diese ungesunden Entwicklungen fördern.<br />

Die Kompetenzen, welche das schweizerische<br />

Sachenrecht dem Eigentümer verleiht,<br />

reichen niemals dazu aus, dass sein<br />

Auto weiter als auf seinem Grundstück<br />

herumfahren kann. Das Eigentum am Boden<br />

allein erlaubt die Erstellung und Inbetriebnahme<br />

einer Produktionsstätte<br />

oder eines Flughafens noch nicht. Vielmehr<br />

muss der an einer solchen Aktivität<br />

Interessierte verschiedene Bewilligungen<br />

einholen.<br />

Nutzungen von Luft, Wasser, Boden etc.,<br />

die über das Übliche hinausgehen und andere<br />

von der (gleichzeitigen) Ausübung<br />

derselben Tätigkeit ausschliessen, unterstehen<br />

bereits heute einer Bewilligungspflicht.<br />

Die Bewilligungen werden von der<br />

zuständigen Behörde auf Gemeinde-,<br />

Kantons- oder Bundesebene erteilt. Die öffentliche<br />

Hand ist also involviert in die Zuweisung<br />

der Nutzungsrechte. Es würde darum<br />

nichts bringen, die Güter, die gemäss<br />

geltendem Recht nicht im Eigentum eines<br />

Privaten stehen können, dem Staat zuzu-<br />

38<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


weisen mit der Aufgabe, die Nutzung an<br />

Private unter besonderen Auflagen zu gestatten.<br />

Einerseits müssen wir abklären, welche<br />

Tätigkeiten, die wegen ihrer Auswirkungen<br />

auf andere Menschen und/oder die<br />

Umwelt unter eine Bewilligungspflicht gestellt<br />

werden müssten, es noch nicht sind.<br />

So kann man sich z.B. fragen, ob wirklich<br />

jede und jeder voraussetzungslos unbeschränkt<br />

lange von überall her nach überall<br />

hin telefonieren können soll, ob jedes<br />

Verkaufsgeschäft alle Kundinnen und<br />

Kunden mit Musik berieseln darf.<br />

Andererseits müssen wir die Bewilligungsvoraussetzungen<br />

und -verfahren<br />

unter die Lupe nehmen. Genügen die Voraussetzungen,<br />

die erfüllt sein müssen, den<br />

heutigen Anforderungen? Auch auf dem<br />

Gebiet der so genannten Koordination gibt<br />

es noch viel zu tun. Einerseits, weil immer<br />

mehr Tätigkeiten nicht nur in einem Bereich<br />

negative oder unbekannte Auswirkungen<br />

zeitigen, sondern im Zusammenspiel<br />

mit anderen Umweltbelastungen eine<br />

ganze Reihe von Reaktionen auslösen.<br />

Andererseits, weil sehr viele Projekte –<br />

vom Flusskraftwerk, der Umfahrungsstrasse<br />

über den Flughafen bis zu Versuchen<br />

mit gentechnisch veränderten Pflanzen<br />

– nicht nur Folgen für eine Gemeinde<br />

oder einen Kanton haben.<br />

In vielen Fällen stellt sich denn auch die<br />

Frage, ob es sinnvoll ist, eine kantonale Behörde<br />

als Bewilligungsinstanz vorzusehen.<br />

Sind unsere Kantone nicht viel zu klein,<br />

um Abklärungen alleine und vor allem<br />

auch unabhängig von kurzfristigen wirtschaftlichen<br />

Interessen zu treffen? Stichworte:<br />

eine für den Tourismus wichtige<br />

Massnahme, der grösste Arbeitgeber im<br />

Kanton, mehr Lebensqualität durch vergrössertes<br />

Freizeitangebot, Schaffung einer<br />

guten Wohnlage für gute Steuerzahler.<br />

Genügt es, wenn nur die Anwohner, deren<br />

Gartenhag direkt an ein Unternehmen<br />

grenzt und die zudem Eigentümer und<br />

nicht nur Mieter sind, Einsprache erheben<br />

dürfen? Müssten nicht auch die Interessen<br />

von Kindern sowie Ausländerinnen<br />

und Ausländern berücksichtigt werden,<br />

die im Planungsprozess auf politischer<br />

Ebene keine Stimme haben?<br />

Änderungen an der privatrechtlichen Eigentumsordnung<br />

bringen diesbezüglich<br />

keine Verbesserung. Sie tut ihren Dienst<br />

zuverlässig und beständig und schützt von<br />

ihrem Grundgedanken her die natürlichen<br />

Ressourcen insbesondere im (Hoch-)Gebirge<br />

vor den Interessen Privater.<br />

Anzusetzen ist vielmehr bei der Ausgestaltung<br />

der Bewilligungsverfahren. Viel<br />

häufiger sollten die Entscheide auf höherer<br />

Ebene, beim Bund, gefällt werden, und<br />

nicht in den mit wirtschaftlichen Argumenten<br />

leichter erpressbaren Gemeinden<br />

und Kantonen. Teilt man die Ansicht, dass<br />

Erwachsene wirksam über das Portemonnaie<br />

erzogen werden, so eröffnen sich<br />

weitere Möglichkeiten. Oder ist die ökologische<br />

Steuerreform bereits tot? Ich hoffe<br />

es nicht. Gibt es doch genügend Beispiele,<br />

