Wie kleine Kinder schreiben - Pädagogische Hochschule Weingarten

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Wie kleine Kinder schreiben Aline Lenel Schrift ist Kommunikation. Die Welten von Menschen mit und ohne Schrift sind völlig getrennt, denn auch die Sprache verändert sich, wenn sie aufgeschrieben werden kann. Für das Erlernen der Schrift sind die ersten Kritzeleien ebenso wichtig wie das Lallen für die Sprachentwicklung. Vielen Kindern fehlt dieser Beginn des Schrifterwerbs, weil bei ihnen zu Hause nicht geschrieben und gelesen wird. Für sie bleibt Schrift ein Leben lang ein Buch mit sieben Siegeln. Wenn ihnen der Zutritt in die Welt der Schriftkultur und des weltweiten Wissens möglich sein soll, brauchen sie das Erlebnis schriftlicher Kommunikation im Kindergarten. Für das Ziel der Bildungsgerechtigkeit ist dies eine der ersten Aufgaben. Sie lässt sich mit wenig Aufwand lösen. Schwieriger ist es, Einsicht in die ersten Schrift- Lernprozesse zu gewinnen, die uns selbst unbewusst geblieben sind. Auf der Grundlage verschiedener Forschungsarbeiten wurde darum hier ein Modell entwickelt, das die Entwicklungsstufen darstellt, die Kinder mit ihrem Kritzeln durchlaufen. Es zeigt auch, welche Erkenntnisse sie durch dieses Kritzeln machen können. Das Modell soll Erziehern helfen, die Schriftentwicklung kleiner Kinder zu beobachten, zu beschreiben und gemeinsam mit ihnen über ihre Schreibprodukte längerfristig nachzudenken, ohne sie zu belehren. Dass Aufmerksamkeit auf schriftliche Kommunikation und Gelegenheit zu kindlichem Schreiben ausreichen, um die sprachlichen und schriftlichen Leistungen auch der schwachen Kinder bedeutsam zu verbessern, hat ein Experiment gezeigt, in dem 30 Kinder in ihrem letzten Kindergartenjahr eine schriftreiche Umgebung geboten bekamen. Die Entwicklung des schriftlichen Denkens Ein Kind, das Schreiber und Leser in seiner Umgebung erlebt, ahmt diese nach. Es beobachtet die Bewegung beim Schreiben und merkt bald, dass sie immer wieder unterbrochen wird, ganz anders als beim Zeichnen. Sein eigenes Schreiben wird der Schrift der Erwachsenen oder der älteren Kinder immer ähnlicher. Alois Legrün hat die Stufen beschrieben, die das frühe Schreiben kleiner Kinder gesetzmäßig durchläuft: Aus dem ersten ungelenkten Kritzeln werden langsam horizontale Zickzacklinien. Einige Zeit später werden die Linien von Abständen unterbrochen und die Formen innerhalb der Linien variiert. Schließlich werden einzelne Zeichen und Buchstaben voneinander getrennt. Diese vier Stufen durchlaufen heutige Kinder genauso wie die, deren 60 Kritzelbriefe an den Nikolaus der Psychologe Legrün vor 75 Jahren sortierte. 1

<strong>Wie</strong> <strong>kleine</strong> <strong>Kinder</strong> <strong>schreiben</strong><br />

Aline Lenel<br />

Schrift ist Kommunikation. Die Welten von Menschen mit und ohne Schrift sind völlig<br />

getrennt, denn auch die Sprache verändert sich, wenn sie aufgeschrieben werden kann. Für<br />

das Erlernen der Schrift sind die ersten Kritzeleien ebenso wichtig wie das Lallen für die<br />

Sprachentwicklung. Vielen <strong>Kinder</strong>n fehlt dieser Beginn des Schrifterwerbs, weil bei ihnen zu<br />

Hause nicht geschrieben und gelesen wird. Für sie bleibt Schrift ein Leben lang ein Buch mit<br />

sieben Siegeln. Wenn ihnen der Zutritt in die Welt der Schriftkultur und des weltweiten<br />

