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Jachym Topol Die Schwester

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<strong>Jachym</strong> <strong>Topol</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Schwester</strong><br />

Roman<br />

Aus dem Tschechischen von<br />

Eva Profousova und<br />

Beate Smandek<br />

1m September 1989 beobachten Potak, junger Schau spieler und Tanzer,<br />

Bohemien und Anarchist, und seine Geliebte Kleine WeiGe Hiindin (die<br />

eigentlich Barbara heiGt) die DDR-Touristen, die sich vor der Prager<br />

Botschaft der Bundesrepublik drangen. <strong>Die</strong> Welt ist aus den Fugen, und<br />

Wirklichkeit und Kulisse scheinen die Platze getauscht zu haben. In dieser<br />

heillosen Zeit griindet Potak zusammen mit Freunden die »Organisation«,<br />

halb Gang, halb Sekte, mit einem gewissen Ehrenkodex behaftet<br />

und finanziell sehr erfolgreich. Dann verschwindet Kleine WeiGe Hiindin<br />

spurlos, und Potaks einzige Hoffnung auf Halt besteht nun darin,<br />

die »<strong>Schwester</strong>« zu finden, jene Liebe und Tod verk6rpernde Frau, von<br />

der ihm seine Freundin erzahlt harte. Doch die kriminellen Verstrickungen<br />

der Organisation werden zunehmend mafi6ser, und schlieGlich mug<br />

Potok aus Prag fliehen - gemeinsam mit der »<strong>Schwester</strong>«.<br />

»Es geht nur in Superlativen: <strong>Die</strong> <strong>Schwester</strong> ist der erregendste, zugelloseste,<br />

traurigste und heiterste Roman uber den seit 1989 wieder in Unordnung<br />

geratenen Osten .... Man liest diesen Roman mit feuchten<br />

Handen und legt ihn am Ende mit zitternden zuruck.«<br />

Michael Schindhelm, Der Tagesspiegel<br />

<strong>Jachym</strong> <strong>Topol</strong>, 1962 in Prag geboren, war nicht nur der Star des literarischen<br />

und musikalischen Underground vor 1989, sondern ist auch heute<br />

noch der bekannteste tschechische Autar seiner Generation. Nach <strong>Die</strong><br />

<strong>Schwester</strong>, in Tschechien zum Kultbuch geworden, folgten die Romane<br />