in denen man für unsoziales, umweltschädigendes<br />

Verhalten wie tägliches<br />

Autofahren über lange Strecken oder Bewohnen<br />

einer viel zu grossen Liegenschaft<br />

steuerlich sogar noch belohnt wird.<br />

Diese Gedanken sind leider nicht neu. Das<br />

bedeutet, dass sie noch immer nicht umgesetzt<br />

worden sind. Das bedeutet aber<br />

gleichzeitig auch, dass das Denken nicht<br />

bei Null beginnen muss.<br />

Patricia M. Schiess Rütimann hat sich<br />

in ihrer Doktorarbeit «Nachverdichtung<br />

von Liegenschaften mit Mietwohnungen»<br />

u.a. mit der haushälterischen<br />

Bodennutzung auseinander<br />

gesetzt. Sie arbeitet als Oberassistentin<br />

im Privatrecht an der Universität<br />

Zürich.<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 39


CHRONOS<br />

Sozialismus in einer<br />

Stadt?<br />

Vor 75 Jahren entstand das rote Zürich<br />

«Erobert Zürich dem Sozialismus!» Mit<br />

diesem Slogan warb im Frühjahr 1928 die<br />

Sozialdemokratische Partei der grössten<br />

<strong>Schweiz</strong>er Stadt für ihre Kandidaten. Auch<br />

die Gegenseite betrachtete die anstehenden<br />

Wahlen als Richtungsentscheidung.<br />

Christian Koller<br />

«Für ein freies und fortschrittliches Zürich<br />

– Gegen rote Parteidiktatur», hiess es auf<br />

einem Flugblatt für die «bürgerliche Einheitsliste»<br />

zum Stadtrat. Seit dem Ende<br />

des Ersten Weltkrieges hielten sich Rechte<br />

und Linke wählermässig in etwa die<br />

Waage. Ein «rotes Zürich» lag förmlich in<br />

der Luft. 1919 hatten die Bürgerlichen die<br />

Mehrheit im Gemeinderat verloren, das<br />

Zünglein an der Waage zwischen den 60<br />

Sozialdemokraten und 57 Bürgerlichen<br />

spielten acht Grütlianer, die sich als «Sozialdemokratische<br />

Volkspartei» rechts<br />

von der <strong>SP</strong> abgespalten hatten. Diese<br />

Konstellation konnte aber sozialpolitisch<br />

nicht ausgenutzt werden, da die Stadt<br />

nach einer Kreditsperre der Banken unter<br />

der Finanzaufsicht des Kantons stand.<br />

1919/20 mussten die Sozialausgaben von<br />

6,4 auf 4 Millionen gesenkt und über ein<br />

Viertel der städtischen Angestellten entlassen<br />

werden. 1922 errangen die Bürgerlichen<br />

eine hauchdünne Mehrheit von<br />

einem Sitz, die sie drei Jahre später wieder<br />

verloren. Nun sassen den 60 Bürgerlichen<br />

55 Sozialdemokraten, 9 Kommunisten<br />

und 1 Grütlianer gegenüber. In der Exekutive<br />

war die Linke aber nur mit drei von<br />

neun Sitzen vertreten.<br />

Diese Pattsituation drängte zu einer Entscheidung.<br />

Im Wahlkampf von 1928<br />

konnte jedes Lager die Schuld für die<br />

Probleme der Stadt der Gegenseite in die<br />

Schuhe schieben. Die Freisinnigen reimten<br />

in einem Pamphlet mit dem Titel «Zürcher<br />

Bilderbogen» gekonnt: «Doch wer<br />

saniert jetzt die Finanzen/ Befreit den Leu<br />

von roten Wanzen?/ Das darf dann wieder<br />

treu und stumm/ Das gute Zürcher<br />

Bürgertum.» 1 Das freisinnige Emblem, ein<br />

Züri-Leu mit Stadtfahne, veranlasste die<br />

<strong>SP</strong>, von der «Raubtierpartei» zu sprechen.<br />

Sie wollte nicht nur die linke Mehrheit im<br />

Gemeinderat halten, sondern auch die<br />

Majorität in der Exekutive erobern. Ein<br />

erster Schritt dazu gelang im Januar<br />

1928, als in einer Nachwahl die <strong>SP</strong> zu Lasten<br />

des Freisinns ein viertes Stadtratsmandat<br />

gewann. Zu den allgemeinen Erneuerungswahlen<br />

drei Monate später traten<br />

die Sozialdemokraten mit einer<br />

Fünferliste an, für das Stadtpräsidium kandidierte<br />

Emil Klöti, der bereits seit 21 Jahren<br />

im Stadtrat sass, gegen den demokratischen<br />

Amtsinhaber Hans Nägeli. Am 15.<br />

April 1928 wurde das «rote Zürich» Realität:<br />

Bei den Stadtratswahlen landeten<br />

die <strong>SP</strong>-Kandidaten auf den ersten fünf<br />

Plätzen, im Gemeinderat blieb das bisherige<br />

Kräfteverhältnis gewahrt, und bei der<br />

Wahl für das Stadtpräsidium distanzierte<br />

der Herausforderer den bisherigen um<br />

rund tausend Stimmen.<br />

1<br />

<strong>Schweiz</strong>erisches Sozialarchiv 32/114a, Wahlen Stadt<br />

Zürich 1914–1928.<br />

40<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


Zürich war nicht die erste «rote» <strong>Schweiz</strong>er<br />