Wissens möglich sein soll, brauchen sie das Erlebnis schriftlicher Kommunikation im<br />

<strong>Kinder</strong>garten. Für das Ziel der Bildungsgerechtigkeit ist dies eine der ersten Aufgaben. Sie<br />

lässt sich mit wenig Aufwand lösen. Schwieriger ist es, Einsicht in die ersten Schrift-<br />

Lernprozesse zu gewinnen, die uns selbst unbewusst geblieben sind.<br />

Auf der Grundlage verschiedener Forschungsarbeiten wurde darum hier ein Modell<br />

entwickelt, das die Entwicklungsstufen darstellt, die <strong>Kinder</strong> mit ihrem Kritzeln durchlaufen.<br />

Es zeigt auch, welche Erkenntnisse sie durch dieses Kritzeln machen können. Das Modell soll<br />

Erziehern helfen, die Schriftentwicklung <strong>kleine</strong>r <strong>Kinder</strong> zu beobachten, zu be<strong>schreiben</strong> und<br />

gemeinsam mit ihnen über ihre Schreibprodukte längerfristig nachzudenken, ohne sie zu<br />

belehren.<br />

Dass Aufmerksamkeit auf schriftliche Kommunikation und Gelegenheit zu kindlichem<br />

Schreiben ausreichen, um die sprachlichen und schriftlichen Leistungen auch der schwachen<br />

<strong>Kinder</strong> bedeutsam zu verbessern, hat ein Experiment gezeigt, in dem 30 <strong>Kinder</strong> in ihrem<br />

letzten <strong>Kinder</strong>gartenjahr eine schriftreiche Umgebung geboten bekamen.<br />

Die Entwicklung des schriftlichen Denkens<br />

Ein Kind, das Schreiber und Leser in seiner Umgebung erlebt, ahmt diese nach. Es beobachtet<br />

die Bewegung beim Schreiben und merkt bald, dass sie immer wieder unterbrochen wird,<br />

ganz anders als beim Zeichnen. Sein eigenes Schreiben wird der Schrift der Erwachsenen<br />

oder der älteren <strong>Kinder</strong> immer ähnlicher. Alois Legrün hat die Stufen beschrieben, die das<br />

frühe Schreiben <strong>kleine</strong>r <strong>Kinder</strong> gesetzmäßig durchläuft: Aus dem ersten ungelenkten Kritzeln<br />

werden langsam horizontale Zickzacklinien. Einige Zeit später werden die Linien von<br />

Abständen unterbrochen und die Formen innerhalb der Linien variiert. Schließlich werden<br />

einzelne Zeichen und Buchstaben voneinander getrennt. Diese vier Stufen durchlaufen<br />

heutige <strong>Kinder</strong> genauso wie die, deren 60 Kritzelbriefe an den Nikolaus der Psychologe<br />

Legrün vor 75 Jahren sortierte.<br />

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Was <strong>Kinder</strong>, die so kritzeln dürfen, dabei lernen, ist mit sehr phantasievollen Experimenten<br />

und Tests in verschiedenen Ländern erforscht worden. Das folgende Modell bringt die<br />

Entwicklung des Kritzelns in Zusammenhang mit der Entwicklung des impliziten<br />

Schriftwissens. Auf der linken Seite stehen die vier Stufen des ersten Schreibens nach Legrün.<br />

Auf der rechten Seite sind jeweils die Begriffe dargestellt, die ein Kind auf dieser Stufe der<br />

Schriftproduktion entdecken kann. Sie werden weiter unten erläutert. Die Entwicklung<br />

beginnt mit 18 Monaten, wenn <strong>Kinder</strong> zu kritzeln beginnen und kann bis zum Schulbeginn<br />

dauern.<br />

Abbildung 1: Modell des frühen Schrifterwerbs<br />

Ungelenktes Kritzeln und die Unterscheidung von Schrift und Bild<br />

Manche <strong>Kinder</strong> beginnen schon vor dem ersten Geburtstag zu kritzeln. Sie tun das nicht aus<br />

