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Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

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komplexerer Systeme sozialer Organistion allein der Rückgriff auf diese Nomenklatur oder das<br />

System der Klassifizierung, das hier im kultischen Kontext entwickelt worden ist, übrig blieb.<br />

Wildbeuter sind angewiesen auf die genaue Kenntnis ihres ökologischen Systems. Ihre Umwelt<br />

ist ihnen gegenwärtig in dem von ihnen entwickleten Sinn- oder Bedeutungssystem, in dem sie<br />

alles Seiende, die kultivierte Natur (das Bekannte) wie die Wildnis (Feld der Überraschung)<br />

reflektieren. In diesem Sinn- oder Weltanschauungssystem reflektieren und bewerten sie die<br />

Bedingungen ihres täglichen Lebens und Lebenserwerbs, die sie sich vorstellen in dem Kontext<br />

ihrer Kosmologien. Wie gut sie die Natur ihrer Umgebung auch kennen und kategorial<br />

erfassen, sie bleibt stets für Überraschungen gut, d.h. sie bleibt für sie der Horizont des<br />

Unvorhersehbaren. In ihrer Unmittelbarkeit erscheint die Natur ihnen daher als die Offenheit<br />

ihrer Welt, die sich bemerkbar macht im Einzelnen wie im Ganzen und als diese Schnittstelle<br />

der Optionen des Andersseins öffnet sie die Räume des Heiligen, die Orte der Epiphanie des<br />

Göttlichen.<br />

Der <strong>Totemismus</strong> rekurriert noch auf diese Erfahrung der Heiligkeit der Natur, er profitiert von<br />

der in natürlichen Kategorien ausgearbeiteten Kosmologie, wenn er einzelne soziale Segmente<br />

in Beziehung setzt mit einzelnen Bereichen oder Repräsentanten des Heiligen, mit den<br />

natürlichen Arten, die für sie stehen.<br />

Obwohl die Heiligkeit des Totems affirmiert und intensiviert wurde durch die Gefühle kollektiver<br />

Identifizierung, sind diese aber nicht der Grund seiner Heiligkeit. Die Heiligkeit des<br />

Totems als Symbol oder Emblem verdankt sich der vorab geglaubten Heiligkeit des Tieres, d.h.<br />

seiner Spezies, als Erscheinung der Schöpfung. Seine soziale oder politische Verwendung<br />

neutralisiert das religiöse Gefühl, das mit der Spezies verbunden ist in dem Maße, wie sie, d.h.<br />

ihre profane Funktion des Ausweises sozialer Gruppen in den Vordergrund tritt und die soziale<br />

Ordnung selbst nicht mehr als Spiegel der kosmologischen Ordnung gedeutet wird.<br />

Auch der Vorgang einer Differenzierung des Heiligen durch die Beziehung des Differenzierten<br />

auf verschiedene soziale Segmente ist kein exklusives Phänomen des <strong>Totemismus</strong>. Die Heiligen<br />

der katholischen Kirche sind allen Katholiken heilig, gleichwohl steht jede Parochie oder<br />

Diözese, d.h. deren Dome, Kirchen oder Kapellen, unter dem Schutz eines besonderen<br />

Heiligen, dessen Verehrung als eigener Schutzpatron für sie im Mittelpunkt steht. So erhält<br />

derselbe Heilige mehrere Verehrungszentren, in welche sich das Land teilt und welche an<br />

Nachbargemeinden grenzen, die andere Heilige zu ihrem Schutzpatron erkoren haben. Ganze<br />

Landstriche lassen sich in Parzellen oder Gemarkungen der Heiligen Michael, Paulus oder<br />

Petrus gliedern, welche ihrerseits funktional zusammenwirken in einem gemeinsamen Kultus<br />

zur Ehre Gottes. Doch diese Kirchengemeinden und Diözesen sind religiöse Verwaltungseinheiten<br />

und keine Gruppen des sozialen und politischen Lebens, die sie potentiell auch sein<br />

könnten. Ähnlich unterhält jeder Aboriginal-Clan an einem heiligen Platz seines Territoriums<br />

eine besondere Beziehung zu einer Spezies jener Natur, von deren Heiligkeit insgesamt er<br />

überzeugt ist, und welche er an dem Verehrungszentrum des Heros verehrt, dem die Spezies,<br />

die seine Gruppe bezeichnet, ihre Existenz verdankt; aber diese besondere Beziehung drückt<br />

sich nicht aus in dem, was die Ethnologen Totem nennen, sondern nur dann, wenn die Spezies<br />

jener Gottheit (Heros, Ahne) zum Zeichen der Differenzierung von Clans, Hälften (Moieties),<br />

Sections oder Subsections wird, denn nur dann erfüllt es auch die profane Funktion der<br />

Kennzeichnung dieser sozialen Gruppen. Solange diese Gruppen aber außerdem kultische und<br />

rituelle Privilegien genießen, die sie eifersüchtig hüten und damit außerdem auch noch als<br />

rituelle Gruppen auftreten, halten sie das religiöse, von Baumann protototemistisch genannte<br />

Verhältnis der rein rituellen Gruppen aufrecht und damit einen Schwebezustand der Transformation<br />

von einem sozialen Zustand, in dem die eigenen sozialen Gruppen noch nicht in<br />

natürlichen Kategorien vorgestellt werden, zu dem anderen sozialen Zustand, in dem jene<br />

sozialen Gruppen, welche in einem Verhältnis organischer Solidarität stehen, in natürlichen<br />

Kategorien vorgestellt werden.<br />

Die oben mit Radcliffe-Brown bemühte Analogie läßt sich im Hinblick auf Australien noch<br />

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