Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien
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Bewußtseins ihrer Selbstbegründung in der Verdrängung beraubt und nicht zuletzt deshalb von<br />
psychologischem Interesse ist.<br />
In der psychoanalytischen Perspektive wird die Projektion vor allem als Mittel der Erledigung<br />
von Gefühlskonflikten, und zwar von Konflikten ambivalenter Gefühlseinstellung, begriffen, bei<br />
der die negative oder feindselige Gefühlsregung auf ein probates fremdes Objekt projiziert<br />
wird, das dann sowohl als Repräsentant dieser Verdrängung als auch als Auslöser der mit der<br />
Verdrängung verbundenen Zwangshandlung fungiert.<br />
Von der allgemein praktizierten Methode der Personifizierung des mythischen wie märchenhaften<br />
Denkens unterscheidet sich die neurotische Projektion durch ihren für das Subjekt uneinsichtigen,<br />
weil nach außen verlegten Zwangscharakter, den sie nach Freud aber in gewisser<br />
Hinsicht mit der Religionsausübung, speziell mit dem Ritual teilt.<br />
Die neurotische Zwangshandlung erscheint als Zeremoniell, weil sie gewissenhaft die sich<br />
selbst auferlegten Formalitäten abwickelt oder wie die peinliche Beobachtung von Regeln abläuft,<br />
die begleitet ist von der Angst vor Unterlassungen, welche mit dem religiösen Zeremoniell<br />
auch den innerlichen Charakter der Nötigung zu diesem Handeln teilt, deren Motive dem<br />
Neurotiker aber unbewußt und unbekannt bleiben. Freud erscheint der Unterschied des neurotischen<br />
und des religiösen Rituals vor allem in der Art der Antriebe: "Die wesentliche Übereinstimmung<br />
läge in dem zugrunde liegenden Verzicht auf die Betätigung von konstitutionell<br />
gegebenen Trieben, die bei der Neurose ausschließlich sexueller, bei der Religion egoistischer<br />
Herkunft sind." 105<br />
Zwangshandlung und Ritual gehen also auf erzwungenen Verzicht, auf Verbote zurück und<br />
werden angetrieben durch das Verlangen, den Verzicht zu umgehen oder das Verbotene trotzdem<br />
zu tun, das der Neurotiker auf dem Umwege der Unterwerfung unter seine Rituale in sublimierter<br />
Weise befriedigt, womit Freud den asozialen Charakter des neurotischen Handelns erklärt,<br />
denn die Neurose erweist sich als eine Strategie der notorischen Übertretung, die ihre<br />
ganze Phantasie auf die Tarnung der wahren Natur ihres Handelns verschwendet, nur um auf<br />
diesem Wege der Vergeltung zu entgehen, mit der besonders die neurotisch kaschierte Übertretung<br />
rechnet und ihrerseits das Schuldgefühl nährt und damit wiederum die Anstrengungen<br />
der Verschleierung anreizt. Weil er die Gratifikationen aus der Pflichterfüllung einstreicht, ohne<br />
wirklich die Pflichten zu erfüllen, erweist sich der Neurotiker zunächst als Schmarotzer und<br />
dann, wenn er sich zu behaupten weiß, als subversiv, da er das Prinzip, mit dem Durkheim das<br />
Soziale als Tatsache bestimmt, nämlich die Pflicht, die Obligation, grundsätzlich negiert, d.h.<br />
nur in seinem Ritual, in gespielter Form erfüllt. Die soziologische Relevanz der Neurosenlehre<br />
Freuds wird in keiner anderen soziologischen Theorie so deutlich wie in dem antipsychologischen<br />
Soziologismus Durkheims.<br />
Das Grundgesetz in der Welt, das die Weltanschauung der Personifizierung entwirft, ist die<br />
Vergeltung und die neurotische Projektion als bevorzugtes Mittel der Konfliktbewältigung<br />
stellt eine spezifische Form der Antizipation der Vergeltung dar, ganz ähnlich wie auch das religiöse<br />
Ritual. Während aber das religiöse Ritual auf die Fixierung einer altruistischen, opferbereiten<br />
Haltung zum Wohle der Solidargemeinschaft hinausläuft, verfolgt das neurotische<br />
Ritual das entgegengesetzte Ziel, nämlich der Befriedigung seines egoistischen Verlangens,<br />
welches in seinem Erfolg das Ende der Solidarität bedeutet. In diesem Kontext wird das Tabu<br />
für Freud zur ältesten, Objekt gewordenen Manifestation des Gewissens, zur vorweg genommenen<br />
Rache, welche bei Nichtachtung droht, weil es als eine nach außen projizierte Form der<br />
subjektiven Antizipation des Gesetzes der Vergeltung erscheint, als jene Instanz, welche die<br />
Prämien der Lust- und Unlust des Handelns wertet und verrechnet, deren Verinnerlichung die<br />
Scham und das Gewissen oder das Schuldgefühl sind, welche die individuelle Organisation der<br />
Gefühlsreaktionen strukturieren.<br />
105 S.Freud, Zwangshandlung und Religiosität, in derselbe: Der Mann Moses und die monotheistische<br />
Religion, Frankfurt 1975, S.14<br />
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