Gemeinde. Bereits vor dem Ersten<br />

Weltkrieg war den Sozialdemokraten etwa<br />

in Altstetten (1907) und in La Chauxde-Fonds<br />

(1912) die Eroberung der Mehrheit<br />

gelungen. In den frühen zwanziger<br />

Jahren wurden neben La Chaux-de-Fonds<br />

und seiner Nachbarstadt Le Locle Biel<br />

(1921 bis 1947) und Arbon (1925 bis 1957)<br />

«rote Städte». Nach Zürich folgten Schaffhausen,<br />

Basel, Lausanne und Genf. Ende<br />

1933 verfügte die <strong>SP</strong> in etwa 40 Gemeinden<br />

über die Verwaltungsmehrheit. Nach<br />

dem Landesstreik war die von der auf ihren<br />

Obrigkeitsstaat fixierten deutschen Sozialdemokratie<br />

übernommene Idee, die<br />

Macht im Gesamtstaat sei das alles Entscheidende,<br />

durch die Strategie des «Gemeindesozialismus»<br />

ergänzt worden:<br />

Durch die Eroberung von Mehrheitspositionen<br />

in den Gemeinden sollten wichtige<br />

soziale Ziele verwirklicht werden, etwa<br />

der Ausbau der kommunalen Dienstleistungen<br />

und der gemeindeeigenen<br />

industriellen Betriebe, die Verbesserung<br />

der Anstellungsverhältnisse der Gemeindeangestellten,<br />

die Förderung des kommunalen<br />

und genossenschaftlichen Wohnungsbaus<br />

und die Fusion von Gemeinden<br />

mit unterschiedlicher Steuerkraft.<br />

Entgegen den bürgerlichen Befürchtungen<br />

verfolgte das «rote Zürich» eine zwar konsequente,<br />

aber auch auf Ausgleich bedachte<br />

Politik. Als kurz nach den Wahlen<br />

ein bürgerlicher Stadtrat verstarb, verzichtete<br />

die <strong>SP</strong> bei der Ersatzwahl auf eine<br />

eigene Kandidatur oder auf die Unterstützung<br />

des kommunistischen Bewerbers<br />

und ermöglichte damit die Wahl eines Freisinnigen.<br />

Auch auf der symbolischen Ebene<br />

widerspiegelte sich diese Grundhaltung:<br />

Am 1. Mai 1928 wurden zwar erstmals die<br />

städtischen Amtsgebäude beflaggt, allerdings<br />

nicht mit roten, sondern mit <strong>Schweiz</strong>er<br />

und Zürcher Fahnen. Das «rote Zürich»<br />

verstand sich nicht als ein sozialistisches<br />

Experimentierfeld, sondern wollte<br />

Symbol und Paradebeispiel solider sozialdemokratischer<br />

Verwaltungsarbeit werden.<br />

Unverzüglich wurde indessen der als<br />

«Linkenfresser» bekannte Polizeiinspektor<br />

Otto Heusser entlassen, der ein halbstaatliches<br />

Spitzelnetz aufgebaut hatte,<br />

welches er dann allerdings noch bis nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg weiterbetrieb.<br />

Das ungeliebte Polizeiamt, das die Bürgerlichen<br />

bis anhin den Sozialdemokraten<br />

überantwortet hatten, wurde dankend an<br />

die neue Minderheit weitergegeben.<br />

In der Zeit bis zur Weltwirtschaftskrise<br />

konnten nun zahlreiche Reformmassnahmen<br />

an die Hand genommen werden.<br />

Das 1924 gestartete Programm der Unterstützung<br />

von Wohnbaugenossenschaften<br />

wurde weitergeführt. 1929 erfolgte die Einführung<br />

der beitragslosen Altersbeihilfe sowie<br />

die Schaffung einer Spar- und Hilfskasse<br />

für das nicht versicherte städtische<br />

Hilfspersonal. Das grösste Projekt war die<br />

zweite Eingemeindung. Zahlreiche Vorortsgemeinden<br />

gehörten wirtschaftlich<br />

längst zur Stadt und hatten auch ähnliche<br />

soziale Probleme. Namentlich die Glattalgemeinde<br />

Affoltern drohte finanziell zusammenzubrechen.<br />

Durch die Schaffung<br />

von «Gross-Zürich» sollte die Planbarkeit<br />

der Wirtschaftsregion Zürich vergrössert<br />

und ein finanzieller Ausgleich zwischen armen<br />

und reichen Quartieren geschaffen<br />

werden. Nachdem ein erster Vorstoss 1929<br />

noch in der kantonalen Volksabstimmung<br />

gescheitert war, wurde 1931 eine neue Vorlage<br />

gutgeheissen, die die reichen Gemeinden<br />

Kilchberg und Zollikon von der<br />

Eingemeindung ausnahm. Damit verdoppelte<br />

sich die Stadtfläche und die EinwohnerInnenzahl<br />

stieg von 250000 auf<br />

320000.<br />

Bald wurde die Weltwirtschaftskrise aber<br />

auch im «roten Zürich» spürbar. Die Zahl<br />

der Arbeitslosen sprang von 1795 im Jahre<br />

1930 auf 12415 im Jahre 1934. Die<br />

Stadtregierung reagierte mit verschiedenen<br />

sozialpolitischen und interventionistischen<br />

Massnahmen. 1931 wurde die<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 41