Engel EXIT und N achtarbeit.<br />

200 '1


<strong>Die</strong> Hand im Brokat . Der Kupferstich und im<br />

Loch· Wie das mit der Hiindin war' Wir<br />

sehen sie, sie ziehen . Der Keller' Sie behielt<br />

mich drin<br />

Wir waren die Leute yom GEHEIMNIS.Und wir warteten. Dann ist<br />

David verriickt geworden. Vielleicht ist gerade sein Kopf geplatzt,<br />

weil seiner der beste Kopf war, der die Signale aussendete und so die<br />

ganze Clique, die ganze Gemeinschaft vorantrieb. Das haben wir<br />

uns immer gesagt, daB es vorangeht, irgendwohin, aber bald hat ten<br />

wir aile jeden Begriff davon verloren, wohin die ]agd geht.<br />

Manchen yon uns war vielleicht schon in den Sinn gekommen, daB<br />

wir uns nicht auf einer Geraden bewegen, sondern uns im Kreis drehen.<br />

Ich selber hatte auch schon ofter das Gefiihl gehabt, daB mir<br />

die Zeit irgendwo im fahlen Licht verlorengeht, daB sie durchsichtig<br />

wird, wieder Farbe und Geschmack verliert, und das war mein<br />

Horror. Hai war vielleicht der einzige mit'm konkreten Ziel: den<br />

Karton und seine Geister loszuwerden. Ich rannte wie der Bar in der<br />

Tretmiihle, mir hat das alles angst gemacht, aber es brachte mir SpaB<br />

und hatte was mit Aufladung zu tun. Mitzka konnte gar nicht mehr<br />

mit Strahlen aufhoren, und am meisten hat er gerade dann gestrahlt,<br />

wenn das Metall floB.<br />

Das mit David ist passiert, nachdem die yom Ministerium unseren<br />

Brunnen saubergemacht haben. Nicht nur, daB er standig an seinen<br />

Daumen schniiffelte. Schon langere Zeit war mir 'ne Veranderung<br />

in seinem Gesicht aufgefallen, seine Augen traten hervor, im<br />

Gegensatz dazu sein Kinn ... wie wenn es verschwinden wiirde.<br />

Seine Lippen waren immer vorgestiilpt, sie standen auseinander,<br />

siehst aus wie 'n Kiirbiskopf, witzelte ich, keine Antwort.<br />

Ich war's, der ihn im Lager gefunden hat, er saB unter den Stoffen<br />

wie in einem orientalischen Zelt, die eine Hand im Brokat, is mir<br />

egal, ob ich das anfaB, sagte er, is mir total egal, mir is alles gleich.


Was erzahlsten da, fragte ich.<br />

Mir isses ega!.Is mir gleich. Du warst das mit den Autos, ja?<br />

Jau.<br />

Siehste, antwortete er, du oder Novak. Mir is einer wie der andere.<br />

Das spur ich korperlich, psychisch auch. Und jetzt sag ich nichts<br />

mehr, sagte er.<br />

Dann hab ich nicht mehr auf ihn geachtet, ich bin nach oben, wo<br />

wir uns nach der Arbeit unterhalten haben wie immer.<br />

Und wie hat das alles angefangen? Wenn ich meine Spuren<br />

damals ... in der Steinzeit ... erkunden will, dann muB ich daruber<br />

sprechen, wie Bara und ich uber den Platz gegangen sind, auf dem<br />

die Deutschen waren, und das tu ich, weil ich da zum erstenmal die<br />

Bewegung gespurt habe, da bekam die Zeit Farbe und Geschmack,<br />

da begann mein Karneva!'<br />

Wir liefen uber den Platz voller Fluchtlinge, jetzt hatte Prag, die<br />

geschlossene Stadt, die Stadt Perle, dieser Punkt auf der Landkarte<br />

hinter dem Stacheldraht, seine eigenen Fluchtlinge. Ich werde daruber<br />

schreiben, wie es angefangen hat, und ich muB mich mit einer<br />

Hand am Tisch festhalten und den Nagel des Zeigefingers irgendwo<br />

in den Daumen graben, das tu ich, so muB ich auch mit der anderen<br />

Hand zufassen und den Schmerz spuren, damit ich Gefiihl<br />

bekomme von etwas Wirklichem. Wenn ich wissen will, wie das<br />

war ... der wichtigste Teil der ganzen Begebenheit, das Ende namlich,<br />

verliert sich irgendwo in der Leere, wohin die Zukunft verschwindet<br />

und aile Toten auch.<br />

Es fing damit an, daB die Mauern zusammengekehrt und Souvenirs<br />

ausgetauscht wurden, mit wiitender Reiserei, ich geb dir ein<br />

Brockchen von der Mauer und du mir die Patronenhiilse vom Platz,<br />

ein Stiick Wachs, ein Stiick Draht von der Abhoranlage, im Lauf der<br />

Zeit hab ich die ganze Sammlung verloren, sie taugte nur am Anfang<br />

was, in der Freude und im Rausch, wozu Splitter aufheben,<br />

Eisenspane, und auBerdem: Klare Symbole hauen nur hin, wenn die<br />

Zeit 'ne Sache abgeschlossen hat. Du bist aber aus dieser Wirklichkeit<br />

immer noch nicht rausgekommen. Bewegst dich weiter auf den<br />

Brettern, immer noch in derselben Vorstellung, noch immer in den<br />

bekannten Kulissen, mit deinen gereizten Nerven spiirst du die<br />

Gegenwan des Apparats, der eigentlich hier die Regie fiihrt, und<br />

gibt's ihn? oder gibt's ihn nicht? gehort der mit zum Plan? und soli's<br />

so sein? Immer noch erahnst du Fratzen hinterm Vorhang, Grimassenschneiden,<br />

