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Positionspapier zur Integration der Sonderpädagogik in ... - beim LCH

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<strong>LCH</strong>-POSITION ZUR INTEGRATION DER SONDERPÄDAGOGIK IN DIE REGELSCHULEN<br />

Der <strong>LCH</strong> hat mit Vorbehalten das Son<strong>der</strong>pädagogik-Konkordat <strong>der</strong> EDK von 2007 unterstützt. Er hat dabei<br />

immer die Position vertreten, dass e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tegrierte För<strong>der</strong>ung für alle zwar e<strong>in</strong>e gute Leitidee ist, dass<br />

aber genau h<strong>in</strong>geschaut werden muss, ob die Gel<strong>in</strong>gensbed<strong>in</strong>gungen dafür wirklich geschaffen werden.<br />

Der <strong>LCH</strong> hat zu diesem Zwecke <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit Fachleuten <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>pädagogik e<strong>in</strong>en detaillierten<br />

Katalog von Gel<strong>in</strong>gensbed<strong>in</strong>gungen entwickelt, ständig nachgebessert und publiziert 1 . E<strong>in</strong>en ähnlichen<br />

Katalog hat das Deutschschweizer „Netzwerk Integrative Schulungsformen“ erstellt 2 .<br />

Nun zeigt sich im Vollzug <strong>der</strong> Reform immer deutlicher, dass <strong>in</strong> den meisten Kantonen ungenügende<br />

Bed<strong>in</strong>gungen geschaffen werden, zum Schaden sowohl <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen „mit beson<strong>der</strong>en<br />

Bedürfnissen“ wie auch <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler <strong>der</strong> Regelklassen. Bereits werden neben<br />

parteipolitischer Stimmungsmache immer mehr Rufe von ernsthaften, engagierten Lehrpersonen laut,<br />

welche das Rückgängigmachen <strong>der</strong> Reform o<strong>der</strong> die Nichtratifizierung des Konkordats for<strong>der</strong>n.<br />

1. GRAVIERENDE FEHLER IN DEN KANTONALEN KONZEPTEN<br />

Den meisten Kantonen mag zugebilligt werden, dass sie die Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Integration</strong> bisheriger separativer<br />

son<strong>der</strong>pädagogischer Angebote <strong>in</strong> die Regelschulen gut machen wollen. Trotzdem überzeugen alle<br />

bis anh<strong>in</strong> bekannten Konzepte nicht. Sie zeigen – je nach Kanton <strong>in</strong> unterschiedlichem Ausmass – zahlreiche<br />

Konstruktionsfehler:<br />

• Ausblenden <strong>der</strong> ohneh<strong>in</strong> schon bestehenden Belastungen <strong>in</strong> den Regelklassen: Es wäre zu erwarten<br />

gewesen, dass vor dem Aufladen neuer Aufgaben die Tragfähigkeit <strong>der</strong> Regelklassen für die<br />

neuen Aufgaben verbessert würde. Die letzten Jahrzehnte haben die Ansprüche an die Regelklassen<br />

massiv ansteigen lassen. Die Heterogenität <strong>der</strong> Klassenzusammensetzung hat nochmals stark zugenommen<br />

und gleichzeitig ist – teils als Folge <strong>der</strong> PISA-Untersuchungen – die For<strong>der</strong>ung nach besserer<br />

<strong>in</strong>dividueller För<strong>der</strong>ung als Mittel <strong>der</strong> Behebung von Wirksamkeits- und Chancengleichheitsproblemen<br />

e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glicher geworden. Die Konsequenz wäre e<strong>in</strong>e noch aufwendigere Vor- und<br />

Nachbereitung des Unterrichts. Gleichzeitig hat auch die Personalvielfalt massiv zugenommen, was<br />

vermehrte Absprachen zwischen den beteiligten Lehrpersonen erfor<strong>der</strong>n würde. Und schliesslich haben<br />

die zahlreichen Schulentwicklungsvorhaben zu e<strong>in</strong>er fast explosionsartigen Zunahme <strong>der</strong> Sitzungszeit<br />

(Konferenzen, Projektgruppen, Q-Gruppen, <strong>in</strong>terne Weiterbildungen etc.) geführt. Unterdessen<br />

ist die jährliche Gesamtarbeitszeit <strong>der</strong> Lehrkräfte aller Stufen auf über 2'100 Stunden<br />

angestiegen; mit Aufstocken als traditionelle Antwort auf diese For<strong>der</strong>ungen ist also nichts mehr zu<br />

holen. Bevor neue Aufgaben aufgeladen werden, wäre e<strong>in</strong>e Verbesserung <strong>der</strong> Betreuungs<strong>in</strong>tensität<br />

(Lerngruppengrösse bzw. Klassengrösse) und vor allem e<strong>in</strong>e Pflichtlektionen-Senkung von heute 28<br />

bis 32 Lektionen auf e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternational übliches Mass von 20 bis 24 Lektionen auf allen Stufen <strong>der</strong><br />

Volksschule vorzunehmen. Nur so könnte die erfor<strong>der</strong>liche Seriosität <strong>der</strong> Vor- und Nachbereitung des<br />

Unterrichts und <strong>der</strong> Zusammenarbeit <strong>der</strong> an e<strong>in</strong>er Klasse beteiligten Lehrpersonen gewährleistet<br />

werden.<br />

1<br />

www.lch.ch, Rubrik Stellungnahmen, „Gel<strong>in</strong>gensbed<strong>in</strong>gungen“ <strong>in</strong> Spalte rechts.<br />

2<br />

www.isf.luzern.phz.ch/seiten/dokumente/isf_plu_rahmenbed_schule.pdf


• Ungenügende Ausstattung für die <strong>in</strong>tegrierte För<strong>der</strong>ung (IF 3 ) von Lernenden mit beson<strong>der</strong>en Bedürfnissen:<br />