obligatorische, von der Stadtkasse subventionierte<br />

Arbeitslosenversicherung eingeführt.<br />

Ab 1933 gewährte die Stadt (wie<br />

auch der Kanton) Exportrisikogarantien.<br />

Als die Firma Escher Wyss nahe am Konkurs<br />

stand, kaufte die Stadt 1935 ihre Liegenschaft<br />

und vermietete sie ihr zu günstigen<br />

Konditionen, um die 1000 Arbeitsplätze<br />

zu retten. Als Arbeitsbeschaffungsmassnahme<br />

wurden Renovationsarbeiten<br />

städtisch unterstützt.<br />

Allerdings kam es nun teilweise zu Konflikten<br />

mit der Basis. Ein wilder Streik der<br />

Heizungsmonteure, die einen vom SMUV<br />

mit den Arbeitgebern ausgehandelten<br />

Lohnabbau ablehnten und dabei bei der<br />

KP Unterstützung fanden, gipfelte am 15.<br />

Juni 1932 in Strassenschlachten zwischen<br />

Aussersihler Arbeitern und der Polizei<br />

mit einem Toten. Auch die JungsozialistInnen<br />

übten immer stärkere Kritik an<br />

der Stadtregierung und näherten sich der<br />

KP an. Im Dezember 1934 wurden ihre<br />

Organisationen von der <strong>SP</strong> aufgelöst.<br />

Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme<br />

in Deutschland im Januar<br />

1933 wurde auch in Zürich eine neue politische<br />

Kraft wichtig: die «Fronten». Sie<br />

agitierten «gegen den antireligiösen, bolschewistischen<br />

und jüdischen Zersetzungsgeist»<br />

sowie «gegen den Parteienstaat<br />

und gegen den unverantwortlichen<br />

Parlamentarismus» 2 und stiessen zunächst<br />

im Bürgertum trotz ihres antidemokratischen<br />

und antiliberalen Programms durchaus<br />

auf Sympathien. Am 28. Mai 1933,<br />

dreieinhalb Wochen nach der Zerschlagung<br />

der deutschen Gewerkschaften,<br />

widmeten die Freisinnigen ihren Kantonaltag<br />

der Frage der Zusammenarbeit mit<br />

den Fronten. Parteipräsident Heinrich<br />

Weisflog meinte dabei, der Freisinn begrüsse<br />

«von ganzem Herzen den Grundton<br />

der neuen Bewegungen ‘Alles für das<br />

2<br />

<strong>Schweiz</strong>erisches Sozialarchiv 32/116, Wahlen Stadt Zürich<br />

1933.<br />

Vaterland’ und ist mit ihnen einverstanden,<br />

wenn sie es unternehmen, unsere<br />

Ratssäle vom russischen Ungeziefer zu<br />

säubern». Ein gemeinsames Handeln sei<br />

möglich «schon mit Rücksicht auf das<br />

nächste Kriegsziel, die Befreiung der<br />

Stadt Zürich von der roten Herrschaft» 3 .<br />

Und Karl Pestalozzi meinte namens der<br />

Jungfreisinnigen, sie begrüssten «die nationale<br />

Erneuerung und unterstützen die<br />

Fronten aufs kräftigste» 4 .<br />

Tatsächlich schlossen sich die bürgerlichen<br />

Parteien und verschiedene «Fronten»<br />

und «Bünde» für die ersten «gross-zürcherischen»<br />

Gemeinderatswahlen vom<br />

September 1933 in einer Listenverbindung<br />

zusammen, und auf dem Sechserticket des<br />

bürgerlichen «Vaterländischen Blocks» für<br />

den Stadtrat figurierte auch der «Führer»<br />

der Nationalen Front. Paradoxerweise<br />

warnten die Freisinnigen jedoch gleichzeitig<br />

in ihrer Wahlpropaganda vor den<br />

Fröntlern. Die Reaktion auf die sozialdemokratische<br />

«Misswirtschaft» müsse kommen<br />

und der «Systemwechsel» könne nun<br />

noch «auf legale Weise» erfolgen; ob dies<br />

in einem Jahr noch möglich sei, wisse kein<br />

Mensch: «Wehe, Bürger, wenn Du schläfst!<br />

Dann werden die Fronten mit eisernem<br />

Besen kehren, und was dann an Freiheiten<br />

noch übrig bleibt, das siehst Du am<br />

heutigen Hitler-Deutschland: Nichts!» 5<br />

Der Wahlkampf war nicht frei von Gewalt.<br />

Immer wieder kam es zu Handgreiflichkeiten<br />

zwischen rechten und linken Aktivisten.<br />

Als am Abend vor dem Wahltag<br />

die Bürgerlichen einen Werbefackelzug mit<br />

Beteiligung des frontistischen «Harst» als<br />

«Weiheakt der vaterländischen Aktion» 6<br />

nach Aussersihl hinein lenken wollten,<br />

wurden sie trotz Ermahnungen der sozialdemokratischen<br />

Presse zur Besonnen-<br />

3<br />

NZZ, <strong>Nr</strong>. 967, 29.5.1933.<br />

4<br />

ebd.<br />

5<br />

<strong>Schweiz</strong>erisches Sozialarchiv 32/116, Wahlen Stadt Zürich<br />

1933.<br />

6<br />

NZZ, <strong>Nr</strong>. 1707, 22.9.1933.<br />

42<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


heit von aufgebrachten Arbeitern regelrecht<br />

aus dem Quartier hinausgeprügelt.<br />

Schliesslich obsiegten die Sozialdemokraten,<br />

die ihre fünf Stadtratsmandate sowie<br />

die 1931 errungene alleinige absolute<br />

Mehrheit im Gemeinderat mit einem<br />

Wähleranteil von 47,8% verteidigen konnten.<br />

Die Frontisten erreichten einen Wähleranteil<br />

von 7,7%, der vor allem zu Lasten<br />

der Freisinnigen ging. Nach geschlagener<br />

«Wahlschlacht» triumphierte der spätere<br />

Bundesrat Ernst Nobs: «Nie ist von bürgerlicher<br />

Seite ein Wahlkampf ordinärer<br />

geführt worden als diesmal. Der Wettbewerb<br />

in reaktionärem Radikalismus hat<br />

seine schlimmsten Orgien gefeiert. […] Es<br />

war eine Lust, die dicken, plumpen Lügen<br />

der reaktionären Wahlhetze Stück um<br />

Stück abzustechen. […].» 7<br />

Mit dem Andauern von Krise und Massenarbeitslosigkeit<br />

wurde der finanzielle<br />

Spielraum für die gemeindesozialistische<br />

Reformpolitik immer kleiner. Trotz massiver<br />

Steuererhöhungen musste 1934<br />

auch das «rote Zürich», das sich nach den<br />

Erfahrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit<br />

nicht wieder in die Abhängigkeit<br />

vom Kapitalmarkt begeben wollte, die<br />

Löhne seiner Angestellten kürzen. Das mit<br />

Zustimmung der Gewerkschaften erbrachte<br />

«Krisenopfer» beinhaltete zwar<br />

nicht wie andernorts einen linearen, sondern<br />

einen sozial abgestuften Lohnabbau,<br />

bedeutete aber dennoch einen Verlust an<br />

Glaubwürdigkeit, der von Bürgerlichen<br />

wie Kommunisten hämisch ausgeschlachtet<br />

wurde.<br />

7<br />

Nobs, Ernst: Die Zürcher Wahlschlacht, in: <strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong><br />

