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Energieeffizienz im Schienenverkehr - Elektropraktiker

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FÜR DIE PRAXIS<br />

Antriebstechnik<br />

<strong>Energieeffizienz</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Schienenverkehr</strong><br />

S. Fassbinder, Düsseldorf<br />

Teil 1: Besonderheiten der Energieerzeugung und physikalische Grundlagen<br />

Der Beitrag untersucht die <strong>Energieeffizienz</strong> <strong>im</strong> Eisenbahnbetrieb <strong>im</strong> aktuellen Stand<br />

sowie hinsichtlich der möglichen Potentiale. Dazu wird auf physikalische Grundlagen,<br />

die Besonderheiten der Energieerzeugung bei der Bahn, den Energieverbrauch sowie<br />

aktuelle und künftige Technologien in der Antriebstechnik wie z. B. Diesel-/Elektro-<br />

Hybridfahrzeuge näher eingegangen.<br />

1<br />

Energieerzeugung<br />

bei der Bahn<br />

Frage an Radio Eriwan: „Ist die Eisenbahn<br />

wirklich sparsam mit Energie?“ – Antwort: „Im<br />

Prinzip ja.“ Dennoch titelte das Bulletin Elec -<br />

trosuisse: „Deutsche Bahn will weiter Strom<br />

sparen.“ [1] Also wie viel Energie spart die<br />

Bahn denn <strong>im</strong> Vergleich zu anderen Verkehrsträgern<br />

jetzt schon, und wie viel Potential ist<br />

noch drin? Wo liegen diese Potentiale, die<br />

noch erschlossen werden sollen?<br />

Um diesen Fragen nachzugehen, sind zunächst<br />

einmal einige physikalische Betrachtungen<br />

erforderlich, wo und wann ein Schienenfahrzeug<br />

wie viel und welche Energie wofür<br />

verbraucht und woher diese stammt.<br />

Die jetzige DB AG durfte sich über Jahrzehnte<br />

selbst gegenüber der öffentlichen Versorgung<br />

in Deutschland als etwas umweltfreundlicher<br />

Autor<br />

Dipl.-Ing. Stefan Fassbinder ist Berater für<br />

elektrotechnische Anlagen be<strong>im</strong> Deutschen<br />

Kupferinstitut (DKI), Düsseldorf.<br />

bezeichnen, weil sie in ihren eigenen Kraftwerken<br />

den Bahnstrom zu etwa 10 % aus der<br />

nachhaltig verfügbaren Wasserkraft erzeugt,<br />

während über das öffentliche Netz Deutschlands<br />

nur zu etwa 4 % Wasserkraft verteilt<br />

wird. Heute aber stammt die über das öffentliche<br />

Stromnetz verteilte Energie schon zu 6 %<br />

aus Windkraftanlagen, und hieran hat die DB<br />

keine Aktien. In der Schweiz werden ohnehin<br />

50 % allen Stroms in Wasserkraftwerken erzeugt;<br />

die bahneigenen Kraftwerke hingegen<br />

nutzen sogar ausschließlich Wasserkraft. In<br />

Österreich basiert die öffentliche Versorgung<br />

zu 60 %, die Bahnstromversorgung sogar zu<br />

92 % auf Wasserkraft.<br />

Die DB AG verfügt über ein eigenes Bahnstromnetz<br />

(Tafel ➊), das <strong>im</strong> Westen Deutschlands<br />

vorwiegend, vereinzelt jedoch auch <strong>im</strong><br />

Osten [2] aus eigenen Kraftwerken oder aus<br />

separaten Generatoren an Kraftwerks-Standorten<br />

der öffentlichen Versorgung gespeist<br />

wird, die den ungewöhnlichen Einphasen-<br />

Wechselstrom mit der niedrigen Frequenz von<br />

16,7 Hz erzeugen. Dazu gehört ein eigenes<br />

