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Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

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Als älteste äußerliche Erscheinungsform des Gewissens wird das Tabu deshalb angesprochen,<br />

weil nach Freuds Konzept der Projektion die Antriebe sich zunächst unbewußt nach außen<br />

projizieren und in dieser äußerlichen Gestalt noch nicht als innerliche haben; denn die Aufmerksamkeit<br />

ist ursprünglich den Außenreizen zugewandt, während sie von den endopsychischen<br />

Reizen nur die Lust- und Unlustempfindungen berücksichtigt, d.h. die Gefühlsäußerungen.<br />

Das Tabu erscheint somit ontogenetisch als ein Ursprung des Gewissens, nämlich als Gegenstand<br />

der Verinnerlichung, während es kulturgeschichtlich als Medium seiner Ausdehnung<br />

und Formung, d.h. als Artefakt der Gefühlsmanipulation oder Gefühlsstrukturierung, erscheint;<br />

denn erst die mit der Sprache (also nach dem Spracherwerb) möglich gewordene Verknüpfung<br />

der sinnlichen Reste der Wortvorstellungen mit den inneren Vorgängen macht auch die endopsychischen<br />

Reize als diese selbst, und zwar in besonderer symbolischer Form veräußerlicht<br />

und differenziert, wahrnehmbar.<br />

Die systematisch formulierte Projektion innerer Wahrnehmungen nach außen stellt somit für<br />

Freud ein Weltbild dar, in dem sich die Seele des Menschen spiegelt, ohne sich in diesem Spiegel<br />

als das eigentliche Subjekt zu erkennen, das endlich "mit erstarktem Bewußtsein" (Freud)<br />

als Selbstprojektion entzaubert, d.h. "in Psychologie zurückübersetzt" (Freud) werden muß.<br />

Bei der Neurose stellt dieses Programm den Weg der Therapie dar. Die Aufhebung des<br />

Widerstands des Andersseins durch den Visionssucher oder Schamanen stellt sich ganz ähnlich<br />

als das Wiederfinden der Einheit mit dem eigenen Wesen dar, als eine Versammlung des Anderen<br />

in sich selbst, als die Begründung des Kosmos durch das eigene Opfer, und wo das im<br />

Auftrag Einzelner oder der Gruppe geschieht, durchaus auch als therapeutisches Unternehmen.<br />

Die Quelle der Solidarität ist der Verzicht, durchgesetzt als Verbot, selbst gewollt als Gewissen,<br />

versichert als Scham und projiziert als Tabu, in dem sich das manifestiert, worauf man<br />

verzichtet, und zwar als Grund dessen, warum man verzichtet. So erklärt erst Freud, was<br />

Durkheim und Radcliffe-Brown nur behauptet haben, nämlich daß die Solidarität die Ritualisierung<br />

des Verhaltens fordert und ihre Repräsentation in einem adäquaten Objekt, das für all das<br />

steht (stat pro aliquid), was für den Verzicht, d.h. für das Opfer, spricht, und damit die alle<br />

Solidarität begründende Verzichts- oder Opferbereitschaft motiviert.<br />

Das Totem erfüllt nach Freud die Funktion der symbolischen Repräsentation dieser notwendigen<br />

Bedingung der Solidarität und damit der Form der Solidarität, die nur unter den Bedingungen<br />

zu haben ist, die für die organische Solidarität noch keine sozialen oder politischen<br />

Kategorien besitzen. Das Totem und das rituelle Verhältnis, das es ausdrückt, wird bei Freud<br />

zu einem Beispiel der Überwindung der Kastrationsangst durch strikte Einhaltung der Regeln,<br />

mit der er den Begriff des Rituals verbindet und damit den Vergleich von Neurose und religiösem<br />

Ritual begründet. Die Verkleidung und durch sie vollzogene Verwandlung in das Tier<br />

schafft magisch eine neue Identität, welche gegen die Drohungen der Natur die narzißtischen<br />

Allmachtgefühle verstärkt und damit nicht nur einen Weg der Aufhebung der Kastrationsangst<br />

darstellt, sondern vielmehr die Verneinung des Kastrationskomplexes durch den Sieg über das<br />

Chaos oder die Zufälligkeit der Natur, der eigenen Art, des eigenen Leibes und des eigenen<br />

Geschlechts. Das Ich triumphiert durch seine Verwandlungen und ihr Vollzug wird zum<br />

Beweis kosmologischer Ganzheit und aktualisierbarer Macht. Der Glaube an die Wirkung der<br />

Verkleidung oder Verwandlung reflektiert das Wissen um die Transformierbarkeit der Natur<br />

durch die Kultur, um die Überwindbarkeit ihrer Bedrohung durch Zähmung und Zucht<br />

(Alternativen der Zwangshandlung), so wie der Sieg über die Natur auch in der Verstümmelung<br />

des Körpers als Zeichen und Preis der Kultur zum Ausdruck kommt.<br />

Ganz gleich, wie man zu seiner Religionspsychologie insgesamt stehen mag, ob man nun den<br />

Gedanken mitvollziehen kann oder nicht, nach dem das Totem unter den sog. primitiven Bedingungen<br />

die gleiche Funktion erfüllt, die der monotheistische Gott unter den hochkulturellen,<br />

nämlich Vaterersatz zu sein, die psychologische Seite der Sozialisation und sozialen Regulierung<br />

des Verhaltens, die spezifische Repräsentation der Schuldgefühle, die Methoden der<br />

Verdrängung und Verschiebung als notwendige Momente der Psychohygiene einer Gemein-<br />

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