13 (1933), S. 37.<br />

Bei den Wahlen von 1938 wurde die<br />

Mehrheit im Stadtrat zwar behauptet, im<br />

Gemeinderat fiel die <strong>SP</strong> aber mit einem<br />

Wähleranteil von nur noch 41,6% von 63<br />

auf 60 Mandate zurück, womit erstmals<br />

seit 1925 keine linke Mehrheit mehr bestand.<br />

Grosser Gewinner war der Landesring<br />

der Unabhängigen, der auf Anhieb<br />

auf 16% kam und mit seiner Mischung aus<br />

sozialliberalem Migros-Konsumismus und<br />

Volksgemeinschaftsideologie auch in den<br />

Arbeiterquartieren regen Zulauf hatte. Bei<br />

den nächsten Wahlen mitten im Krieg setzte<br />

sich dieser Trend fort: Die <strong>SP</strong> behauptete<br />

1942 zwar ein weiteres Mal ihre fünf<br />

Stadtratssitze, fiel aber auf einen Wähleranteil<br />

von 36,5% zurück und verlor 12<br />

Gemeinderatsmandate. Demgegenüber<br />

wuchs der Landesring auf 28,6% der Stimmen,<br />

war nun beinahe doppelt so stark<br />

wie der Freisinn und zog auch mit einem<br />

Vertreter in die Stadtregierung ein.<br />

Gegen Kriegsende musste die <strong>SP</strong> mit der<br />

Gründung der Partei der Arbeit, der sich<br />

nicht nur ehemalige Mitglieder der 1940<br />

verbotenen KP, sondern auch linke SozialdemokratInnen<br />

anschlossen, nochmals<br />

einen Aderlass hinnehmen. Bei den Gemeinderatswahlen<br />

von 1946 kam sie nur<br />

noch auf einen Wähleranteil von 29,1%,<br />

während die PdA 15,3% erreichte. Bei den<br />

Stadtratswahlen hatte die Liste der beiden<br />

Linksparteien indessen einen durchschlagenden<br />

Erfolg: Neben zwei Freisinnigen<br />

und einem Landesringler wurden<br />

wiederum fünf Sozialdemokraten sowie<br />

der PdA-Kandidat Edgar Woog gewählt.<br />

Bald sollte der Kalte Krieg aber auch in<br />

Zürich Einzug halten. Im Oktober 1947<br />

wurde Woog wegen Veruntreuung verhaftet<br />

– er hatte der PdA-Zeitung «Vorwärts»<br />

aus den Sammelgeldern der «Koordinationsstelle<br />

für Nachkriegshilfe» ein<br />

Darlehen von 5000 Franken gewährt, das<br />

zum Zeitpunkt seiner Verhaftung allerdings<br />

bereits zurückbezahlt war – und vom<br />

Bezirksrat im Amt «eingestellt». Im April<br />

1949 erfolgte seine Amtsenthebung.<br />

Im September gleichen Jahres verstarb der<br />

sozialdemokratische Stadtpräsident Adolf<br />

Lüchinger. In der Ersatzwahl ging das Präsidium<br />

an den Freisinnigen Emil Landolt<br />

und der Stadtratssitz an den Landesring,<br />

womit die linke Mehrheit auch in der<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 43


