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phänomenologische skizzen: leib und architektur<br />
Münder, Augen und Hüte wie Gesichter. Die Versuche sind<br />
so alt und legitim, dass der Name der Fassade nichts anderes<br />
heißt als Gesicht, facciata. Jedermann kennt berühmte Beispiele<br />
dafür, eindrucksvolle, akademische und naive. Je deutlicher<br />
sie die Botschaft bringen, desto peinlicher sind wir berührt –<br />
obgleich wir eine unwiderstehliche Sympathie für die<br />
Grundidee haben. Wie kommt das?<br />
Seit Jahrhunderten liegt in dieser Sympathie<br />
ein Missverständnis, auf das sich unser Peinlichkeitsgefühl<br />
zurückführen läßt. Vitruv, der Ahne aller europäischen<br />
Architekturtheorie, hatte in seinem Buch De Architettura<br />
Libri Decem die Maßverhältnisse des menschlichen Körpers<br />
als Vorbild architektonischer Harmonie genannt.<br />
„Kein Gebäude kann ohne Ebenmaß und gutes Verhältnis<br />
gut eingerichtet sein, noch wofern es sich nicht genau wie<br />
der Körper eines wohlgebildeten Menschen zu seinen Gliedern<br />
verhält.” Leon Battista Alberti spricht vierzehnhundert Jahre<br />
später nicht so sehr wie Vitruv von der erwünschten<br />
Maß-Analogie, sondern von einer Analogie der Wahrnehmung:<br />
„Wir nehmen ein Gebäude wie einen Körper wahr.”<br />
Die Zeichner und Architekten der Renaissance haben in<br />
der Folge die Wahrnehmung rein visuell verstanden und Körper<br />
wie Gebäude von außen gesehen, als Dinge unter Dingen.<br />
Die Harmonie der Architektur sollte auf dem Vergleich<br />
der Architekturform mit dem Körper eines schönen Menschen<br />
beruhen. Hier liegt meines Erachtens das Jahrhunderte alte<br />
Missverständnis.<br />
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