die Ratte hinterm Vorhang, die Bose-Onkel-Fresse.<br />

Das GESICHT.<br />

Deine angekaute Faust tut dir immer noch weh, du rammst sie dir<br />

in den Mund, urn nicht zu sprechen, urn dir nicht selbst einzugestehen,<br />

was hier eigentlich los ist, was abgeht: mit dir. Und deinen<br />

Anteil wiirdste am liebsten vergraben.<br />

Ich kuck in den Spiegel, hinten drauf, die Buchstaben zur Wand<br />

hin, steht 'ne Wid mung, den hat mir der Chinese geschenkt. Ich<br />

schluck das FEUERWASSER aus der Flasche, das geht noch lange nicht<br />

zur Neige.<br />

Wenn ich merke, wie die Zeit langsam ihre Kraft verlien, wenn<br />

sie schon nichts mehr in sich reinsaugt, immer, wenn im Tunnel das<br />

Chaos und der Larm zu wirbeln aufhoren, dann hilft mir das FEU-<br />

ERWASSER. Und am nachsten Tag ist ihre Leichenstarre der Beweis,<br />

daB die Zeit fiir mich wieder tot ist. So ungefahr hielten die Chippewa<br />

nach dem FEUERWASSER das Paddel in der Hand, starre Gestalten<br />

in Holzkahnen, die Kopfe wie von innen zertriimmert. Sie hatten's<br />

auch bitter notig: Gewehre und Stahlmesser und die Pocken<br />

hatten ihnen die Zeit kaputtgehauen. Sie wollten vielleicht den<br />

Kreis, ich sehnte mich nach einer Geraden.<br />

Ich lange hoch aufs Regal nach dem FEUERWASSER, von der anderen<br />

Seite tastet eine Hand danach, ich komme an ein Armband, er<br />

hat abgeknabberte Fingernagel wie ich, aber seine Hand ist braunlich,<br />

ich kann den Rauch riechen, sie ist schwielig, iiberall abgeschiirft,<br />

ich hab schon keine Schwielen mehr, heut nicht mehr, wir<br />

umklammern jeder von einer Seite die Flasche, die will aber keinen<br />

Krieg: dieser Damon will uns beide. <strong>Die</strong> Flasche teilt sich in zwei,<br />

jeder zieht seine kiihle Beute Glas auf seine Seite der Dunkelheit,<br />

und da, wo meine Hand die des Chippewa beriihrt hat, steht schon<br />

eine neue Flasche, immer wird da eine neue stehen, solange wir im<br />

Sterben liegen.<br />

Jetzt nicht mehr, haben wir uns gesagt. Aile beide. Sie und ich,<br />

damals. Ich weiB nicht mehr, wer von uns es gesagt hat.<br />

Wenn der Kater auf dem Riickzug ist, nimmt alies wieder an<br />

Umdrehungen zu, du lebst auf, hast das Gefiihl, daB es hier wieder<br />

Zeit und Bewegung gibt, du weiBt, daB das Murks ist, das weiBt du<br />

nur in der untersten Schicht deines Kopfes, weiter oben fangt es


schon wieder an zu leuchten, mattes Licht fallt auf die tagtaglichen<br />

Kulissen, aber du spielst noch ein bilkhen mit der Illusion. Wegen<br />

dem Kater trinkst du, der ist ein Grat, der ist wie die Dammerung,<br />

nicht ganz Tag, nicht ganz Nacht. Jeder Moment hat noch seine<br />

scharfe Kontur. <strong>Die</strong>se Zeit hat noch ein Ende, das ist fur mich nicht<br />

