20.11.2013 Aufrufe

Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Perspektiven und Deutungsversuche<br />

Das die Erklärung einer Erscheinung das Ergebnis der sie erklärenden Theorie ist, das wird<br />

selten deutlicher als am <strong>Totemismus</strong>. Nominalistische Theorien unterstreichen die Nenn-<br />

Funktion des Totems, begreifen den <strong>Totemismus</strong> als eine "doctrine of naming" (Powell) und<br />

führen zur Negation der religiösen, d.h. kultischen oder rituellen Funktion des <strong>Totemismus</strong> und<br />

schließlich zu seiner Negation überhaupt. Soziologische Theorien stellen die soziale Funktion<br />

besonders heraus: "The essence of totemism as a social system lies in the function of the totem<br />

as the tie which binds together the members of a clan." 1 Sie begreifen das Totem vor allem als<br />

Mittel der Abbildung und Aufrechterhaltung kollektiver Solidarität unter der Bedingung institutionalisierter<br />

sozialer Differenzierung, als Mittel der Selbstidentifizierung im Kontext einer<br />

bestimmten sozialen Organisationsform, während die Theorien, die von einem individuellen Ursprung<br />

des Phänomens (traumatischer oder faszinativer Natur) ausgehen, damit nicht nur ein<br />

Erlebnis- oder Offenbarungs-, sondern auch ein psychologisches Phänomen an den Anfang<br />

(Überraschung, Deprivation, Orientierungsverlust) stellen. In dieser Perspektive erscheint auch<br />

die soziale oder religiöse Funktion als ein Folgephänomen der psychologischen Situation und<br />

Erscheinung, d.h. als Folge einer Isolierung, eines psychotischen Erlebens oder als eine quasineurotische<br />

Reaktion, obwohl man das Verhältnis von Grund und Folge wohlbegründet<br />

umkehren kann; denn das psychologische Phänomen, z.B. die psychotische Halluzination,<br />

bliebe stets vermittelt durch eine Institution ihrer Erzeugung (also durch eine kulturelle und<br />

soziale Institution), durch den sanktionierten Erwerbsweg der Vision (einsame oder gemeinsame<br />

Exerzitien, Askesetechniken, sozialisationsweise Vermittlung der Kenntnis und des<br />

Gebrauchs halluzinogener Drogen etc.). In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen<br />

werden, daß die Visionen oder Offenbarungen, die man als Einzelner in einsamer Abgeschiedenheit<br />

erlebt, Bestandteil eines ikonographischen oder symbolischen Systems sind, kanonisierte<br />

Bilder- und Klangensembles, Bausteine eines repräsentativen Weltbildes, mit Durkheim:<br />

Kollektivvorstellungen, so daß die Erscheinungen, denen man zwar einsam begegnet, stets mit<br />

der Gemeinschaft geteilte und von ihr gedeutete Erscheinungen sind, und daß auch das Verhalten,<br />

das zu den Visionen führt, erlerntes, eingeübtes, d.h. durch andere vermitteltes Verhalten<br />

ist, das wie der Inhalt der Visionen selbst, d.h. die Visionsmuster, zum Lehrbestand des<br />

mystischen Offenbarungsweges vergleichbarer Mysterien gehört (Exerzitien, Meditations- und<br />

Ekstatsetechniken). Die soziologische Definition des Ritus als Handlungen der Affirmation<br />

gruppenkonformer Verhaltensmuster und Kollektivvorstellungen läßt kaum eine andere Interpretation<br />

zu, obwohl sie dem religiösen Sinn des Ritus (Selbstüberwindung, Transzendenz<br />

der Welt) selbst nicht gerecht wird.<br />

Die Unterscheidung des soziologischen und des psychologischen Phänomens erweist sich dann<br />

problematischer als das erste Hinsehen es vermuten läßt; und mit der Unterscheidung des<br />

"ascribed"- und des "achieved" Status reklamiert die Soziologie auch diese individuelle Form<br />

der Manifestation des <strong>Totemismus</strong> als soziologisches Statusproblem oder die Religionsgeschichte<br />

und Religionsphänomenologie mit der Unterscheidung der Wege der als<br />

kultspezifische Formen des Offenbarungswegs. Tatsächlich erscheinen auch die individuellen<br />

Totems in der Mehrzahl der Fälle mit religiösen Gesellschaften oder Kultgruppen assoziiert<br />

(ganz bestimmt aber mit Gruppen aus Personen mit gemeinsamen Gesichten), deren Organisation<br />

latent oder manifest soziale Funktionen erfüllen und dementsprechend seinen Besitzer<br />

deshalb auch äußerlich sichtbar stärker oder schwächer in die soziale Pflicht nehmen. Auch die<br />

Individualität ist das Produkt sozialer Differenzierung und trägt alle Zeichen des sozialen<br />

Systems, das sie ausdifferenziert.<br />

Wenn man davon absieht, daß der genuin soziologische Erklärungsversuch des <strong>Totemismus</strong>,<br />

d.h. der Versuch der Reduktion des <strong>Totemismus</strong> nur auf seine soziale Funktion der Integration<br />

1 W.H.R.Rivers, The History of Melanesian Society, Cambridhe 1914, S.338<br />

3

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!