110-kV-Hochspannungsnetz, das den Fahrstrom<br />

auf die einzelnen Bahn-Unterwerke verteilt.<br />

Man kann die Hochspannungs-Freileitungen<br />

gut vom öffentlichen 110-kV-Drehstromnetz<br />

unterscheiden, da die Leiterseile <strong>im</strong><br />

Gegensatz zu den Dreiergruppen des Drehstroms<br />

stets als Zweiergruppen auftreten<br />

(Bild ➊). Strom für stationäre Anwendungen<br />

wie etwa die Beleuchtung von Bahnhöfen wird<br />

aus dem öffentlichen Netz bezogen. Auch die<br />

Zugvorheizung gehört hierzu. Allenfalls die<br />

Weichenheizung wird auf elektrifizierten<br />

Strecken mit Bahnstrom betrieben.<br />

In den Unterwerken wird der Bahnstrom dann<br />

auf die Fahrdrahtspannung von 15 kV herunter<br />

gespannt. Die Toleranz ist größer als <strong>im</strong><br />

öffentlichen Netz, Abweichungen von 12 kV<br />

bis 17,25 kV, kurzfristig sogar von 11 kV bis<br />

18 kV, sind erlaubt. Damit müssen die Triebfahrzeuge<br />

fertig werden, denn es handelt sich<br />

hier um ein Netz, an dem ausschließlich sehr<br />

große und noch dazu sehr unstete Lasten betrieben<br />

werden. Etwa 6 MW Traktionsleistung<br />

darf man für eine Elektrolokomotive rechnen,<br />

dazu Hilfsbetriebe und Blindleistung. Ein ICE-<br />

Triebzug n<strong>im</strong>mt ungefähr 8 MW auf. Da diese<br />

modernen Fahrzeuge be<strong>im</strong> Bremsen auch in<br />

das Netz zurück speisen können und häufig in<br />

Doppeltraktion, also zu zweit verkuppelt,<br />

verkehren, kann die Leistungs-Aufnahme<br />

einer einzigen solchen Last innerhalb weniger<br />

Sekunden von –16 MW bis 16 MW, also um<br />

32 MW, schwanken – sofern die Belastbarkeit<br />

des Fahrdrahts das überhaupt zulässt. In<br />

jedem Fall stellt dies eine echte Herausforderung<br />

für den Netzbetrieb dar.<br />

1.1 Gemeinsamkeit macht stark<br />

Erleichtert wird die Lösung dieser Aufgabe,<br />

ähnlich wie be<strong>im</strong> europäischen Verbundnetz<br />

[4], durch die internationale Kooperation, das<br />

Bahnstromsystem, das auch bei den Österreichischen<br />

und Schweizerischen Bundesbahnen<br />

mit einer Spannung von 15 kV und einer<br />

Frequenz von 16,7 Hz läuft (Tafel ➋). Deshalb<br />

Tafel ➊ Stromnetz der DB AG <strong>im</strong> Überblick<br />

Kraftwerkstyp Installierte Erzeugte<br />

Leistung<br />

Energie<br />

Dampf 42,2 % 66,0 %<br />

Wasser 11,0 % 10,0 %<br />

Umformer 34,3 % 14,6 %<br />

Umrichter 11,9 % 9,4 %<br />

Gesamt 3,2 GW 11,0 TWh/a<br />

Summe aller<br />

Elektrofahrzeuge 22,4 GW (700 %)<br />

➊ Links 2 Stromkreise Wechselstrom 110 kV<br />

der Bahn, rechts 4 Stromkreise Drehstrom<br />

110 kV der öffentlichen Versorgung<br />

Tafel ➋ Die Bahnen <strong>im</strong> deutschen Sprachraum<br />

<strong>im</strong> Vergleich<br />

Eckdaten der 16,7-Hz-Bahnen in D-A-CH<br />

DB AG ÖBB SBB<br />

Beschäftigte 240242 42839 27822<br />

Fahrgäste (Mio.) 1919 200 332<br />

gesamt 33862 11000 3011<br />

elektrifiziert 19300 8200 3011<br />

Anteil an Strecke 57 % 75 % 100 %<br />

Anteil am Verkehr 85 % 100 %<br />

Gleisnetz (km)<br />

48<br />

<strong>Elektropraktiker</strong>, Berlin 65 (2011) 1


