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Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

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Sowohl Durkheim als auch Radcliffe-Brown als verschworene Antipsychologen haben beide<br />

vielleicht eben deshalb verkannt, daß sie mit dieser Theorie der Freudschen Neurosenlehre eine<br />

Einfallspforte in ihren Soziologismus geöffnet haben, denn ihre Forderung nach der<br />

Ritualisierung kollektiv relevanten Verhaltens und seiner symbolischen Repräsentation stellen<br />

auch Bestandteile des Inventars der Freudschen Neurosenlehre dar, die man nicht nur nach ihrer<br />

Präsentation in "Totem und Tabu" beurteilen darf; die Ritualisierung wird bei Freud wie bei<br />

Durkheim thematisch als ein unter Zwang gesetztes Verhalten, das den Einzelnen zur Verdrängung<br />

des gewünschten oder begehrten, aber durch die Norm verbotenen Verhaltens zwingt<br />

und das Symbol oder das repräsentative Objekt der Gruppe erscheint als der Preis der Verdrängung,<br />

während das Andere, das Fremde, die Wildnis sowohl zum Repräsentanten eben<br />

dieses Verdrängten (Projektion) als auch zum Auslöser der Zangshandlung werden, von der<br />

man innerhalb der Gruppe nur lassen kann, wenn man die Identifizierung mit dem Verbot und<br />

seinen Repräsentanten vollbringt. Das Aggressionsbedürfnis und das Verlangen nach<br />

Übertretung werden auf diese Weise nauch außen abgelenkt. Psychologisch heißt die von<br />

Radcliffe-Brown beschriebene Funktion des Totems Identifizierung und das notwendige Komplementär:<br />

Projektion, Durkheim beschreibt sie als Affirmation kollektiver Verhaltensmuster<br />

und Vorstellungen. Beide ignorieren in ihren Beschreibungen der sozialen<br />

Verhaltensanpassungen, im Gegensatz zu Freud, die sie stabilisierenden, feindgetönten und den<br />

Anpassungsverzicht kompensierenden Außenbeziehungen.<br />

Obwohl Radcliffe-Brown sich bei seiner Beschreibung der sozialen Funktion des <strong>Totemismus</strong><br />

ausdrücklich auf Durkheim bezieht, erklärt er ihre Wirkung ganz im Sinne Goldenweisers, der<br />

den <strong>Totemismus</strong> als eine Form der Sozialisation emotional aufgeladener oder besetzter Objekte<br />

(Ergebnis der Ritualisierung) begriff, deren Spezifikation als <strong>Totemismus</strong> von ihm 1. durch die<br />

besondere Auswahl der Objekte, nämlich der natürlichen Objekte, und 2. durch das besondere<br />

Zuschreibungsverfahren, nämlich die Deszendenz- oder Vererbungsregeln, bestimmt wird.<br />

Goldenweiser hat den <strong>Totemismus</strong> wie Radcliffe-Brown nach ihm als eine Institution der Sozialisation<br />

(integrativ) und der Sozialisierung (extensiv) begriffen, als eine Institution der<br />

Sozialisation durch den Einsatz der Objekte zu diesem Zweck (identifizierende Bindung), als<br />

eine Einrichtung der Sozialisierung, weil die Sozialisierung erst das in der Natur Vorhandene<br />

zu den signifikanten natürlichen Objekten, d.h. zu den bedeutsamen Gegenständen der Kultur,<br />

macht, Zeug und Werk und seine Welt von dem Anderssein abgrenzt, d.h. das Unbekannte,<br />

Unvorhergesehene, Überraschende jenseits der Grenzen des Systems der Weltanschauung<br />

plaziert, wo sich die Wildnis öffnet, die heilig unbetretbaren Räume, wie Pindar sie nennt.<br />

Die totemistische Gestalt der Sozialisation wird also von Goldenweiser wie von Radcliffe-<br />

Brown als spezielle Alternative der Sozialisationsfunktion überhaupt bestimmt (Identifizierung),<br />

denn die alternativen Objekte wie die Flaggen, Uniformen, Heiligen oder Märtyrer,<br />

Vorbilder und Stilformen erfüllen eine äquivalente Funktion, nur eben nicht totemistisch, wozu<br />

die Objekte mit Goldenweiser erst unter der Bedingung der spezifischen Objektselektion<br />

(natürliche Objekte) und der speziellen Zuschreibungsform (Deszendenzregeln) werden.<br />

Nachdem Goldenweiser die Sozialisations- und Sozialisierungsfunktion des <strong>Totemismus</strong>, herausgestellt<br />

hatte, welche letztere auch die nominalistische oder klassifizierende Funktion einschließt<br />

(Weltbeschreibung), blieb Radcliffe-Brown nur noch die lakonische Frage zu stellen:<br />

"Why animals?", die er in seinem Aufsatz von 1929 auf die bekannte Weise zu beantworten<br />

unternahm. 77<br />

Die Solidarität der einzelnen sozialen Einheiten: lokale Gruppe, Abstammungsgruppe, Kultgruppe,<br />

Stammeshälfte, Heiratsklasse und Stamm, wird im Falle des <strong>Totemismus</strong> durch die<br />

verschiedenen natürlichen Objekte, welche die Gruppen in den rituellen Beziehungen vertreten,<br />

dargestellt und durch die Ritualisierung entsprechend verschiedener Verhaltensweisen<br />

77 Der hier imaginierte Dialog der Ethnologen läßt sich auch als folgende Frage Radcliffe-Browns an<br />

Durkheim vorstellen: Wenn das Totem ein Symbol der Gruppensolidarität ist, warum wird es ausgedrückt in<br />

Tierbildern?<br />

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