Stadtregierung für vier Jahrzehnte beendet<br />

war. Die kantonale <strong>SP</strong> musste den Sektionen<br />

mitteilen, «dass lieben alten Vertrauensleuten,<br />

die selbstlos und opferfreudig<br />

mitgeholfen hatten, das <strong>Rote</strong> Zürich<br />

zu schaffen, beim Bekanntwerden des<br />

Wahlresultates Tränen in die Augen stiegen.<br />

Dieses <strong>Rote</strong> Zürich war der Brükkenkopf<br />

des sozialen Fortschritts». Resignieren<br />

mochte man aber nicht: «Zum<br />

Köpfehängenlassen besteht allerdings<br />

kein Anlass. Im Gegenteil! Die Arbeiterbewegung<br />

wird die gegenwärtige Epoche<br />

der «politischen Wundermänner und<br />

Kurpfuscher» bestimmt überwinden. […]<br />

Wir sind da und bleiben unseres Erfolges<br />

gewiss, trotz alledem!» 8<br />

8<br />

Rundschreiben <strong>SP</strong> Kanton Zürich an die Sektionsvorstände,<br />

26.9.1949.<br />

Christian Koller ist promovierter Historiker<br />

und lebt in Zürich.<br />

44<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


BÜCHERWELT<br />

Das Individuum an der Globalisierungsfront<br />

Rüdiger Safranski: Wie viel Globalisierung<br />

verträgt der Mensch? Hanser Verlag,<br />

München <strong>2003</strong>. 118 S., Fr. 26.20.<br />

Naomi Klein: Über Zäune und Mauern.<br />

Berichte von der Globalisierungsfront.<br />

Campus Verlag, Frankfurt <strong>2003</strong>. 304 S.,<br />

Fr. 29.80.<br />

Die «globale Selbstwahrnehmung des<br />

Menschen» könne kaum noch von einer<br />

Depression unterschieden werden. Rüdiger<br />

Safranski ist skeptisch gestimmt. Der<br />

Überblick über das «global village» erinnert<br />

ihn an ein Diktum Schopenhauers,<br />

wonach die Erde verloren im Kosmos driftet,<br />

überzogen von einer Schimmeldecke,<br />

die «lebende und erkennende Wesen erzeugt<br />

hat». In die Lichtung seines Arbeitsplatzes<br />

winken ihm die weiten Horizonte<br />

der «ganzen» Welt als bedrohlich<br />

herüber. Auf diesen Horizonten aber eilt<br />

die kanadische Aktivistin Naomi Klein<br />

von einem Brennpunkt zum nächsten, um<br />

zu dokumentieren, was sich an den Globalisierungsfronten<br />

tut.<br />

»Globalisierung» ist ein höchst variabler<br />

Kampfbegriff, den Neoliberale und Anti-<br />

Globalisierer je eigensinnig ins Feld führen.<br />

Meist bleibt er zudem in sich widersprüchlich.<br />

Die Kritiker agieren global,<br />

wenn sie den Globalisierern Widerstand<br />

leisten, denen wiederum der heimische, also<br />

eigene Profit am nächsten liegt. Globalisierung<br />

als Effekt, als Ideologie oder als<br />

Lebensform; meist ist dabei das Lokale<br />

nicht weit. In diesem Punkt sind sich der<br />

akkurate Denker und die agile Journalistin<br />

einig. «Globalismus», wie es Safranski<br />

nennt, «ist Legitimationsideologie für die<br />

ungehemmte Bewegung des Kapitals auf<br />

der Suche nach günstigen Verwertungsbedingungen»,<br />

also Profitmehrung. Im Gefolge<br />

dessen, ergänzt Naomi Klein, sind alle<br />

geschützten Räume «aufgebrochen<br />

worden, nur um vom Markt wieder eingezäunt<br />

zu werden». Die Einigkeit zwischen<br />

den beiden endet, wo es um die Einschätzung<br />

der Chancen und Vorteile der<br />

Globalisierung geht.<br />

«Über Zäune und Mauern» versammelt eine<br />

Reihe von Aufsätzen und Kolumnen,<br />

die Naomi Klein an den Brennpunkten<br />

des antiglobalen Kampfes zwischen Seattle,<br />

Porto Alegre und Prag verfasst hat.<br />

Mitunter kokettiert die überzeugte Internationalistin<br />

mit ihrer Nähe zur Globalisierungsfront,<br />

etwa, wenn sie in Quebec<br />

auf den von Tränengas umnebelten Barrikaden<br />

ihren Text in einen «betagten<br />

Computer» tippt. So werden die Mythen<br />

des antiglobalen Widerstands geschrieben,<br />

doch Naomi Klein ist sich der eigenen<br />

Widersprüche ebenso bewusst wie der aussichtslosen<br />

Eigendynamik, die zwischen<br />

Polizei und Demonstranten zusehends<br />

entbrennt. Dagegen versucht sie weiter<br />

führende Perspektiven zu entwickeln.<br />

«Wir können global kommunizieren und<br />

reisen, wir können aber nicht im Globalen<br />

wohnen», hält ihr Rüdiger Safranski kritisch<br />

entgegen. «Je mehr emotional gesättigte<br />

Ortsbindung, desto grösser die Fähigkeit<br />

und Bereitschaft zur Weltoffenheit.»<br />

Das eine bedingt das andere also mit. «Wie<br />

viel Globalisierung verträgt der Mensch?»,<br />

fragt er mit anthropologischem Aplomb<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 45