Alle kantonalen Konzepte berechnen nur die zeitlichen Aufwendungen <strong>der</strong> IF-<br />

Lehrpersonen und des an<strong>der</strong>en (z. B. therapeutischen) Spezialpersonals. Dass <strong>der</strong>en <strong>Integration</strong> <strong>in</strong><br />

den Alltagsunterricht nochmals massive zeitliche Zusatzaufwendungen <strong>der</strong> Regelklassen-<br />

Lehrpersonen für Planung und Absprachen mit dem Spezialpersonal erfor<strong>der</strong>t, wenn <strong>der</strong>en E<strong>in</strong>satz<br />

produktiv se<strong>in</strong> soll, wird chronisch vergessen o<strong>der</strong> bewusst unterschlagen. Für die Zusammenarbeit<br />

mit dem IF-Personal müssten die Regelklassen-Lehrpersonen überdies über fachliche Konzepte und<br />

för<strong>der</strong>diagnostische Werkzeuge sowie über Teamteach<strong>in</strong>g-Kompetenzen verfügen, welche bislang<br />

nicht vermittelt wurden und bei <strong>der</strong> heutigen kurzen Dauer <strong>der</strong> Ausbildung für die Vorschul- und Primarstufe<br />

auch kaum Platz f<strong>in</strong>den.<br />

H<strong>in</strong>zu kommt die fast durchwegs ungenügende Anzahl Präsenzstunden für die IF-Lehrpersonen (IF =<br />

Integrierte För<strong>der</strong>ung durch son<strong>der</strong>pädagogisch ausgebildete Lehrpersonen): Wenn – wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zürcher<br />

Vorlage von 2010 – e<strong>in</strong>e maximal belastete Schule (mit gehäuften Son<strong>der</strong>för<strong>der</strong>ungsbedürfnissen<br />

von <strong>der</strong> Art bisheriger Kle<strong>in</strong>klässler, Hochbegabter und aus bildungsfernen Milieus stammenden<br />

Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler) auf maximal 4 wöchentliche IF-Lektionen pro Regelklasse à 20 bis 25 Lernende<br />

kommt, dann ist das nur lächerlich. In e<strong>in</strong>em solch dürftigen Betreuungsverhältnis kommt<br />

niemand mehr auf se<strong>in</strong>e bzw. ihre Rechnung.<br />

Beispiele von Pilotschulen, welche e<strong>in</strong> paar Jahre lang entwe<strong>der</strong> unter beson<strong>der</strong>s günstigen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

o<strong>der</strong> unter erheblicher Selbstausbeutung gearbeitet haben, können ke<strong>in</strong> Massstab für e<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

die Breite umgesetztes und nachhaltiges System se<strong>in</strong>. (Zu den For<strong>der</strong>ungen für e<strong>in</strong>e genügende Ausstattung<br />

siehe Kapitel 5)<br />

• Ungenügende Zahl gut ausgebildeter IF-Lehrpersonen: Der grosse Neubedarf an ausgebildeten IF-<br />

Lehrpersonen, welche die erfor<strong>der</strong>liche Doppelausbildung (Regelklassenunterricht und Schulische<br />

Son<strong>der</strong>pädagogik) mitbr<strong>in</strong>gen, wird <strong>in</strong> vielen Kantonen nicht ausreichend abgedeckt. Es kommt zunehmend<br />

vor, dass ungenügend ausgebildete Personen für die IF e<strong>in</strong>gesetzt werden. Und bereits<br />

planen Kantone „Schnellbleichen“ für Quere<strong>in</strong>steiger, welche we<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e ordentliche Stufenausbildung<br />

für den Regelklassenunterricht noch e<strong>in</strong>e Masterausbildung <strong>in</strong> Schulischer Son<strong>der</strong>pädagogik<br />

aufweisen werden. Hauptsache, die Stellen s<strong>in</strong>d besetzt.<br />

• Dom<strong>in</strong>anz „heilpädagogischen“ Denkens: Dass e<strong>in</strong>zelne Kantone nun daran denken, den Mangel<br />

an ausgebildeten Lehrpersonen für schulische Heilpädagogik durch die Ausbildung von Quere<strong>in</strong>steigern<br />

ohne Lehrdiplom für die Regelklassen zu beheben, entlarvt vollends e<strong>in</strong>e schon lange bestehende<br />

E<strong>in</strong>äugigkeit: Es gibt e<strong>in</strong>e – vermutlich stark unterschätzte – Gruppe von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen,<br />

die namentlich im Sprachbereich o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Mathematik nicht e<strong>in</strong>e „allgeme<strong>in</strong>e Heilpädagogik“<br />

brauchen, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e spezialisierte, fachdidaktisch fundierte För<strong>der</strong>ung. Zwar gibt es solche Ansätze<br />

mit <strong>der</strong> Logopädie und <strong>der</strong> Dyskalkulietherapie schon länger, diese s<strong>in</strong>d aber meist auf die<br />

Frühför<strong>der</strong>ung konzentriert. Es bräuchte vermehrt fachdidaktisch spezialisiertes För<strong>der</strong>personal <strong>zur</strong><br />

Unterstützung <strong>der</strong> Regelklassenlehrperson, wo fachspezifische Teilleistungsschwächen bei Schüler<strong>in</strong>nen<br />

und Schülern angegangen werden müssen.<br />

• Unklare Kriterien für <strong>Integration</strong>s- und Separationslösungen: Viele Konzepte lassen alle möglichen<br />

Lösungen zu. Das ist nicht a priori schlecht, wird aber dann <strong>zur</strong> Belastung, wenn es ohne anerkannte<br />