Antriebstechnik<br />

FÜR DIE PRAXIS<br />

➌ Umformerwerk mit<br />

4 Umformersätzen in<br />

Berlin-Rummelsburg<br />

aus der DDR-Zeit –<br />

und noch <strong>im</strong>mer in<br />

Betrieb<br />

Fotos 1 bis 3: S. Fassbinder<br />

➋ Ein Lenkrad in einer Lok? Nein, das<br />

Schaltstufenrad <strong>im</strong> Führerstand der<br />

altehrwürdigen Baureihe 110, seit<br />

1957 unterwegs, aber die Kilometer-<br />

Millionärin läuft auch heute noch in<br />

88 Exemplaren [3]<br />

bieten Kuppelstellen an den Grenzen die Möglichkeit,<br />

die Netze parallel zu betreiben.<br />

Offen bleibt die Frage, warum eine solch<br />

niedrige Frequenz gewählt wurde. Hierüber<br />

herrschen teils etwas wilde Theorien, etwa um<br />

die „rechtswidrige Entnahme“ aus dem Netz,<br />

auch „nicht technische Verluste“ genannt, zu<br />

erschweren. Wesentlich plausibler klingt<br />

dagegen die Begründung, dass die Reihenschlussmotoren<br />

der alten Schaltwerks-Lokomotiven,<br />

bei denen die Einstellung der Leistung<br />

über einen Stufentransformator mit 28<br />

bis 37 Anzapfungen erfolgte (Bild ➋), <strong>im</strong><br />

Prinzip Gleichstrommotoren sind, die aber<br />

auch an Wechselspannung funktionieren.<br />

Allerdings laufen sie umso besser, je näher der<br />

Wechselstrom dem Gleichstrom kommt, denn<br />

der Erregerstrom in der mit dem Anker in Reihe<br />

liegenden Erregerwicklung induziert <strong>im</strong> Anker<br />

eine Wechselspannung, die zu Bürstenfeuer<br />

führen kann. Je niedriger die Frequenz, um so<br />

niedriger ist diese induzierte Spannung und<br />

desto geringer die Neigung zu Bürsten feuer.<br />

Tatsächlich wurden am Anfang der Elektrifizierung<br />

Gleichstrommotoren eingesetzt, die sich<br />

mit 16 2/3 Hz gerade noch betreiben lassen.<br />

1.2 Merkwürdigkeiten<br />

Multipliziert man diese ‘krumme’ Frequenz<br />

von (ursprünglich) 16 2/3 Hz mit 3, so kommt<br />

man auf ‘glatte’ 50 Hz. Auch das hat seinen<br />

Sinn und Grund, denn historisch bedingt wird<br />

das DB-Netz in Ostdeutschland überwiegend<br />

aus dem öffentlichen Netz gespeist. Ein<br />

Transformator spannt die Hochspannung von<br />

220 kV oder 110 kV auf 6 kV herunter, womit<br />

in einem Umformerwerk 6-polige Drehstrom-<br />

Synchronmotoren betrieben werden, die jeweils<br />

einen zweipoligen Wechselstrom-Synchrongenerator<br />

antreiben, dessen Ausgangsspannung<br />

von 6 kV dann wiederum über einen<br />

Transformator auf 15 kV hochgespannt und in<br />

die Fahrleitung eingespeist wird.<br />

Nun haben zwar große Motoren und Generatoren<br />

recht hohe Wirkungsgrade <strong>im</strong> Bereich um<br />

98 % und Transformatoren kommen noch<br />

höher. Die mechanische Umformung mit doppelter<br />

Umspannung bringt aber doch einen<br />

entsprechenden Anteil Energie-Verluste mit<br />

sich. Heutzutage setzt man statt dessen leistungselektronische<br />

Umrichter ein, die einen<br />

Energie-Austausch des Bahnnetzes mit dem<br />

öffentlichen Netz zur gegenseitigen Stabilisierung<br />

ermöglichen. Allein in Österreich gibt es<br />