und spiegelt die Frage nach einem kurzen<br />

begrifflichen Exkurs über das «Globale»<br />

in die Philosophiegeschichte zurück.<br />

«Das Ganze lässt sich denken, aber nicht<br />

leben», konzentriert er den grundsätzlichen<br />

Vorbehalt und nimmt dafür Hegel<br />

zum Zeugen: «Etwas ist nur in seiner<br />

Grenze und durch seine Grenze das, was<br />

es ist. Man darf somit die Grenze nicht als<br />

dem Dasein bloss äusserlich betrachten…<br />

Wer gegen das Endliche zu ekel ist, der<br />

kommt zu gar keiner Wirklichkeit, sondern<br />

er verbleibt im Abstrakten und verglimmt<br />

in sich selbst.» Der Traum vom<br />

Ganzen kommt also nicht ohne Rückbezug<br />

aufs Nahe, Eigene aus. Um gegen den<br />

Selbstverlust vorzubauen, muss der<br />

Mensch eine Grenze ziehen, sich eine<br />

(möglichst handyfreie) Lichtung schlagen,<br />

um Raum und Orientierung im Dickicht<br />

der Zeichen zu schaffen. Die menschliche<br />

Vernunft bedarf einer solchen Lichtung gegen<br />

die «globale Platzangst». Mit Bezug<br />

auf Rousseau plädiert Safranski für diesen<br />

Weg nach innen, wo «das wahre Leben»<br />

vermutet wird. Die Weltgeschichte als Appendix<br />

der Lebensgeschichte?<br />

Mit Blick auf Naomi Klein erzeugt dieser<br />

Rückzug auch Unbehagen. «Es ist kein<br />

Zufall», schreibt sie, «dass die Polizeigewalt<br />

immer in gesellschaftlichen Randgruppen<br />

gedeiht», bei den Chiapas oder<br />

den Obdachlosen, die gemeinhin zur Masse<br />

aufsummiert nicht als Individuen gelten.<br />

Der Widerstand, der von ihrer Seite der<br />

ökonomischen Globalisierung erwächst,<br />

resultiert aus der begründeten Furcht,<br />

nicht nur das individuelle Wohlbefinden,<br />

sondern die Freiheit an den Konzernkapitalismus<br />

zu verlieren. Auf dem Spiel stehen<br />

reale Individuen (von ausserhalb der<br />

westlichen Gesellschaft), die systematisch<br />

ausgegrenzt und von der Lichtung des<br />

Westens fern gehalten werden.<br />

Die totale Ökonomisierung des Privaten<br />

hat für Klein zur Folge, dass sie sich als Teil<br />

der Widerstandsnetzwerke sieht, darum<br />

wissend, «dass die Würde des Menschen<br />

und der Schutz der Umwelt zu wichtig<br />

sind, als dass man tatenlos darauf wartet<br />

wie auf den Regen nach einer Dürre». Ihre<br />

Texte sind Versuche, sich selbst als Individuum<br />

zu beweisen und sich innerhalb<br />

des antiglobalen Widerstands eine Rolle,<br />

eine Lichtung zu schaffen, indem sie aufklärt<br />

und differenziert.<br />

Dabei ist sich auch Naomi Klein bewusst:<br />

«Wir wissen zu viel». Vergleichbar mahnt<br />

Safranski: «Nicht nur der Körper, auch unser<br />

Geist braucht einen Immunschutz;<br />

man darf nicht alles in sich hineinlassen,<br />

sondern nur so viel, wie man sich anverwandeln<br />

kann.» Die Differenz besteht darin,<br />

dass der zurückhaltende Intellektuelle<br />

den Frieden zwischen seiner ersten und<br />

seiner zweiten, also der kulturellen Natur<br />

erstrebt, während die Aktivistin die beiden<br />

Naturen in produktiver Spannung zueinander<br />

hält.<br />

Die Bücher von Rüdiger Safranski und<br />

Naomi Klein stehen in vielerlei Hinsicht<br />

konträr zueinander. Wo jener mit Platon,<br />

Kant, Goethe oder Schiller das Individuum<br />

vor den Zumutungen der globalen Vernetzung<br />

in Schutz nimmt, stürzt sich diese<br />

in den internationalen Kampf, um gegenüber<br />

den «Kamikaze-Kapitalisten» die<br />

«globale Vielfalt» zu retten. Zwei Wege,<br />

dennoch ein gemeinsames Ziel: das «Pluriversum»<br />

(Safranski) aus freien Individuen.<br />

Mit Bezug auf die biblische Geschichte<br />

von Kain und Abel notiert Safranski: «Die<br />

Sorge um Selbsterhaltung und der Kampf<br />

gegen die Ungleichbehandlung – diese<br />

Komponenten zusammen wirken explosiv<br />

und lassen den Menschen zugleich schöpferisch<br />

und gefährlicher werden.» Wer<br />

durch die neoliberale Gleichschaltung von<br />

öffentlich und privat in seinen Grundrechten<br />

und -bedürfnissen verletzt wird,<br />

muss sich zur Wehr setzen. Die Aktionen<br />

der «tutte bianche» in Italien, der Sozial-<br />

46<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


gipfel in Porto Alegre, die legendäre Figur<br />

des Subcommandante Marcos symbolisieren<br />

einen schöpferischen Widerstand,<br />

der an Rückhalt gewinnt, je mehr sichtbar<br />

wird, dass «Globalisierung» im ökonomischen<br />

Sinn oft wenig mehr bedeutet als<br />

Privatisierung des Gemeinwesens und<br />

Internationalisierung der Innenpolitik.<br />

Naomi Klein belegt es anhand von zahlreichen<br />

Beispielen. An der kanadisch-amerikanischen<br />

Grenze etwa werden für teures<br />

Geld «intelligente» Verfahren entwickelt,<br />

die das reibungslose Passieren von<br />

Gütern mit dem Schutz vor illegaler Einwanderung<br />

verbinden.<br />

«Welche Werte sollen das Zeitalter der<br />

Globalisierung beherrschen?» fragt Klein.<br />

Gleichsam als ein Friedensangebot über<br />

Grenzen und Lichtung hinaus antwortet<br />

ihr Safranski mit Kants Abhandlung «Zum<br />

ewigen Frieden» von 1795. Die Eckpunkte<br />

von Kants Überlegungen sind eine unbedingte<br />

«Achtung fürs Recht», die zivilisierende<br />

Kraft des Welthandels und das Prinzip<br />

der demokratischen Publizität. Durch<br />

die Vernunft wird dieses System geadelt.<br />

Safranski beurteilt es wie folgt: «Wer die<br />

«Menschheit» in sich ehrt, überwindet das<br />

blosse Selbsterhaltungsinteresse und wird fähig<br />

zur Solidarität. Diese Vernunft, so Kant,<br />

macht den Menschen zum Weltbürger.»<br />

Globalisierung ist ein ausgesprochen heterogener<br />

Begriff, der das Gute meint und<br />

(oft nur) das Egoistische schafft. Rüdiger<br />

Safranski und Naomi Klein geben aus<br />

ganz unterschiedlich subversiver Perspektive<br />

– mit Rekurs auf die sozialen Kämpfe<br />

bzw. den sozialen Gedanken – ein paar<br />

differenzierte Hinweise zur Begriffsklärung.<br />

Wir sind gerne blind für die Tatsache,<br />

dass wir alle freimütig Globalisierte sind.<br />

Der sich wechselseitig bespiegelnde Blick<br />

aufs globalisierte Individuum durch Safranski<br />

und Klein birgt vergleichsweise<br />

auch den Appell in sich, nicht nur Kritik<br />

an der ökonomischen Globalisierung zu<br />

üben, sondern uns selbst dessen Gesetzen<br />

von Eigennutz und Eigenprofit zu entziehen.<br />

Erst das selbstbewusste Individuum<br />

an der Globalisierungsfront gewinnt seine<br />

Handlungsfähigkeit gegenüber dem<br />

Konzernkapitalismus zurück.<br />

Beat Mazenauer<br />

Analysen linker (Ohn-)Macht-Politik<br />

Widerspruch: Linke und Macht, Zürich<br />

2002, Heft 43, Fr. 25.- Im Buchhandel erhältlich<br />

oder bei: Widerspruch, Postfach,<br />

8026 Zürich. www.widerspruch.ch<br />

Nicht nur die vorliegende <strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> befasst<br />

sich mit der Linken; der Widerspruch<br />

– umfangreich, analysestark, wortgewaltig<br />

und autorenlastig wie immer – widmet sich<br />

der Frage nach der Krise der Linken und<br />

der Macht. «In diesem Heft», so versprechen<br />

es die Herausgeber Pierre Franzen,<br />

Walter Schöni und Urs Sekinger, «werden<br />

zentrale Konzepte der Kapitalismuskritik<br />

wie z.B. jenes einer umfassenden Wirtschaftsdemokratie<br />

bilanziert und aktualisiert.<br />

Die kritische Reflexion des Klassenkonzeptes<br />

und die Analyse der Arbeit<br />

im Zeitalter hochtechnisierter kapitalistischer<br />

Produktionsweise eröffnen höchst<br />

aktuelle Einsichten in Diskussionsstränge,<br />

von denen sich nicht nur die Macher<br />

der ‚Neuen Mitte‘, sondern ebenso die<br />

Theorien der Individualisierung, des Postindustrialismus<br />

und der ,Wissensgesellschaft‘<br />

längst verabschiedet hatten. Diskutiert<br />

werden neue Ansätze zur Globalisierungskritik<br />

und zur emanzipativen<br />

Konzeption von Macht wie auch die Perspektive<br />

der aktuellen globalisierungskri-<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong> 47