Kriterien als lokale Willkür praktiziert werden muss und ständig anfechtbar ist. So s<strong>in</strong>d bereits jetzt alle<br />

möglichen Spielformen von Pseudo<strong>in</strong>tegration beobachtbar, wenn etwa e<strong>in</strong>e Art separativer Kle<strong>in</strong>klassenunterricht<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Regelklasse ke<strong>in</strong>e Verbesserung zum herkömmlichen System, aber<br />

viel zusätzliche Unruhe br<strong>in</strong>gt.<br />

3<br />

In e<strong>in</strong>zelnen Kantonen wird zwischen IF und IS unterschieden. IS me<strong>in</strong>t die <strong>in</strong>tegrierte Schulung von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die bisher <strong>in</strong> IV-<br />

Son<strong>der</strong>schulen unterrichtet wurden. Wenn wir <strong>in</strong> diesem <strong>Positionspapier</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fachheit halber nur den Ausdruck IF gebrauchen, so ist<br />

damit beides geme<strong>in</strong>t.<br />

Seite 2 von 8


• Ungenügende Zuständigkeiten-Ordnung: In <strong>der</strong> Theorie richtig ist, dass <strong>in</strong> den meisten Konzepten<br />

die Schulleitungen (anstelle <strong>der</strong> Laienbehörden) die Kompetenz für Laufbahnentscheide, für die Fallführung<br />

und für die Fe<strong>in</strong>verteilung <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ressourcen an <strong>der</strong> Schule erhalten. Nur s<strong>in</strong>d die meisten<br />

Schulleitungen dafür fachlich noch nicht qualifiziert und zeitlich völlig unterdotiert. H<strong>in</strong>zu kommt, dass<br />

die Freiheit <strong>der</strong> Schulen durch kantonale Detail-Regelungen dann wie<strong>der</strong> erheblich e<strong>in</strong>geschränkt<br />

werden, dass den schulpsychologischen Fachdiensten immer noch e<strong>in</strong> Rollenmix von Diagnostik,<br />

Therapieleistungen, Beratung und Antragstellung bzw. Ressourcenzuweisung obliegt und dass die<br />

Kompetenzen <strong>der</strong> Regelklassen-Lehrpersonen selbst meist vage bleiben.<br />

• Ignorieren <strong>der</strong> seit 30 Jahren bekannten ungewollten Dynamiken <strong>der</strong> „Systemüberlistung“: Die<br />

Verantwortlichen für die kantonalen Konzepte tun immer noch so, wie wenn das, was auf dem Papier<br />

gedacht wurde, dann auch so an den Schulen umgesetzt würde. Dabei bestehen seit den Achtzigerjahren<br />

Erfahrungen mit den wirklichen Dynamiken, welche bei e<strong>in</strong>em Wechsel vom Kle<strong>in</strong>klassensystem<br />

<strong>zur</strong> <strong>in</strong>tegrierten För<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> Regelklassen losgehen. Man müsste zum Beispiel wissen, dass bei<br />

e<strong>in</strong>em Systemwechsel sich sofort die Bedarfsdef<strong>in</strong>itionen än<strong>der</strong>n. Z.B. gab es rasch sehr viel – bis<br />

Faktor 10 – mehr für die IF angemeldete K<strong>in</strong><strong>der</strong> als es vorher Kle<strong>in</strong>klässler gab (was die e<strong>in</strong>en als positive<br />

För<strong>der</strong>politik werteten und die an<strong>der</strong>en als blosse Senkung <strong>der</strong> „Abschiebeschwelle“ bei den<br />

Regelklassenlehrpersonen). O<strong>der</strong> es wurde e<strong>in</strong>e beträchtliche Zahl ursprünglicher Kle<strong>in</strong>klässler <strong>in</strong> IV-<br />

Son<strong>der</strong>schüler umdef<strong>in</strong>iert, um die separative För<strong>der</strong>ung fortführen zu können. O<strong>der</strong> es führte e<strong>in</strong> erhöhter,<br />

abschrecken<strong>der</strong> Anmelde- und Rechenschaftsaufwand dazu, dass K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit beson<strong>der</strong>en<br />

Bedürfnissen e<strong>in</strong>fach weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Regelklassen „mitgeschleppt“ wurden. An solchen Fehlreaktionen<br />

s<strong>in</strong>d nicht alle<strong>in</strong>e die Lehrpersonen schuld, son<strong>der</strong>n falsch gesetzte Anreizsysteme o<strong>der</strong> Hürden<br />

und – was im Vergleich mit ausländischen Erfahrungen immer ausgeblendet wird – das unberechenbare<br />

Verhalten <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>deorgane im Schweizer System <strong>der</strong> Mischhoheit und Mischf<strong>in</strong>anzierung<br />

<strong>der</strong> Volksschulen.<br />

2. DER <strong>LCH</strong> ANERKENNT AUCH DIE LEISTUNGEN UND DAS POTENTIAL SEPARATIVER LÖSUNGEN<br />

Bei aller Kritik am bisherigen System (siehe Kapitel 3) geht häufig unter, welche Qualitäten es hatte bzw.<br />

hat. Es ist zu würdigen, dass die spezielle För<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>klassen o<strong>der</strong> Son<strong>der</strong>schulen<br />

• e<strong>in</strong>e hoch <strong>in</strong>dividualisierte För<strong>der</strong>ung dank sehr kle<strong>in</strong>er Klassen und son<strong>der</strong>pädagogisch ausgebildeten<br />

Lehrpersonen ermöglicht/e;<br />

• K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die vorher <strong>in</strong> Regelklassen aufgrund ihrer Beson<strong>der</strong>heiten arg ausgegrenzt wurden, <strong>in</strong> den<br />

son<strong>der</strong>pädagogischen Klassen sich besser angenommen fühlen konnten bzw. können;<br />