Freude an der Bewegung, sondern aus Interesse an der Spur, die der Stift hinterlässt. Mit drei<br />

Jahren können die meisten <strong>Kinder</strong> Schrift von Bildern unterscheiden. Die<br />

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Entwicklungspsychologin Annette Karmiloff-Smith vertritt die Ansicht, dass sie von da an<br />

Schrift als einen eigenen Bereich untersuchen. Sie erforschen die Regeln und Merkmale des<br />

Systems, bevor sie Schrift zur Kommunikation nutzen.<br />

Horizontale Linien und zweidimensionale Textgestalt<br />

Irgendwann nimmt das Kritzeln eine Linienform an. Die Linien verlaufen in Schlaufen,<br />

Bögen oder Zickzackbewegungen. Dabei erkundet das Kind Richtung und Gestalt des Textes<br />

als Ganzes. Was dabei in ihm vorgeht, können wir nur ermessen, wenn wir uns ein Leben<br />

ohne Schrift vorstellen. Dass uns nicht nur das Lesen fehlen würde, sondern unser Denken,<br />

Gedächtnis und Sprachverständnis ganz anders wären, beschreibt Walter Ong eindrücklich. In<br />

einer mündlichen Gesellschaft befindet sich alles verfügbare Wissen in den Köpfen der<br />

Lebenden. Die, die am besten auswendig lernen können, sind die Klügsten. Die Alten, die<br />

sich noch an Geschehnisse vor vielen Jahren erinnern, sind hoch geachtet, weil sie Rat wissen.<br />

Sprichwörter sind die Grundlage von Gerichtsurteilen. Alles Denken ist begrenzt durch das,<br />

was man im Kopf behalten kann. Komplizierte Gedanken lohnen sich nicht, man kann sie<br />

nicht erinnern. Wer sich eine Liste von Wünschen an den Nikolaus merken will, muss immer<br />

alles von Anfang an wiederholen, bis er an die gesuchte Stelle kommt.<br />

Das Kind, das horizontale Zickzacklinien schreibt, sieht diese bandförmige Abfolge von<br />

Gedanken plötzlich als zweidimensionalen Text vor sich. Für den Schriftgestalt-Forscher<br />

Wolfgang Raible wird dabei eine analoge mündliche Darstellung in eine digitale schriftliche<br />

verwandelt. In der Schrift sind alle notierten Gedanken gleichzeitig zugänglich. Kritzellinien<br />

reichen völlig aus, um zu sagen: „Hier steht Lego-Raumschiff und dort Fußball.“ Das Kind<br />

weiß jetzt, dass man Gedanken anschauen, vergessen, wieder hervorholen und verändern<br />

kann. Dieses Wissen ist nicht bewusst. Aber in der Handlung ist es erkennbar. Die beiden<br />

folgenden Textbeispiele verdeutlichen den Unterschied zwischen dem kindlichen Denken vor<br />

und nach dieser Entdeckung.<br />

Der linke Text ist zwar auch schon Schrift, aber noch ein endloses Band von Lauten, die nur<br />

durch lautes Lesen wieder verständlich gemacht werden können. So schrieben die<br />

kopierenden Mönche im Mittelalter nach Diktat. Das rechte Beispiel zeigt einen Ausschnitt<br />

aus dem Stadtgesetz von Málaga, das in Stein gehauen bereits im 1. Jahrhundert auf einem<br />

öffentlichen Platz aufgestellt wurde. Damit jeder es verstehen konnte, wurde es in Absätze<br />

gegliedert, mit Titeln, Zeichensetzung, großen Anfangsbuchstaben und Nummern versehen.<br />

Diese grafische Gedankendarstellung setzte sich erst viel später mit dem Buchdruck allgemein<br />

durch.<br />

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Abbildung 2: links ein lateinischer Text aus dem Mittelalter, rechts das Stadtgesetz von Malaga aus dem 1.<br />

