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Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

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*Die Arbeitspause dauert bei großen Beutetieren (Bartenrobbe, Walroß, Wal, Narwal, Weißwal,<br />

Bär) bis zu drei Tagen. -Die Knochen großer Beutetiere müssen rituell begraben oder verbrannt<br />

werden.<br />

*Vor der Jagd müssen die Beutetiere rituell aufgefordert oder gezwungen werden, dem Jäger<br />

zu erscheinen.<br />

*Alle Blasen der in der letzten Saison erbeuteten Robben müssen vor der neuen Jagdsaison<br />

feierlich in Eislöchern versenkt werden (Blasenfest).<br />

*Seehundfleisch ist für schwangere Frauen tabu.<br />

*Während der Karibusaison dürfen die Frauen nicht nähen.<br />

Diese Rituale beschwören den Geist, den Herrn oder die Frau der Tiere (Sedna oder Alignak),<br />

die Jagd mit großer Beute zu segnen, sie suchen Versöhnung mit dem getöteten Tier durch<br />

Opfergaben, Entschuldigung und Trauerkundgebungen oder durch weitergehende Selbstbeschränkungen,<br />

die sich entweder auf Tätigkeiten (Einstellung bestimmter Arbeiten oder der Arbeit<br />

generell) oder auf den Genuß bestimmter Speisen beziehen.<br />

Die Sanktionen der Übertretung sind Jagdpech, allgemeines Ausbleiben der Beutetiere,<br />

Klimakatastrophen, Unglück, Schuldgefühl.<br />

Sieht man von der psychoanalytischen Interpretation des Tabus ab, die zweifellos wichtige<br />

Aspekte beleuchtet und mit der auch die hier folgende Interpretation nicht kollidiert, dann darf<br />

man auch diese Vorschriften einerseits in den Kontext der Bemühung um die Reproduktion des<br />

ökologischen Gleichgewichts stellen, und andererseits in den Kontext der mythologischen Konzeption<br />

der Substanz und der Kausalität der Eskimo.<br />

Mylius-Erickson og Moltke 115 hörte von einem Eskimo als Begründung eines Sturmes, von<br />

dem sie überrascht wurden, daß ihr Informant das Unwetter erwartet habe, weil jemand aus<br />

seiner Siedlung Eis vom Meer geholt hatte, obwohl kurz vorher seine Eltern gestorben waren.<br />

Seine Wetterprognose beruhte auf der Kenntnis der Verfehlung einer Vorschrift, die er grundsätzlich<br />

kommentierte: nur wenn man der Tradition folgt, bleibt die Ordnung der Welt gewahrt,<br />

jede Abweichung bedroht das Gleichgewicht von Himmel, Erde und Meer, fordert eine<br />

Reaktion der Gewalten, in letzter Instanz Silap-inuas, heraus, einen Sturm, eine Flut, Donner<br />

und Blitz, weshalb es in jedem Fall besser ist, der ererbten Tradition zu folgen. Sedna weist den<br />

Schamanen, der sie besucht, um Tiere von ihr zu bitten, daraufhin: "Es sind eure eigenen Vergehen,<br />

die ihnen (den Tieren/H.S.) den Weg versperren." (Iglulik Eskimo)<br />

Das rituelle Verhältnis der Eskimo zur Natur bezieht sich auf die Welt als Ganzes und auf ihr<br />

Wesen, Silap-inua, d.h. auf den Logos, der das All regiert, welcher die Wirklichkeit besonders<br />

in der Form, in der sie erträglich und versöhnlich erscheint, aufrechterhält. Dieses rituelle<br />

Verhältnis bezieht sich also auf das ökologische System, so wie es den Eskimo offensichtlich<br />

ist und so wie sie es religiös begründen, durch die Kraft Silap-inuas, die Eigner (inue, Pl. von<br />

inua = "sein Mensch"), die Schutzgeister und Seelen (tornaq, tornaits) und die Herren und<br />

Herrinnen der Tiere (Sedna, Alignak, Nunam-shua, Tongarsoak), in die sich die Substanz Sila<br />

differenziert, und welche auf das Leben der Eskimo einen wesentlichen Einfluß ausüben, indem<br />

sie Tiere senden oder verstecken, Krankheiten schicken oder Gefahren. Besonders die Inua-<br />

Lehre, die Differenzierung von Körper und Inua, stellt die Ebene dar, auf der im Mythos der<br />

Gegensatz von Natur und Kultur, d.h. auch von Tier und Mensch versöhnt wird (siehe unten).<br />

Der religiöse Glaube ebenso wie die durch ihn motivierten rituellen Handlungen lassen sich<br />

nicht auf den Magen oder den Egoismus (Nutzen) zurückführen, sie werden verständlich nur<br />

im System des Wissens und Glaubens, das die Natur- und Geistererscheinungen der Eskimo<br />

auf den Begriff bringt, soziale Muster auf die Natur projiziert und mit natürlichen Unterschieden<br />

soziale Differenzierungen markiert.<br />

Mit zwei Mythen der Eskimo läßt sich in der hier gebotenen Kürze zeigen, daß auch die<br />

Eskimo soziale Kategorien mit Begriffen natürlicher Arten reflektieren. Die Mythensammlung<br />

115 Gronland, Illustreret skildring af den Danske literaere Gronland Ekspedition 1902-4, 1907, S.495 f<br />

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