• den Lernbetrieb <strong>in</strong> Regelklassen entlasten kann/konnte, wenn die Bee<strong>in</strong>trächtigung durch permanent<br />

störende o<strong>der</strong> proportional zu viel Zuwendung durch die Regelklassenlehrperson abziehende Schüler<strong>in</strong>nen<br />

und Schüler zu gross wird/wurde;<br />

• <strong>in</strong> vielen Fällen e<strong>in</strong>e erfolgreiche Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ung <strong>in</strong>s Regelklassen-System ermöglicht/e.<br />

Schlecht durchdachte und mangelhaft ausgerüstete IF-Systeme (siehe Kapitel 1) müssten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesamtbilanz<br />

schlechter abschneiden als e<strong>in</strong> kompetent gestaltetes System mit Kle<strong>in</strong>klassen und Son<strong>der</strong>schulen.<br />

Und es wird immer K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche geben, welche zum<strong>in</strong>dest phasenweise nicht <strong>in</strong>tegriert<br />

beschulbar s<strong>in</strong>d. Das Potential separativer För<strong>der</strong>strukturen darf deshalb durch e<strong>in</strong>en Systemwechsel<br />

nicht e<strong>in</strong>fach verschüttet werden. Aus diesen Gründen hat sich <strong>der</strong> <strong>LCH</strong> immer dafür ausgesprochen,<br />

dass auch <strong>in</strong> IF-Systemen e<strong>in</strong> separatives Angebot aufrecht erhalten bleibt, was <strong>in</strong>zwischen im Son<strong>der</strong>pädagogik-Konkordat<br />

<strong>der</strong> EDK als Verpflichtung <strong>der</strong> Kantone festgeschrieben wurde.<br />

3. DER <strong>LCH</strong> ANERKENNT DIE NACHTEILE SEPARATIVER LÖSUNGEN<br />

Die Kritik an den bisher bekannten <strong>Integration</strong>smodellen <strong>in</strong> den Kantonen ist – soweit die oben genannten<br />

„Konstruktionsfehler“ gemacht werden – berechtigt. Es wäre aber auch e<strong>in</strong> Fehler, das Heil nun ausschliesslich<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> herkömmlichen Struktur separativer För<strong>der</strong>ung zu suchen, ohne die Nachteile jenes<br />

Systems auch zu sehen, sie zu anerkennen und dafür gute Lösungen zu unterbreiten.<br />

Seite 3 von 8


Willkürliches Wachstum <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>klassen/Son<strong>der</strong>klassen<br />

Die Studie „Wachstum des son<strong>der</strong>pädagogischen Angebots WASA (Häfeli u.a. 2005) hat nachgewiesen,<br />

dass die Zuweisung von „K<strong>in</strong><strong>der</strong>n mit beson<strong>der</strong>en Ansprüchen“ <strong>in</strong> separative Angebote (Kle<strong>in</strong>klassen,<br />

Son<strong>der</strong>klassen etc.) e<strong>in</strong> extrem starkes, nach oben sche<strong>in</strong>bar unbegrenztes Wachstum entwickelte. Der<br />

Anteil von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> Son<strong>der</strong>klassen/Kle<strong>in</strong>klassen nahm nicht nur sehr stark zu, son<strong>der</strong>n zeigte auch<br />

nicht nachvollziehbare kantonale Unterschiede. Die Chance, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Kle<strong>in</strong>klasse/Son<strong>der</strong>klasse zugewiesen<br />

zu werden, unterschied sich zwischen Kanton A und Kanton B im Extremfall um den Faktor 7! Ähnliche<br />

Unterschiede s<strong>in</strong>d kantons<strong>in</strong>tern zwischen Geme<strong>in</strong>den zu beobachten. E<strong>in</strong> gewisses Ausmass an<br />

„Willkür“ wird allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> allen Systemen bleiben, s<strong>in</strong>d doch selbst bei standardisierten Diagnosen und<br />

bei <strong>der</strong> Ermittlung des För<strong>der</strong>bedarfs immer auch Ermessensspielräume gegeben.<br />

Anreize zum „Abschieben“<br />

Die Studie konnte nachweisen, dass die Separationsschwellen bzw. die Schwellen bezüglich Tragbarkeit<br />

o<strong>der</strong> Nichttragbarkeit <strong>in</strong> den Regelklassen völlig willkürlich gesetzt werden, sich nicht wirklich an den<br />

Möglichkeiten und Bedürfnissen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n an sekundären Anreizkriterien für das „Behalten“<br />

o<strong>der</strong> „Abschieben“ <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> orientierte, wie das <strong>beim</strong> Konsum mediz<strong>in</strong>ischer Angebote im Gesundheitswesen<br />

schon lange bekannt ist. E<strong>in</strong>fach und zugespitzt gesagt: Wo das son<strong>der</strong>pädagogische Angebot<br />

nie<strong>der</strong>schwellig <strong>zur</strong> Verfügung stand, wurden K<strong>in</strong><strong>der</strong> häufiger zugewiesen als <strong>in</strong> Systemen mit begrenztem<br />

Angebot bzw. höheren Hürden <strong>der</strong> Diagnose und <strong>der</strong> Zuweisung. Es ist also nicht von <strong>der</strong><br />

Hand zu weisen, dass bei <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition von „Tragbarkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regelklasse“ sowohl die <strong>in</strong>dividuelle<br />

Beliebigkeit des Urteils <strong>der</strong> Regelklassen-Lehrpersonen wie auch die Zufälligkeit <strong>der</strong> kantonalen Ressourcenpolitik<br />

e<strong>in</strong>e zu gewichtige Rolle spielten. Beheben bzw. mil<strong>der</strong>n lässt sich das Problem nur, wenn<br />

professionell begründete und praxiserprobte Ausrüstungsnormen für die Meisterung <strong>der</strong> Bildungsaufgaben<br />