Jahrhundert (nach Raible)<br />

Abstände zwischen Zeichenketten und Wortbegriff<br />

Was geht in einem Kind vor, das Abstände zwischen einzelnen Zeichenketten macht? In der<br />

Schrift markieren diese Abstände die Wortgrenzen. In der gesprochenen Sprache hört man<br />

keine Abstände zwischen den Wörtern. Das Kind kann jetzt den Wortbegriff entwickeln.<br />

Eine Geschichte, wie sie jede Erzieherin schon erlebt hat, erläutert das: In einem <strong>Kinder</strong>garten<br />

schrieb ein Kind MAMA auf ein Blatt. Ein anderes Kind trat hinzu und rief: „So heißt meine<br />

Mama auch!“. Für dieses Kind war MAMA noch kein Wort, sondern ein Name. Erst, wenn<br />

das Wort nicht mehr wie ein Name der einzelnen Person oder dem Gegenstand anhaftet, ist<br />

ein Wortbegriff vorhanden. Es hat dann einen eigenen Ort im Gedächtnis, an dem alles, was<br />

zu diesem Wort gehört, gespeichert werden kann: Sinn, verschiedene Aussprachen,<br />

Schreibweise, Synonyme und Übersetzungen: Mutter, anne, mum, maman.<br />

Das Wort (Signifikant) existiert getrennt von der Sache, die es bezeichnet (Signifikat). Der<br />

Germanist Hartmut Günther führt Schrifterwerbsschwierigkeiten in erster Linie auf das<br />

Fehlen des Wortbegriffs zurück.<br />

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Abbildung 3: Schematische Darstellung des Wortbegriffs nach Günther<br />

Die Lautebene der Sprache<br />

Und was beobachten <strong>Kinder</strong>, die Abstände zwischen einzelnen Zeichen machen? Die<br />

unterschiedlichen Buchstaben sind ein Merkmal der Schrift. Zunächst untersuchen <strong>Kinder</strong> die<br />

visuellen Unterscheidungsmerkmale der Buchstaben: gerade oder rund (E/B), schräg oder<br />

senkrecht (A/H), rechts oder links (C/D), oben oder unten (T/L), aufrecht oder auf dem Kopf<br />

(M/W), Anzahl der Striche (E/F, M/N). Am Ende dieser Periode kennen sie das Alphabet,<br />

ohne die Buchstaben benennen zu können.<br />

Jetzt erst fragen sie, was die einzelnen Zeichen bedeuten. Bei der Suche nach einer Antwort<br />

stoßen sie auf den Klang der Sprache. Dabei untersuchen sie laut der Schrifterwerbsforscherin<br />

Emilia Ferreiro verschiedene Hypothesen. Zunächst nehmen sie an, dass für jede Silbe ein<br />

Buchstabe steht. Dann nehmen sie mit Hilfe der Buchstaben einzelne Phoneme wahr. Die<br />

Abbildung unten zeigt drei Beispiele, die diese Hypothesen illustrieren.<br />

Jorge Francisco Julio Cesar<br />

Abbildung 4: Die Entwicklung von der Silbenhypothese zur phonetischen Schreibweise beim freien Schreiben<br />

des Wortes „mariposa“ (Schmetterling) nach Emilia Ferreiro<br />

Alle drei sechsjährigen <strong>Kinder</strong> <strong>schreiben</strong> das Wort mariposa, Schmetterling: Jorge macht für<br />

jede Silbe einen x-beliebigen Buchstaben. Francisco hört und schreibt von jeder Silbe den<br />

Vokal und Julio Cesar schreibt fast alle Laute, die das Wort enthält.<br />

5


Schriftentdeckung ist Wahrnehmungslernen<br />

Alle Schriftbeispiele belegen, dass <strong>Kinder</strong> zunächst Schrift als Ganzes wahrnehmen, um sich<br />

dann immer mehr in die Einzelheiten zu vertiefen. Dieser Entwicklungsverlauf vom Groben<br />

zum Feinen ist charakteristisch für Wahrnehmungslernen. Die Erfinderin dieser Lerntheorie,<br />