tischen Mobilisierungen und Kampagnen.»<br />

(S. 4) Die Rezension muss da notwendigerweise<br />

fragmentarischer bleiben.<br />

Wer erinnert sich nicht an den in den Medien<br />

als «historisch» kommentierten Händeschlag<br />

zwischen Tony Blair und Gerhard<br />

Schröder – damals, als sich die internationale<br />

Linke gegenseitig noch zu ihren<br />

nationalen Wahlsiegen und den sogenannten<br />

«modernisierten» Sozialdemokratien<br />

gratulieren konnten. Zu den politischen<br />

Siegen gesellte sich eine kulturelle<br />

Aufbruchstimmung: Europa werde nicht<br />

nur rot regiert, sondern von einer kapitalistischen<br />

in die Wissensgesellschaft transformiert.<br />

Die Euphorie kühlte rasant ab:<br />

Wurden 1998 noch dreizehn von fünfzehn<br />

EU-Staaten von sozialdemokratischen<br />

Parteien oder linksalternativen Koalitionen<br />

regiert, waren es Ende 2002 nur noch<br />

deren sechs. Die Modernisierung wurde<br />

als Öffnung hin zur politischen Mitte entlarvt.<br />

Und eine «linke» Aussenpolitik fand<br />

kaum statt, sofern man mehr erhoffte als<br />

bloss ein Agieren im Rahmen einer engen<br />

Pragmatik.<br />

In diesem Kontext diskutiert der Widerspruch<br />

zwei Hauptthesen, nämlich das<br />

Scheitern der sozialdemokratischen Regierungen<br />

in den Staaten der EU und,<br />

zweitens, die Herausbildung einer äusserst<br />

vielfältigen, pluralen Bewegung gegen<br />

die Globalisierung.<br />

Der ersten Thesen geht u.a. Klaus Dräger<br />

nach, der das Scheitern des Mitte-Links-<br />

Projektes in der EU zum einen im linken<br />

Drang zur Mitte und zum andern in der<br />

Modernisierung von Rechts verortet. Für<br />

die <strong>SP</strong> mischt sich Franco Cavalli ein, der<br />

die erfrischende Frage aufwirft, ob die Sozialdemokratie<br />

noch zu retten sei. Schnell<br />

teilt er die GenossInnen in drei Gruppen<br />

ein, in das rechtssozialdemokratische<br />

Lager (S. Sommaruga, E. Ledergerber, K.<br />

Loepfe), den Ex-Bodenmann-Kreis (W.<br />

Marti, A. Hämmerle, H. Fässler, S. Leutenegger)<br />

und in den linken Flügel (P.Y.<br />

Maillard, C. Goll, P. Rechsteiner) – und<br />

suggeriert damit eine linke Orientierungskrise,<br />

die er mit einem prononcierten<br />

Linkskurs bewältigt haben will: Die<br />

Linke müsse endlich von einer Mittelschichtspolitik<br />

Abschied nehmen, die<br />

Fragen nach den Eigentumsverhältnissen<br />

neu beantworten und sich gegenüber den<br />

globalisierungskritischen Bewegungen<br />

öffnen. Natürlich darf bei der Auseinandersetzung<br />

zu dieser These die Diskussion<br />

um den Arbeitsbegriff (W. F.<br />

Haug), um Arbeitslosigkeit (M. Wendl)<br />

und um eine Demokratisierung der Wirtschaft<br />

(F. Vilmar und ebenso M. Krätke)<br />

nicht fehlen.<br />

Im zweiten Themenschwerpunkt – jenem<br />

der Bewegungen gegen die Globalisierung<br />

– geht J. Holloway der Frage nach, wie die<br />

Welt zu verändern sei, ohne dass man die<br />

Macht übernehmen müsse. Natürlich<br />

orientiert er sich an Marx, Adorno und<br />

Foucault, in klassisch modernen Tradition<br />

also, wo doch Feministinnen den Machtbegriff<br />

interessant weitergedacht und für<br />

einen Politikbegriff nutzbar gemacht haben,<br />

denkt frau da an Judith Butler<br />

und/oder Luisa Muraro!<br />

Die Auseinandersetzung um einen Machtbegriff<br />

in der Gender-Debatte greift in der<br />

Rubrik ‚Diskussion‘ Sove Toiland profund,<br />

einleuchtend und anregend auf. Die in der<br />

Diskussion aufgenommenen Analysen –<br />

darauf sei ausdrücklich hingewiesen – bereichern<br />

die dringend notwendige Debatte<br />

einer inhaltlichen Klärung zu Sozialismus<br />

bzw. Sozialdemokratie.<br />

Und wie immer runden reichhaltige Rezensionen,<br />

die sich nicht nur mit den im<br />

Schwerpunkt aufgeworfenen Themen –<br />

Globalisierung, New Labour, Staat und<br />

Macht – konzentrieren, sondern auf andere<br />

wichtige Themen wie den Israel-Palästina-Konflikt,<br />

soziale Gerechtigkeit<br />

und die Achtziger Jugendunruhen verweisen,<br />

das Heft ab.<br />

Lisa Schmuckli<br />

48<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


IMPRESSUM<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> <strong>Nr</strong>. 2, <strong>2003</strong>, 81. Jahrgang.<br />

Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur. Erscheint viermal jährlich.<br />

Herausgeberin: Sozialdemokratische Partei der <strong>Schweiz</strong>.<br />

Verantwortliche RedaktorInnen:<br />

Peter A. Schmid (Tel./Fax 01 492 92 63, E-Mail: paschmid@datacomm.ch)<br />

Lisa Schmuckli (Tel. 041 241 01 52, Fax 041 241 01 51, E-Mail: l.schmuckli@bluewin.ch)<br />

Mitglieder der Redaktion:<br />

Beat Baumann, Ökonom, Bern.<br />

Birgit Christensen, Philosophin, Zürich.<br />

Madeleine Grimm Köppel, Architektin, Bern.<br />

Urs Hänsenberger, Sozialwissenschafter, Bern.<br />

Walter Joos, Philosoph und Germanist, Zürich.<br />

Katharina Kerr, Germanistin/Journalistin, Grossrätin, Aarau.<br />

Lisa Schmuckli, Philosophin, Luzern.<br />

Peter A. Schmid, Philosoph, Zürich.<br />

Irene Soltermann, Historikerin, Bern.<br />

Redaktionsadresse: <strong>SP</strong> <strong>Schweiz</strong>, Postfach, 3001 Bern.<br />

Abonnementsverwaltung: <strong>SP</strong> <strong>Schweiz</strong>, Postfach, 3001 Bern.<br />

Satz und Druck: S&Z Print, 3902 Brig-Glis, E-Mail: suzprint@rhone.ch<br />

Jahresabonnement: Fr. 40.–<br />

Unterstützungsabonnement: Fr. 60.–<br />

Einzelnummer: Fr. 10.–<br />

ISSN: 14211-8763<br />

<strong>Rote</strong> <strong>Revue</strong> 2/<strong>2003</strong>


AZB 3000 Bern<br />

PP/Journal<br />

CH – 3000 Bern<br />

Retouren und Mutationen:<br />

<strong>SP</strong> <strong>Schweiz</strong>, Postfach, 3001 Bern<br />

Themen der nächsten Nummer:<br />

■ Nationale Drogenpolitik –<br />

internationale Tendenzen<br />

■ Ist eine liberale Drogenpolitik<br />

per se links?<br />

■ Ökonomie der Drogen

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