<strong>in</strong> heterogenen Klassen <strong>zur</strong> Verfügung stehen und umgesetzt werden (auftragsgemässe Ausbildung,<br />

hohe Betreuungs<strong>in</strong>tensität bzw. niedrige Klassengrösse, deutliche Herabsetzung Pflichtlektionenzahl<br />

zu Gunsten von Zeit für Vor- und Nachbereitung des Unterricht und für Absprachen bzw.<br />

Zusammenarbeit, passende Lehrmittel, valide diagnostische Instrumente etc.). Wo separative Strukturen<br />

noch bestehen und diese e<strong>in</strong>en überdurchschnittlich hohen Anteil <strong>der</strong> Schulpflichtigen aufnehmen, muss<br />

die betreffende Praxis selbstkritisch überprüft werden.<br />

Willkürliches Son<strong>der</strong>klassen-ABC<br />

Stossend war auch die Tatsache, dass e<strong>in</strong>zelne Kantone für verschiedene Arten von schulischer Bee<strong>in</strong>trächtigung<br />

entsprechend verschiedene Arten von Kle<strong>in</strong>klassen/Son<strong>der</strong>klassen führten, während an<strong>der</strong>e<br />

Kantone traditionellerweise nur e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Typ von Kle<strong>in</strong>klasse/Son<strong>der</strong>klasse führten, <strong>in</strong> denen unterschiedlichste<br />

Bee<strong>in</strong>trächtigungen nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> sassen. Auch für diese Diskrepanz fanden sich nie<br />

nachvollziehbare Gründe. Es müssten endlich die Triebkräfte für solche Ausdifferenzierungen untersucht<br />

und auf den Tisch genommen werden, bevor sie auch bei e<strong>in</strong>er „<strong>in</strong>tegrierten Son<strong>der</strong>pädagogik“ wie<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>setzen. Dabei muss auch das alte Differenzierungs-Problem angegangen werden: E<strong>in</strong>erseits erfor<strong>der</strong>t<br />

die pädagogische För<strong>der</strong>planung, dass die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen so differenziert wie möglich erfasst<br />

werden, um entsprechend massgeschnei<strong>der</strong>te Lösungen treffen zu können. An<strong>der</strong>seits entwickeln die<br />

son<strong>der</strong>pädagogischen und vor allem die psycho-mediz<strong>in</strong>ischen Fachstellen (<strong>in</strong>cl. IV-<br />

Anerkennungsmechanismen) die Tendenz, durch ständig neue „Erf<strong>in</strong>dung“ bzw. Kategorisierung neuer<br />

Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenarten <strong>zur</strong> <strong>in</strong>stitutionellen Ausdifferenzierung beizutragen, womit die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> starres Schema gepresst werden müssen, um die eng an die e<strong>in</strong>zelnen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungs-Labels (gemäss<br />

den <strong>in</strong>ternationalen Klassifizierungs-Handbüchern ICD-10, DSM-IV u. ä.) gekoppelten Son<strong>der</strong>för<strong>der</strong>ungs-Ressourcen<br />

auszulösen. Diffuse und Misch-Bee<strong>in</strong>trächtigungen und entsprechend unkonventionelle<br />

Lösungen fallen so nicht selten aus den Ressourcenprogrammen h<strong>in</strong>aus.<br />

Seite 4 von 8


Selektionse<strong>in</strong>ladung schwächt för<strong>der</strong>orientierte Pädagogik<br />

Trotz ständig rezitierter För<strong>der</strong>rhetorik hatte die Schule nie wirklich e<strong>in</strong>en För<strong>der</strong>auftrag, <strong>der</strong> die <strong>in</strong>dividuell<br />

bestmögliche För<strong>der</strong>ung me<strong>in</strong>te. Das System (mit Jahrgangsklassen, zunehmen<strong>der</strong> Selektion und<br />

daraufh<strong>in</strong> angelegter Notenpraxis) ist immer auf e<strong>in</strong> imag<strong>in</strong>äres „Gros <strong>der</strong> Klasse“ ausgerichtet worden<br />

und nicht auf das Individuum. Die Pädagogik weist – im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Grundsatzdiskussion<br />

über Selektion – schon lange nach, dass Selektionsmöglichkeiten <strong>in</strong> den Regelklassen die Annahme von<br />

Heterogenität beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, das schon immer falsche Bild e<strong>in</strong>er homogen zusammengesetzten und entsprechend<br />

homogen zu behandelnden Schülerschaft stabilisieren. Die Anerkennung von Heterogenität<br />

wird verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t durch die E<strong>in</strong>ladung <strong>zur</strong> „Abschiebung“ von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, welche nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Unterricht<br />

vom Typ „Gleichschritt-Marsch“ passen. E<strong>in</strong>e solche Unterrichtsführung ist aber auch für die Regelklassenschüler/-<strong>in</strong>nen<br />

generell ungünstig.<br />

Abstempelung mit M<strong>in</strong><strong>der</strong>ung von Laufbahnchancen<br />

Zu den Nachteilen separativer Lösungen gehören überdies die damit verbundenen Etikettierungsvorgänge:<br />

Mit dem Stempel „Kle<strong>in</strong>klässler“ wurde es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verän<strong>der</strong>ten wirtschaftlichen bzw. Berufsbildungs-Landschaft<br />

immer schwieriger, den Jugendlichen noch e<strong>in</strong>en Zugang <strong>zur</strong> Berufsbildung zu vermitteln.<br />

Die Chance ist gestiegen, dass solche Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler nach Abschluss <strong>der</strong><br />

obligatorischen Schulzeit direkt im System <strong>der</strong> Sozialfürsorge landen. Dies ist namentlich dort stossend,<br />

wo bei durchaus vorhandenem Leistungspotenzial von Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern die Etikettierung als<br />