Eleanor Gibson, erläutert, dass wir nur die Wahrnehmung lernen, die in unserer Umgebung<br />

wichtig ist. Wahrnehmungslernen ist intrinsisch motiviert. Es dient dem Überleben. Es ist<br />

aktives Lernen. Der Lernende sucht aus eigenem Antrieb nach den Merkmalen, die ihm<br />

helfen, die Zeichen richtig zu deuten.<br />

Mit diesen Informationen können wir unser Verhalten steuern. Je länger wir uns mit einem<br />

Bereich beschäftigen, desto weniger Aufmerksamkeit kostet uns die Wahrnehmung. Fast<br />

jedes <strong>kleine</strong> Kind hält sich einmal an den Jeans einer fremden Person fest und stellt dann<br />

erschrocken fest, dass diese Beine nicht seiner Mutter gehören. Wenig später achtet es auf<br />

wichtigere Merkmale. Dann kann ihm diese Verwechslung nicht mehr passieren.<br />

Für den Schrifterwerb ergeben sich aus dieser Theorie zwei Erwartungen:<br />

Wahrnehmungslernen in Bezug auf Schrift geht von der übergreifenden Struktur des<br />

Textes über die Zeichenketten zu den einzelnen Zeichen.<br />

Damit <strong>Kinder</strong> Schrift wahrnehmen lernen, muss sie in ihrer Umgebung wichtig sein.<br />

Die erste Hypothese hat Linda Lavine mit einem Sortiertest untersucht. Sie stellte fest, dass<br />

Dreijährige Schrift von Bildern unterscheiden, Vierjährige die Regeln für Zeichenketten<br />

kennen und Fünf- und Sechsjährige die 26 Buchstaben des Alphabets von anderen, ähnlichen<br />

Zeichen unterscheiden können, obwohl sie kaum einen Buchstaben benennen können.<br />

Zur Untersuchung der zweiten Hypothese verglich Lavine in Mexiko <strong>Kinder</strong>gartenkinder, die<br />

in der Stadt in Mittelstandsfamilien aufwuchsen, mit einer Gruppe vom Dorf, die in einer<br />

schriftarmen Umgebung lebte. Die jüngeren <strong>Kinder</strong> in der Stadt wussten mehr über Schrift als<br />

die älteren auf dem Dorf. „<strong>Wie</strong> die Sprache sich nur in einer Umgebung entwickeln kann, in<br />

der gesprochen wird, könnte es auch für die Entwicklung der Schrift entscheidend sein, dass<br />

<strong>Kinder</strong> in einer Umgebung aufwachsen, in der geschrieben und gelesen wird“, folgert Lavine.<br />

Eine schriftliche Umgebung im <strong>Kinder</strong>garten fördert Sprache und Schrift<br />

Die Hypothese, dass eine schriftliche Umgebung im Vorschulalter entscheidend für die<br />

Entwicklung der Schrift ist, wurde von der Verfasserin untersucht. Dafür wurde eine Gruppe<br />

von 30 <strong>Kinder</strong>n, die im letzten <strong>Kinder</strong>gartenjahr in ihrem <strong>Kinder</strong>garten eine schriftlich<br />

anregende Umgebung geboten bekamen, verglichen mit 90 <strong>Kinder</strong>n, die aus normalen,<br />

unschriftlichen <strong>Kinder</strong>gärten kamen.<br />

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Im Schrift-<strong>Kinder</strong>garten wurde im Oktober eine Büroecke eingerichtet. Eltern brachten<br />

ausrangierte Laptops, Telefone und Schreibmaschinen. Es lagen Kulis, Stifte, Radiergummis,<br />

Stempel, Postformulare, abgelöste Briefmarken und Papier und Briefumschläge bereit. Über<br />

den vier Tischen hingen vier große Buchstaben: BÜRO.<br />

Abbildung 5: Ein Büroprodukt (nach Heger „Die Lust am Schreiben“)<br />

Daneben gab es eine Leseecke mit zwei alten Sofas und Büchern in <strong>Kinder</strong>höhe. Die<br />