abzusehen, diese Zeit hlh sich noch zahlen: yom ersten Augenblick,<br />

als sich im Betonblock ein RiB zu zeigen begann.<br />

Der Betonblock, der alles erstickte, was sich auf seine eigne Art<br />

bewegen wollte, ist weg, du weiBt sehr gut, wie alles faulte, der Freiheit<br />

entgegen garte, wie es mutierte im Gestank, im Gebusch, im<br />

Gestrupp, ekliges Gewurm umerm Stein. Das Gestrupp: besonders<br />

lebensfahige Triebe fanden die Ritzen im langsam berstenden Beton<br />

und drangten nach drauBen, irgendwie im Zickzack, kriechend, es<br />

ging. Das bin naturlich ich, ich auch, das Gestrupp, und lange habe<br />

ich auf den Schlag gewartet, auf das Signal, den ohrenbetaubenden<br />

Pfiff, das Hammern an die Tur.<br />

Du bist auch ein Tei! dayon, eine Kreatur im Gestrupp, yielleicht<br />

eine Wurzel, eine gewundene, vielleicht 'n Ginseng. Grenzen werden<br />

dir hier keine gesetzt, du bist in einem freien Land, Fremder.<br />

Wenn du aber falschspieist, hab ich ein Bajonett im Armel. Und<br />

wenn die Trumpfe bei mir liegen, dann naturlich auch. Das ist die<br />

beruhmte freie Wahl, vor die stellt dich der BOGpersonlich, cler alte<br />

Gott der Slawen, das weiB doch jedes Kind der Demokratie. Also<br />

gut: Versohnen wir uns, aile Familien, und nageln wir die Fledermaus<br />

ans Scheunentor, damit die Insekten ihr den Damon aussaugen<br />

und unsere Hande sauber bleiben.<br />

Ich begreif's nicht, ich weiB nicht, wieso ist das nicht mir passiert?<br />

Warum ich, warum hast nicht du die acht Jahre gekriegt, die Eisenstange<br />

uber den Dez, das Ticket ohne Ruckflug? 's is ja schon vorbei.<br />

1st es schon vorbei? Und soil man jetzt so leben, oder so? Heute<br />

morgen hab ich im Nebel am Bahnhof nur eine alte Frau und 'n<br />

Wolfshund gesehen. Aile anderen waren gerade woandershin abgedampft.<br />

1m Papierkorb brannte ein Feuer. <strong>Die</strong> Frau gab ihm zu fressen.<br />