Son<strong>der</strong>klässler bloss auf temporären sprachlichen Benachteiligungen o<strong>der</strong> Schwierigkeiten im häuslichen<br />

Milieu beruhte, welche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>n Form <strong>der</strong> schulischen För<strong>der</strong>ung hätten kompensiert werden<br />

können und zu e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en, höheren Schulabschluss hätten führen können.<br />

4. DER <strong>LCH</strong> ANERKENNT DAS POTENZIAL DER INTEGRIERTEN FÖRDERUNG<br />

Die Nachteile des bisherigen separativen Systems könnten theoretisch mit Optimierungen angegangen<br />

werden. Dies wurde seit Jahrzehnten versucht. Das Resultat bestand <strong>in</strong> enormen Kostensteigerungen<br />

ohne den Nachweis entsprechen<strong>der</strong> Fortschritte. Ob das e<strong>in</strong>en Systemwechsel rechtfertigt, bleibt umstritten.<br />

Immerh<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>den sich mit <strong>in</strong>tegrativen Lösungen mehrere durchaus wertvolle Erwartungen:<br />

• Viele bee<strong>in</strong>trächtigte K<strong>in</strong><strong>der</strong> bzw. Jugendliche erleben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regelklasse e<strong>in</strong>en „Zug-Effekt“, werden<br />

stimuliert von <strong>der</strong> guten Leistungsatmosphäre. Dieser Effekt konnte immer wie<strong>der</strong> nachgewiesen<br />

werden. (Dem muss allerd<strong>in</strong>gs die Gefahr e<strong>in</strong>es Brems- o<strong>der</strong> gar Kipp-Effekts entgegen gehalten<br />

werden, wenn die Heterogenität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Klasse zu allgeme<strong>in</strong>er Überfor<strong>der</strong>ung führt.)<br />

• Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit schulischen Bee<strong>in</strong>trächtigungen erleben <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen <strong>Integration</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regelklasse<br />

das Zusammenleben mit ihren gewohnten „Gschpänli“, mit den Nachbarsk<strong>in</strong><strong>der</strong>n im Quartier o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de. Das stärkt ihr Selbstwertgefühl, wovon die schulische För<strong>der</strong>ung auch profitieren<br />

kann.<br />

• Die Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler <strong>der</strong> ganzen Klasse lernen den guten Umgang mit Verschiedenartigkeit,<br />

üben hier Rücksichtnahme, Unterstützung, Respekt, überhaupt den Umgang mit Diversität e<strong>in</strong>.<br />

Diese Resultate von Bildung s<strong>in</strong>d wichtig für den Fortbestand e<strong>in</strong>er demokratischen und gerechten<br />

Gesellschaft und werden überdies heute vermehrt von <strong>der</strong> Wirtschaft als wichtige Schlüsselkompetenz<br />

an Arbeitsplätzen gefor<strong>der</strong>t.<br />

• Bei <strong>der</strong> <strong>in</strong>tegrierten För<strong>der</strong>ung, namentlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit sehr gut ausgebildeten Schulischen<br />

Son<strong>der</strong>pädagog<strong>in</strong>nen, erweitern die Schulen bzw. die Lehrpersonen ihre Kompetenzen im<br />

Umgang mit Heterogenität, wovon alle profitieren.<br />

• Gel<strong>in</strong>gende <strong>in</strong>tegrierte För<strong>der</strong>ung verbessert die Qualität <strong>der</strong> Zusammenarbeit unter den Lehrpersonen<br />

und mit den Spezialkräften.<br />

Diese positiven Effekte treten allerd<strong>in</strong>gs nicht automatisch e<strong>in</strong>, wenn Kle<strong>in</strong>klassen und Son<strong>der</strong>schulen<br />

aufgelöst werden und die Schulen lediglich e<strong>in</strong> paar IF-Lektionen erhalten. Bei verschiedenen dieser<br />

erwarteten Effekten kann gar e<strong>in</strong>e Verkehrung <strong>in</strong>s Gegenteil stattf<strong>in</strong>den, wenn die „<strong>Integration</strong>“ nur angeklebt<br />

bzw. mit ungenügenden Ressourcen praktiziert wird.<br />

Seite 5 von 8


5. ES BRAUCHT NEUE ANTWORTEN AUF NEUE GEGEBENHEITEN<br />

Das alte, separative System ist aus dem Ru<strong>der</strong> gelaufen, es erfüllt verschiedene Ansprüche nicht mehr.<br />

Wenn nun aber e<strong>in</strong>fach die bisherigen son<strong>der</strong>pädagogischen Leistungen dem Regelschulsystem „aufgepfropft“<br />

o<strong>der</strong> „implantiert“ würden (zum Beispiel als Umwandlung <strong>in</strong> För<strong>der</strong>lektionen, die zum grössten<br />

Teil nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e echte Teamteach<strong>in</strong>g-Situation schaffen), dann würde das die Tatsache verkennen,<br />

dass zwischen <strong>der</strong> Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> separativen Angebote und <strong>der</strong> heutigen Zeit sich die Welt auch für die<br />

Regelschulen erheblich verän<strong>der</strong>t hat.<br />

Gestiegene Heterogenität<br />

Vielfalt ist <strong>in</strong> menschlichen Gruppen – auch <strong>in</strong> Lerngruppen – zunächst e<strong>in</strong>e Ressource. Nun ist aber <strong>der</strong><br />

produktive Umgang mit <strong>der</strong> Heterogenität <strong>der</strong> Schülerschaft <strong>in</strong> den herkömmlichen Regelklassen <strong>in</strong>folge<br />

gesellschaftlicher Entwicklungen zunehmend schwieriger geworden: Der gesellschaftliche Zusammenhalt<br />

hat <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten stetig abgenommen, auch <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> „angestammten“ Schweizer<br />