Erzieherinnen lasen täglich vor. Die Vorschulkinder erforschten mit den Händen die<br />

Geschichte der Schrift: Tontäfelchen wurden beritzt, Wachstafeln gegossen, Papyrus<br />

gepflanzt und Hieroglyphenstempel geschnitten.<br />

Nach nur 4 Monaten dieses Angebots ohne Training und Instruktion schnitten die 30<br />

Vorschulkinder bedeutend besser in einem phonologischen Test ab als die übrigen 90 <strong>Kinder</strong><br />

der Kontrollgruppe. In der Schule lernten sie besser <strong>schreiben</strong> als die <strong>Kinder</strong> der<br />

Kontrollgruppe und als ihre Klassenkameraden. Nur eines der 30 Schriftkinder hatte laut Test<br />

Förderbedarf in der Rechtschreibung, während in der Kontrollgruppe und bei den<br />

Klassenkameraden jedes 6. Kind Förderung brauchte. Von Schrift im <strong>Kinder</strong>garten hatten also<br />

besonders die schwachen <strong>Kinder</strong> profitiert.<br />

Das implizite Wissen von Schrift, das <strong>kleine</strong> <strong>Kinder</strong> im täglichen Erleben von Schreiben und<br />

Lesen entwickeln, lässt sich nicht unterrichten. Es lässt sich auch nur schwer nachholen, wenn<br />

erst einmal der bewusste Unterricht begonnen hat. Jedes Kind braucht in seinen ersten<br />

Lebensjahren eine Umgebung, in der es Gelegenheit, Zeit und Freiheit hat, die wichtigste<br />

Kulturtechnik auf seine eigene Weise zu entdecken. Der <strong>Kinder</strong>garten ist der ideale Ort für<br />

aktive Schriftforschung.<br />

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Literatur:<br />

Ferreiro, E. (1985). Reflexoes sobre alfabetizacao. Sao Paulo: Cortez Editora.<br />

Gibson, E. J. & Levin, H. (1980). Die Psychologie des Lesens. Stuttgart: Klett-Cotta.<br />

Günther, H. (1995). Die Schrift als Modell der Lautsprache. Osnabrücker Beiträge zur<br />

Sprachtheorie, 51, 15-32.<br />

Heger, H. (1999). Die Lust am Schreiben. Heidelberg: Umschau Braus.<br />

Karmiloff-Smith (1992). Beyond modularity: a developmental perspective on cognitive<br />

science. London: MIT Press.<br />

Knopf, M. & Lenel, A. (2005). Schriftspracherwerb und dessen mögliche Frühförderung. In:<br />

Titus Guldimann & Bernhard Hauser: Bildung 4- bis 8-jähriger <strong>Kinder</strong>. Münster:<br />

Waxmann.<br />

Lavine, L.O. (1977). Differentiation of Letterlike Forms in Prereading Children.<br />

Developmental Psychology, 13, 89-94.<br />

Legrün, A. (1932). <strong>Wie</strong> und was „<strong>schreiben</strong>“ <strong>Kinder</strong>gartenzöglinge? Zeitschrift für<br />

<strong>Pädagogische</strong> Psychologie und Jugendkunde, 33, 322-324.<br />

Lenel, A. (2005). Schrifterwerb im Vorschulalter: Eine entwicklungspsychologische<br />

Längsschnittstudie. Weinheim: Beltz<br />

Ong, W. J. (1987). Oralität und Literalität: Die Technologisierung des Wortes. <strong>Wie</strong>sbaden:<br />

Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Raible, W. (1990). Die Semiotik der Textgestalt: Erscheinungsformen und Folgen eines<br />

kulturellen Evolutionsprozesses. Heidelberg: Carl Winter.<br />

Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber der Zeitung der Freinet-Kooperative e.V.,<br />

Heft 123: Schreiben vor der Schule, 2008, www.freinet-kooperative.de<br />

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