10 Stück davon sowie 5 Umformerwerke. In<br />

der Schweiz sind es 6 Stück mit einer Leistung<br />

von insgesamt 350 MW sowie 2 Kuppel -<br />

stellen zum Netz der DB Energie, die ihrerseits<br />

nur 4 Umrichterwerke vorweisen kann.<br />

Vielmehr sind hier noch 23 der alten mechanischen<br />

Umformersätze in Betrieb (Bild ➌).<br />

Diejenigen in Ostdeutschland, die auf einzelne<br />

Inselnetze speisen, laufen weiterhin synchron<br />

zum öffentlichen Netz. Als Synchron-Synchron-<br />

Umformer können sie nicht anders. Diejenigen<br />

westlicher Prägung jedoch verfügen über<br />

die Möglichkeit, auch das Erregerfeld umlaufen<br />

zu lassen. Streng genommen werden sie<br />

mit Drehstrom sehr niedriger Frequenz erregt<br />

– eine Technik, wie sie auch von Windkraftanlagen<br />

her bekannt ist. Betreibt man jedoch<br />

solche Umrichter, die hier für die Bereitstellung<br />

des Erregerstroms eingesetzt werden,<br />

praktisch als Gleichrichter, so unterliegen sie<br />

einer einseitigen Belastung und somit vermehrtem<br />

Verschleiß. Daher hat man die<br />

Frequenz <strong>im</strong> westdeutschen Verbundnetz auf<br />

16,7 Hz angehoben und auch den Nennwert<br />

generell entsprechend umbenannt, auch<br />

wenn die einzelnen Inselnetze <strong>im</strong> Osten<br />

weiterhin mit genau 16 2/3 Hz laufen.<br />

Hier speist jedes Umformerwerk weiterhin ein<br />

best<strong>im</strong>mtes Teilnetz, das vielleicht synchron,<br />

aber kaum jemals in Phase zum benachbarten<br />

Teilnetz läuft. Bei der Durchfahrt von<br />

einem Teilnetz in ein anderes muss der Lokführer<br />

die Lok komplett abschalten und mit<br />

Schwung durch die Übergangsstelle rollen, in<br />

der sich ein kurzes Stück isolierten, spannungslosen<br />

Drahtes als Trennstelle befindet.<br />

Zur Zeit jedoch wird diese Technik durch das<br />

fortschrittlichere Verbundnetz auch auf der<br />

15-kV-Ebene ersetzt.<br />

2<br />

Energie-Verbrauch<br />

bei der Bahn<br />

Im Vergleich zum Automobil sind bei Bahnfahrzeugen<br />

folgende Unterschiede zu beachten:<br />

• Sie sind sehr schwer. Zwischen 28 t und<br />

45 t, voll besetzt bis zu 54 t, bringt ein<br />

Reisezugwagen auf die Waage. Eine Elektrolokomotive<br />

schlägt mit etwa 84 t zu Buche,<br />

eine kleinere Diesellok wiegt ungefähr 60 t.<br />

Muss be<strong>im</strong> Reisen <strong>im</strong> PKW zusätzlich zu<br />

den Reisenden eine Masse von etwa<br />

250 kg je Sitzplatz bewegt werden, sind es<br />

bei der Bahn gut 1000 kg. Der Begriff<br />

„Massenverkehrsmittel“ erhält somit bei<br />

der Bahn eine ganz neue D<strong>im</strong>ension.<br />

• Die Rollreibung auf Schienen ist sehr gering.<br />

Etwa 2 ‰ werden in der Literatur angegeben<br />

gegenüber 2 % be<strong>im</strong> Gummireifen<br />

auf Asphalt. Die Bahn rechnet nur mit<br />

1,5 ‰. Aus gutem Grund werden die Werte<br />

bei der Bahn in Promille statt in Prozent<br />

angegeben.<br />

• Ähnliches gilt leider für die Haftgrenze bei<br />

der Gleitreibung von Stahlrädern auf Stahlschienen.<br />

Ein Koeffizient von höchstens<br />

0,35 <strong>im</strong> Stillstand bei trockener Witterung<br />