Bevölkerung s<strong>in</strong>d die Wertvorstellungen und damit die Erwartungen an die Bildung vielfältiger und gegensätzlicher<br />

geworden. Damit e<strong>in</strong>her g<strong>in</strong>g paradoxerweise nicht e<strong>in</strong>e Zu-, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e Abnahme <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>dividuellen Toleranzen für abweichende Vorstellungen und Lebensentwürfe. Die mittlerweile hohen<br />

Scheidungsraten (alle<strong>in</strong>erziehende Elternteile) und die erhöhte ökonomische Notwendigkeit e<strong>in</strong>er Berufstätigkeit<br />

bei<strong>der</strong> Elternteile haben die ausserschulische Betreuungssituation bzw. die schulische Unterstützung<br />

zu Hause bei vielen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen verschlechtert, vor allem wenn an<strong>der</strong>e Betreuungsangebote<br />

fehlen. Erweitert wird diese Heterogenität, wo e<strong>in</strong> überdurchschnittlich hoher Anteil von<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n bzw. Familien mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrund und aus unteren Sozialschichten vorhanden ist. Die<br />

Vielfalt <strong>der</strong> Herkunftssprachen und die zunächst schwache Beherrschung <strong>der</strong> Unterrichtssprache kommen<br />

dann oft als zusätzliche Herausfor<strong>der</strong>ung dazu. Gleichzeitig ist <strong>der</strong> Ruf nach angemessener <strong>in</strong>dividueller<br />

För<strong>der</strong>ung von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen mit beson<strong>der</strong>en Begabungen lauter geworden, e<strong>in</strong>e<br />

lange zu Unrecht vernachlässigte Gruppe. Und schliesslich s<strong>in</strong>d immer mehr die grossen <strong>in</strong>dividuellen<br />

Unterschiede <strong>in</strong> den Bereichen Aufmerksamkeit, Ausdauer, Frustrationstoleranz und Verhalten <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Klassengeme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong>s Blickfeld <strong>der</strong> Aufmerksamkeit gerückt worden (ADHS, Unausgeschlafene, Fehlernährte,<br />

Störungen im Autismusspektrum etc.). So betrachtet ist die Vergrösserung <strong>der</strong> Heterogenität<br />

durch die <strong>Integration</strong> von früher separiert geför<strong>der</strong>ten K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen nur e<strong>in</strong> Teil e<strong>in</strong>er Vielfalt<br />

von Ansprüchen, welche die Volksschule – mit o<strong>der</strong> ohne diese Teilgruppen – vor e<strong>in</strong>e epochale<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung stellt. Das Zusammenspiel von Differenzieren und Integrieren muss gewissermassen<br />

neu erfunden werden.<br />

Gestiegene Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

H<strong>in</strong>zu kommt nun, dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> gleichen Zeit die Ansprüche an das Niveau <strong>der</strong> Lernresultate <strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht<br />

auf den Übertritt <strong>in</strong> die Sekundarstufe II massiv gestiegen s<strong>in</strong>d, und zwar sowohl an den Gymnasien wie<br />

auch <strong>in</strong> den Berufsschulen. Absolvent<strong>in</strong>nen und Absolventen von Sekundarschulen müssen heute Aufgaben<br />

lösen, welche noch vor drei Jahrzehnten erst Jahre später, z.B. bei Lehrabschlussprüfungen gestellt<br />

wurden. Die PISA-Diskussion zudem hat <strong>zur</strong> berechtigten bildungspolitischen For<strong>der</strong>ung geführt,<br />

dass die 10 bis 20 % Schulabsolventen ohne h<strong>in</strong>reichende Ausrüstung für den E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> Berufslehren<br />

nicht mehr h<strong>in</strong>zunehmen s<strong>in</strong>d, dass allen Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern am Ende <strong>der</strong> obligatorischen Schulzeit<br />

bestimmte M<strong>in</strong>destfähigkeiten vermittelt se<strong>in</strong> müssen (entsprechend den vorgesehenen „Basisstandards“<br />

bei HarmoS bzw. entsprechend den für den Lehrplan 21 vorgesehenen „M<strong>in</strong>desterwartungen“).<br />

Das ist e<strong>in</strong> völlig neuer, noch nie dagewesener Auftrag an die Schulen, welche diese 10 bis 20 % bisher<br />

e<strong>in</strong>fach mit e<strong>in</strong>er ungenügenden Note entlassen o<strong>der</strong> aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Kle<strong>in</strong>klasse mit entsprechend reduzierten<br />

Ansprüchen überweisen konnten.<br />

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Die offene und noch nicht diskutierte Frage ist dabei allerd<strong>in</strong>gs, ob eventuell Kle<strong>in</strong>klassen es bei e<strong>in</strong>er<br />

Fokussierung auf Basisstandards <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em offensiven För<strong>der</strong>konzept besser schaffen würden, diese<br />

M<strong>in</strong>destansprüche bei ihren Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern e<strong>in</strong>zulösen, als dies <strong>in</strong> Regelklassen möglich<br />

se<strong>in</strong> wird. Jedenfalls stehen wir vor <strong>der</strong> paradoxen Situation, dass e<strong>in</strong>erseits dem bisherigen Regelklassensystem<br />

von gewissen Kreisen gravierende Mängel nachgesagt werden und ihm gleichzeitig mit <strong>der</strong><br />

<strong>Integration</strong> bisheriger Son<strong>der</strong>pädagogik-Aufgaben e<strong>in</strong>e äusserst anspruchsvolle neue Aufgabe aufgeladen<br />

wird, ohne an <strong>der</strong> Grundkonstruktion des Regelklassensystems etwas zu än<strong>der</strong>n. E<strong>in</strong> paar wenige<br />