statt ≈ 0,55 für Gummi auf Asphalt findet<br />

sich in der Literatur. Mit zunehmender Geschwindigkeit<br />

n<strong>im</strong>mt dieser Wert weiter ab.<br />

• Dafür ist aber auch der Luftwiderstand <strong>im</strong><br />

Verhältnis zur Größe, Masse und Transportkapazität<br />

des Schienenfahrzeugs sehr gering.<br />

Schließlich fährt der ganze Zug <strong>im</strong><br />

Windschatten der Lok bzw. des Steuer -<br />

wagens.<br />

Die Fahrwiderstände Luft- und Rollreibung<br />

sind also erfreulich niedrig. Wenn ein ICE2-Zug<br />

bei 230 km/h auf ebener Strecke von einem<br />

Strom-Ausfall ereilt wird, rollt der Zug noch<br />

32 km weiter, ehe die Geschwindigkeit auf<br />

120 km/h abgefallen ist – an diesem Punkt<br />

wurde der Versuch abgebrochen, da es sich<br />

um eine reguläre Zugfahrt mit Fahrgästen handelte,<br />

die auch irgendwann noch ankommen<br />

wollten. Der Versuch lässt sich aber rechnerisch<br />

zunächst bestätigen und sodann zu<br />

Ende führen, wenn man die in der Masse<br />

gespeicherte Energie, die vom Quadrat der<br />

Geschwindigkeit abhängt, mit der verbrauchten<br />

Energie vergleicht. Die Luftreibung steigt<br />

ebenfalls <strong>im</strong> Quadrat zur Geschwindigkeit und<br />

linear zur Stirnfläche der Lok, die einheitlich<br />

mit 10 m2 angenommen werden kann. Dazu<br />

kommt der cw-Wert sowie ein Aufschlag für<br />

den ersten Wagen, ein Aufschlag für den letzten<br />

Wagen und ein kleinerer Aufschlag für<br />

jeden Wagen dazwischen. Der Rollreibungs-<br />

<strong>Elektropraktiker</strong>, Berlin 65 (2011) 1 49


FÜR DIE PRAXIS<br />

Antriebstechnik<br />

Koeffizient ist konstant und die Rollreibung<br />

damit nur vom Gewicht abhängig. Diese Werte<br />

sind bei der Bahn bzw. auch in den Unterlagen<br />

jener Hochschulen, die Bahntechnik lehren,<br />

bekannt. Die damit ermittelten Werte bestätigen<br />

einigermaßen genau das Ergebnis des<br />

Versuchs.<br />

Wie viel Energie ist also aufzuwenden, um<br />

einen Zug zu bewegen? Die Berechnung wird<br />

einfach, wenn alle Größen in physikalischen<br />

Grundeinheiten (SI-Einheiten nach dem MKS-<br />

System) eingesetzt werden. Dies sind der<br />

Meter für Länge, die Sekunde für Zeit und das<br />

Kilogramm für Masse. Alle anderen Einheiten,<br />

so auch das Newton für Kraft, lassen sich<br />

hieraus ableiten. Wenn ein ICE3-Triebzug eine<br />

Masse von 410 t hat, dann entspricht dies<br />

einem Gewicht von ≈ 4 MN. Wenn davon 2 ‰<br />

zur Überwindung der Rollreibung aufgewendet<br />

werden müssen, macht das 8 kN aus. Gleitund<br />

Rollreibungskräfte sind prinzipiell – in der<br />

Praxis mit kleinen Abweichungen – unabhän -<br />

gig von der Geschwindigkeit. Multi pliziert man<br />

also diese – konstante – Kraft mit der gefahrenen<br />

Geschwindigkeit, eingesetzt in Metern<br />

pro Sekunde, ergibt sich direkt ohne Notwendigkeit<br />

eines Umrechnungs faktors die aufzuwendende<br />

Leistung P Roll<br />

. Bei v = 108 km/h =<br />

30 m/s kommt man so z. B. auf<br />

P Roll = F Roll v = 8 kN 30 m s<br />

P Roll<br />

= 240 kNm<br />

s = 240 kW<br />

Bei 216 km/h wären es <strong>im</strong>mer noch nur<br />

480 kW und damit <strong>im</strong>mer noch weit unter<br />

einem Zehntel der Leistung einer modernen<br />

Schnellzuglok, wobei 410 t <strong>im</strong>merhin einer<br />

solchen Lok mit 8 bis 9 IC-Reisezugwagen entsprechen.<br />

Die zur Überwindung der Rollreibung<br />

aufzuwendende Energie ist von der Geschwindigkeit<br />

unabhängig, denn bei der doppelten<br />

Ge schwindigkeit ist zwar die doppelte<br />

Leistung aufzubringen, dies jedoch nur für die<br />

halbe Zeit, und Energie ist Leistung mal Zeit.<br />

Bei der Luftreibung wird es schwieriger, denn W kin<br />

= m<br />

diese hat nichts mit der Masse des Zuges, 2 v2 = 4,1 105 kg<br />

(83 m 2<br />

s )2<br />

sondern vielmehr mit dessen äußerer Gestalt W kin<br />

= 1425 MJ ( 400 kWh)<br />

zu tun und steigt zudem mit dem Quadrat der Oha! Dazu kommt noch ein Aufschlag von 5 %<br />

Ge schwindigkeit. Für eine Verdopplung der Ge-<br />

bis 15 %, den man bei Schienenfahrzeugen für<br />

schwindigkeit ist also die vierfache Kraft, die<br />

vierfache Energie und sogar die achtfache<br />

Leistung aufzubieten. Doch auch hier liegt –<br />

außer be<strong>im</strong> Hochgeschwindigkeitsverkehr –<br />

wegen des „Fahrens <strong>im</strong> eigenen Windschatten“<br />

nicht der größte Brocken des Energie-Bedarfs<br />

eines Zuges (Bilder ➍ und ➎).<br />

Eine der beiden entscheidenden Fragen ist<br />

vielmehr, wie viel Energie aufgewendet werden<br />

muss, bis der Zug seine Geschwindigkeit erst<br />

einmal erreicht hat. Die kinetische Energie<br />

errechnet sich aus der Masse m und der Geschwindigkeit<br />

v des Zuges, in physikalischen<br />

Grundeinheiten eingegeben, direkt in Newtonmetern,<br />

Wattsekunden oder Joule. Fährt also<br />

ein ICE3-Triebzug, der 410 t (= 410000 kg)<br />

wiegt, mit einer Geschwindigkeit von<br />

300 km/h (≈ 83 m/s), so beträgt seine<br />

kinetische Energie:<br />

➍ Zur Beförderung eines IC-Zuges auf ebener Strecke bei<br />

konstanter Geschwindigkeit erforderliche Zugkraft und Antriebsleistung:<br />

die Lok ist bei zulässiger Höchstgeschwindigkeit<br />

(der Wagen) von 200 km/h nur zu 1/3 ausgelastet<br />

➎ Derselbe Beispiel-Zug wie aus Bild ➍ kann eine Steigung<br />

von 18,5 ‰ noch mit Höchstgeschwindigkeit hinauf fahren –<br />

erst wenn die Steigung noch steiler wird, lässt die Geschwindigkeit<br />

nach<br />

➏ Ein PKW (P Nenn<br />

= 66 kW, 4 Sitze) benötigt 100 % Motorleistung,<br />

um konstant 200 km/h zu fahren; be<strong>im</strong> IC-Zug mit<br />

9 Wagen (P Nenn<br />

= 6,6 MW, 800 Sitzplätze) sind es nur 33 %<br />

➐ Ausrollen eines IC-Zuges und eines PKW sowie Vollbremsung<br />

des Zuges über dem Weg<br />

50<br />

<strong>Elektropraktiker</strong>, Berlin 65 (2011) 1


Antriebstechnik<br />

FÜR DIE PRAXIS<br />

➑ Ausrollen eines IC-Zuges und eines PKW sowie Vollbremsung<br />

des Zuges über der Zeit<br />

➒ Dieseltriebzug BR 612 mit Neigetechnik, hier als Regional-<br />

Express (RE) bei He<strong>im</strong>hofen (Allgäu) Foto: DB AG/Bartlomiej Banaszak<br />