IF-Zusatzlektionen br<strong>in</strong>gen da gar nichts.<br />

6. GELINGENSBEDINGUNGEN DURCHSETZEN ODER ANSPRÜCHE ZURÜCKWEISEN<br />

Der <strong>LCH</strong> publiziert schon seit e<strong>in</strong>igen Jahren periodisch aktualisierte Gel<strong>in</strong>gensbed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>tegrierte För<strong>der</strong>ung für alle (www.lch.ch). Diese Bed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d bislang von <strong>der</strong> son<strong>der</strong>pädagogischen<br />

Fachwelt nie kritisiert, son<strong>der</strong>n als seriös und berechtigt qualifiziert worden. Sie decken sich auch<br />

weitgehend mit dem Anfor<strong>der</strong>ungskatalog des „Netzwerk Integrativer Schulen“, welches von <strong>der</strong> PHZ<br />

Luzern betreut wird.<br />

Auf e<strong>in</strong>e Kurzform gebracht, gelten (neben den oben erwähnten Ansprüchen bezüglich Ausbildung <strong>der</strong><br />

Lehrpersonen, verfügbaren Fachstellen und Leitungs- und Koord<strong>in</strong>ationskapazitäten) folgende M<strong>in</strong>destansprüche:<br />

• Grundausstattung: für 100 Lernende 500 % Lehrpersonenpensum (exkl. Fachlehrpersonen und IF-<br />

Personal).<br />

• 24 Pflichtlektionen für Regelklassen-Lehrpersonen im Vollpensum (damit genügend Zeit für die Vorund<br />

Nachbereitung des Unterrichts und für Absprachen <strong>zur</strong> Verfügung steht).<br />

• Schulische Heilpädagogik/IF: für 100 Lernende 120 %.<br />

• Pädagogisch-therapeutische Massnahmen (Logopädie, Psychomotoriktherapie): für 100 Lernende<br />

20 %.<br />

• Zusätzliche Massnahmen: <strong>in</strong>terkulturelle Pädagogik, Begabungsför<strong>der</strong>ung, Schulsozialarbeit etc.<br />

werden entsprechend <strong>der</strong> soziodemographischen Zusammensetzung <strong>der</strong> Bevölkerung des E<strong>in</strong>zugsgebietes<br />

<strong>der</strong> Schule bestimmt und bereitgestellt.<br />

• Zusätzlich im Rahmen <strong>der</strong> sog. Integrativen Son<strong>der</strong>schulung (bisherige IV-Fälle) ist e<strong>in</strong>e Poollösung<br />

von durchschnittlich 20 bis 30 % Fachperson pro zu betreuendem K<strong>in</strong>d/Jugendlichen zu gewährleisten.<br />

In E<strong>in</strong>zelfällen, etwa wo e<strong>in</strong>e 1:1-Betreuung (manchmal mit Assistenzpersonal für Hilfestellungen,<br />

gesundheitliche Betreuung etc.) erfor<strong>der</strong>lich ist, muss dieser Aufwand zusätzlich zum ordentlichen<br />

Pool bereitgestellt werden.<br />

• Ausbau des Schulleitungspensums (<strong>in</strong>cl. Schulentwicklungspool für delegierte Leitungsfunktionen)<br />

soweit nötig <strong>in</strong>folge des Mehraufwandes für die <strong>in</strong>tegrierte Son<strong>der</strong>pädagogik.<br />

• Genügende Anzahl zweckmässiger Arbeitsräume sowohl für die Arbeit mit den Lernenden wie auch<br />

für Vorbereitungsarbeiten und Besprechungen.<br />

• Aufrechterhalten e<strong>in</strong>es subsidiären Angebots an separativer För<strong>der</strong>ung für Fälle, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tegrative<br />

Lösung nicht angezeigt ist bzw. für e<strong>in</strong>e rasche Umplatzierung bei deutlichem Misserfolg <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>tegrierten För<strong>der</strong>ung.<br />

Die pädagogische, professionelle Verantwortung gegenüber <strong>der</strong> För<strong>der</strong>aufgabe gebietet, dass <strong>Integration</strong>sbasteleien,<br />

welche deutlich unter diesen Tarifen liegen, abgelehnt werden müssen. Wo e<strong>in</strong>e Verweigerung<br />

aus dienstrechtlichen Gründen nicht möglich ist, muss den betroffenen Eltern offen kommuniziert<br />

werden, dass ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> unter unseriösen Bed<strong>in</strong>gungen geför<strong>der</strong>t werden und mit gravierenden<br />

Nachteilen zu rechnen haben. Es ist e<strong>in</strong> Zeichen von Professionalität, Aufträge, bei denen es um e<strong>in</strong><br />

wichtiges Gut geht, nicht unter Tarif zu übernehmen. Die Tradition des „gutmütigen Durchwurstelns“<br />

muss beendet werden.<br />

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Der immer wie<strong>der</strong> gehörte Appell an den guten <strong>Integration</strong>swillen <strong>der</strong> Lehrerschaft ist aus dem Munde<br />

von Expert<strong>in</strong>nen und Experten <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>pädagogik dann akzeptabel, wenn aus dieser Fachschaft konkrete<br />

und begründete M<strong>in</strong>desttarife für e<strong>in</strong>e gel<strong>in</strong>gende <strong>in</strong>tegrierte För<strong>der</strong>ung genannt und Billiglösungen<br />

<strong>in</strong> Kantonen und Geme<strong>in</strong>den öffentlich angeprangert werden. Das Ziel muss se<strong>in</strong>, die Diskussion<br />

auf e<strong>in</strong> Niveau jenseits von gutem Willen zu heben, <strong>in</strong>dem breit anerkannte professionelle Standards für<br />

die konkrete Ausrüstung <strong>der</strong> Schulen <strong>zur</strong> Erfüllung ihres Auftrags etabliert werden.<br />

Zürich, 8. September 2010 / PrK <strong>LCH</strong><br />

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