rotierende Massen hinzurechnen muss. Auch<br />

sollte der Zug tunlichst nicht leer fahren, sonst<br />

hat das ganze Unternehmen keinen Sinn. Voll<br />

besetzt mit 429 Fahrgästen zuzüglich Gepäck<br />

wiegt er etwa 450 t. Ein Doppelzug muss<br />

also mit einer kinetischen Energie von etwa<br />

1000 kWh, 1 MWh, aufgeladen werden.<br />

Die zweite entscheidende Frage ist, wie viel<br />

potentielle Energie aufgewendet werden<br />

muss, um z. B. einen Güterzug von 1 200 t<br />

Gesamtmasse an einen um 300 m höher<br />

gelegenen Ort zu fahren. Auch hier ergibt sich<br />

ein Betrag von etwa 1 MWh. Damit lässt sich<br />

der Vergleich zum Auto auch so darstellen:<br />

• Unser oben betrachteter PKW hat bei<br />

200 km/h so viel kinetische Energie gespeichert<br />

(gut eine halbe Kilowattstunde), wie<br />

er bei der gleichen Geschwindigkeit auf<br />

1,5 km Fahrstrecke verbraucht.<br />

• Unser oben betrachteter ICE2-Zug hat bei<br />

200 km/h so viel kinetische Energie gespeichert<br />

(gut 220 kWh), wie er bei der gleichen<br />

Geschwindigkeit auf 22 km Fahrstrecke verbraucht.<br />

Oder so:<br />

• Der PKW benötigt bei 200 km/h eine Leistung<br />

von ≈ 17 kW je Sitzplatz, wenn man zu<br />

Gunsten runder Vergleichszahlen (Bild ➏)<br />

von einem sportlichen Kleinwagen ausgeht.<br />

• Bei einem IC-Zug sind es bei 200 km/h nur<br />

etwa 3 kW je Sitzplatz – einschließlich Platz<br />

zum Umhergehen, Speisewagen, Toiletten,<br />

Steckdosen und anderer Annehmlichkeiten.<br />

Oder so:<br />

Rechnet man einen etwas größeren PKW voll<br />

besetzt mit 2 t Gesamtmasse, 2 m2 Stirnfläche,<br />

einem c w<br />

-Wert von 0,37 und einem Rollreibungs-Koeffizienten,<br />

wie gehabt, von 2 %,<br />

so errechnet sich hieraus ein Leistungsbedarf<br />

von 105 kW, um konstant 200 km/h schnell<br />

zu fahren. Bei dieser Geschwindigkeit auszukuppeln<br />

und das Fahrzeug ungebremst ausrollen<br />

zu lassen, brächte es nach 3 km (Bild ➐)<br />

bzw. nach knapp 10 min (Bild ➑) zum Stillstand.<br />

Der Zug dagegen rollt und rollt und rollt.<br />

Bemerkenswert ist dabei, dass das Auto<br />

zunächst, oberhalb von etwa 125 km/h, be<strong>im</strong><br />

Rollen sogar schneller an Schwung verliert als<br />

der Zug zu bremsen in der Lage wäre!<br />

Wie viel des Energie-Vorteils des Zuges durch<br />

die Beschleunigung der größeren spezifischen<br />

Masse je Sitzplatz wieder verloren geht oder<br />

inwieweit sich der Vorsprung sogar noch<br />

weiter ausbauen lässt, hängt davon ab, wie<br />

viel kinetische Energie be<strong>im</strong> Bremsen wieder<br />

zurück gewonnen werden kann. Der Dieselzug<br />

muss hier passen. Be<strong>im</strong> Elektrozug liegt das<br />

Potenzial prinzipiell bei 75 %. Nun kommt es<br />

darauf an, was die Bahn daraus macht.<br />

3<br />

Gut, aber bei weitem nicht<br />

opt<strong>im</strong>al: Dieselmotoren<br />

Leider ist es trotz allen technischen Fortschritts<br />

noch nicht gelungen, einen Verbrennungsmotor<br />

zu entwickeln, der be<strong>im</strong> Bremsen<br />

Abgas ansaugt und daraus wieder Frischluft<br />

und Kraftstoff erzeugt. Sehen wir uns hierzu<br />

z. B. das moderne Fahrzeug der Baureihe 612<br />

näher an (Bild ➒). Es besteht aus zwei gleichen<br />

Wagen, jeder mit einem eigenen Dieselmotor<br />

von nicht weniger als 560 kW Leistung<br />

ausgestattet. Das dumpf blubbernde Motorengeräusch<br />

verbreitet einen Eindruck äußerster<br />

Gelassenheit, mit der die für einen Zug von<br />

lediglich 2 Wagen üppige Gesamtleistung von<br />

1120 kW die beträchtliche Leermasse von<br />

2 x 49 t beschleunigt.<br />

Das voll hydraulische Getriebe ermöglicht<br />

einen sehr sanften Anlauf und eine über den<br />

gesamten Geschwindigkeits-Bereich hinweg<br />

völlig ruckfreie, aber kräftige Beschleunigung.<br />

Ist die zulässige Höchstgeschwindigkeit von<br />

160 km/h erreicht, sind nur noch etwa 30 %<br />

der Nennleistung erforderlich. Die volle Leistung<br />

wird ausschließlich zum Beschleunigen<br />

und für Steigungsstrecken benötigt.<br />

Unter Einsatz der vollen Motorleistung kann<br />

der Zug eine Steigung von ≈ 15 ‰ gerade<br />

noch mit 160 km/h hinauf fahren – und das<br />

klingt von innen wie außen, wie gesagt, überhaupt<br />

nicht wie ‘Vollgas’, sondern eher so, als<br />

leisteten die Motoren dies eher nebenbei.<br />

3.1 Energieverbrauch<br />

Sicher ist ein modernes Fahrzeug, das ein<br />

solch souveränes Fahrgefühl zu vermitteln vermag,<br />

auch energetisch effizient – aber durstig<br />

ist es schon! Etwa 1,3 l/km bis 2,0 l/km<br />

muss man rechnen. Wie die Steigungen bei<br />

der Bahn in Promille statt Prozent gemessen<br />

werden, so bezieht man auch Kraftstoff-Verbräuche<br />

aus gutem Grund auf einen statt auf<br />

100 Kilometer, sonst erschrickt man zu sehr,<br />

wenn man die Zahlen hört. Rechnen wir also<br />

einmal mit 140 Sitzplätzen und bescheidenen<br />

1,4 l/km, dann macht dies einen Liter je Sitzplatz<br />

auf 100 km aus. Das 3-Liter-Auto wird<br />

also nur knapp verfehlt, aber auch das<br />

schluckt bei Tempo 160 sicherlich 5 l/100 km<br />

– ohne die Neigetechnik und den weiteren<br />

Komfort. Somit erweist sich die Bahn hier als<br />

nur knapp günstiger. Vor allem häufiges Beschleunigen<br />

auf hohe Geschwindigkeiten ist<br />

schlecht für die Bilanz.<br />

Die Gesetze der Bahn-Physik sind schuld: Die<br />

Berechnung der kinetischen Energie ergibt<br />

sich be<strong>im</strong> voll besetzten Doppeltriebwagen<br />

BR 612 mit 108 t und der Höchstgeschwindigkeit<br />

von 160 km/h zu nicht weniger als<br />

34 kWh. Zu deren Erzeugung verbraucht das<br />

Fahrzeug für einen einzigen Beschleunigungs-<br />

Vorgang von 0 auf 160 km/h bei einem<br />

Wirkungsgrad von Motor und Getriebe von<br />

etwa 33 % also 100 kWh chemische Energie.<br />

Dies entspricht 10 Litern Kraftstoff. Das hört<br />

sich nach Handlungs-Bedarf an.<br />

Literatur<br />

[1] Bulletin Electrosuisse 10/2005, S. 29.<br />

[2] Beispielsweise www.kraftwerk-schkopau.com<br />

[3] „Elektrischer Betrieb bei der Deutschen Bahn <strong>im</strong><br />

Jahre 2009“ In: „eb“ Elektrische Bahnen und<br />

Verkehrssysteme 1-2/2010, Abschnitt 3.2.2,<br />

S. 19.<br />

[4] Stefan Fassbinder: „Euroverbundnetz – wie funktioniert<br />

das?“ In: ET Elektrotechnik – Schweizer<br />

Zeitschrift für angewandte Elektrotechnik,<br />

11/2009, S. 55. ■<br />

Fortsetzung<br />

Dieser Beitrag wird fortgesetzt:<br />

Im nächsten Teil geht es u. a. um die<br />

elektrische Zugförderung und um<br />

Zukunftskonzepte der Bahn.<br />

<strong>Elektropraktiker</strong>, Berlin 65 (2011) 1 51

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