Verbrennen Sie Ihren alten Krempel, ja, gute Frau? fragte ich.<br />

Nein, das sind meine Unterlagen, die Dokumente. Der Hund<br />

knurrte, ein Kafer krabbelte uber den Burgersteig, sanft wehte der<br />

Wind uber die Fensterscheiben.<br />

Aha, s 0 werden wir das jetzt also machen, sagen sich die Leute.<br />

Das yorher, das gildet ja nicht, das muflte man. Du bist zwar was,<br />

nach augen hin, aber tief unten an der Quelle bist du doch ein anderer,<br />

das weiB ja jeder, das ist das kleine Einmaleins. Also offne deine<br />

Quellen, jetzt, die ganze Welt wartet nur darauf. Aha, also, was ist<br />

jetzt die Wirklichkeit? Was ist Kulisse? Was tun? Und was mach ich<br />

jetzt? stimmte ich in den Chor der anderen ein.<br />

Unsere Freundschaft, das war eigentlich die Firmendammerung,<br />

der Anbruch der spateren Gemeinschaft, sie war die Basis. Mit Kleine<br />

WeiBe Hundin lebte ich, als ich noch nichts wugte, nichts hatte<br />

und nichts verlieren konnte. Sie hat mich gemacht, damit ich spater<br />

jemand anders machen konnte, damit es einen Stamm gab. Sie<br />

wugte, daISwenn wir uberleben wollen und wenigstens ein bilSchen<br />

Zeit fur uns behalten, dann mussen wir einen eigenen Stamm haben.<br />

Sie wulSte, daISwir gezwungen sein wurden, aile unsere Zeit an die<br />

Kulissen abzugeben, an die anderen, und sie wulSte auch, wie man<br />

wenigstens ein Stuckchen Zeit fur sich bewahrt.<br />

Es geht auch in Gegenstanden, das hat sie mir beigebracht. Ich<br />

hab damals die Zeit oft in verschiedenen glanzenden Scherben in den<br />

Taschen meiner kurzen Hosen yersteckt. Ich sag in der Klasse oder<br />

irgendwo zu Hause und wickelte die Scherbe aus dem Taschentuch<br />

und fixierte sie, und die Zeit begann sich abzuspulen, zuerst ganz<br />

zart, wie wenn eine Feder auf die Erde schwebt (spater brachte sie<br />

mir bei, dag man, urn diese Zartheit zu erreichen, das Stuckchen Zeit<br />

yon vorneherein am besten in 'ne Feder tut), und dann beschleunigte<br />

sich die Zeit in der Scherbe, und ich war drin, zusammen mit Kleine<br />

WeilSeHundin, mit dem Gras und den Baumen in unserem Loch<br />

am Hang, mit ihren Beruhrungen, in der Wirklichkeit.<br />

Sie hat auch die grunen Augen yon der gesehen, die ich erst spater<br />

treHen sollte, in der Zukunft, die talentierte Frauen vorhersehen<br />

konnen. Wirst wohl mal mit 'ner Ringerin zusammensein, sagte sie<br />

einmal, als sie im Bett ihre blauen Flecken untersuchte; schon gut,<br />

ich sc~lag jetzt nicht mehr urn mich, sagte ich, und ob du's wirst,<br />

sagte sle.<br />

Lange beyor ich urn mich schlug und im Schlaf mit den Zahnen<br />

knirschte, war ich ein Invalide, ein Kruppel in der Kindheit in<br />

irgendeinem Herbst, und daISich nur vor ihr und nur fur sie gelahmt<br />

war, das war das erste Spiel, der Anfang der Erforschung der


menschlichen Krafte und der Beginn der Perversion. Ich saB reglos<br />

da, und Kleine WeiBe Hundin rief in meinem Karper ein Nervenkribbeln<br />

hervor, ich saB, solange es ging, da, damit sie meinen Karper<br />

lemte, damit sie meinen Karper das Fuhlen lehrte. Mein Vorbild<br />

war ein Kruppel von einem Kupferstich. Ein mittelalterlicher<br />

Stich, der von Rittem und Kruppeln bevalkert war. Es war das Mittelalter<br />

des heiligen Georg, des Drachentaters, und ich war ein<br />

Kruppelkind mit verdrehter Seele und sorgsam erlernter Schizophrenie,<br />

denn das, was man drinnen durfte und was drinnen von<br />

einem verlangt wurde, war drauBen unerwunscht und gefahrlich.<br />

Das Gewicht urn meinen Hals war der Familienstolz. Ich muBte die<br />

Zukunft sein, die die erlittenen Demutigungen aufwiegt, da war ich<br />

genauso dran wie tausend andere.<br />

Genau wie die trieb auch mich etwas dazu, Tauben und urns<br />

Leben gekommene Spatzen zu begraben, ihnen Kreuzchen auf die<br />

kleinen Graber zu stellen und Vokabeln zu buffeln, aber Hundin<br />

brachte mich zu mir selbst zuruck, durch sich, durch ihre Bewegungen,<br />

ihre Stimme, ihre Beruhrungen, wie eine kleine Ehefrau.<br />

Woanders muBte ich die Rolle des wiBbegierigen, frahlichen kleinenJungen<br />

spielen und Einsen nach Hause bringen, urn meinen Verpflichtungen<br />

nachzukommen. <strong>Die</strong> Kommunisten benutzten solche<br />

Familien als FuBabtreter, und gerade darum zwangen die Vater und<br />

Mutter die Kinder, Latein zu lemen. <strong>Die</strong> Vater fuhrten ellenlange<br />

Debatten, ob Latein oder Englisch gelernt werden sollte, und kamen<br />

immer uberein, daB beides notwendig war. Latein, Kirchgang,<br />

Sprachunterricht. Doppelte Erdkunde, doppelte Geschichte plus<br />

Religion, das war eine recht erbarmliche Ausrustung fur den Kampf<br />

mit der AuBenwelt. Der Georg damals hatte wenigstens seine Lanze<br />

gehabt. AuBerdem wollte der Drache ihm nicht die Zeit wegnehmen,<br />

der Drache wollte ihn taten.<br />

Mit Kleine WeiBe Hundin war ich wieder ein Niemand, ein<br />

Wesen, das aus Dampf, Wind und Feuchtigkeit geboren wurde.<br />

Kleine WeiBeHiindin streichelte Nerven in mir, von denen ich nicht<br />

einmal gewuBt hatte, daB ich sie habe, mein Gesicht bekam eine<br />

neue Gestalt, ich begann, meinen Karper zu spuren. Ich begann zu<br />

tanzen. Fur den Kruppel ist schon die Dehnung der Handmuskeln<br />

ein Tanz. Sie zog mich zu sich, schuf, und das machte wiederum ihr<br />

Wesen aus.<br />

<strong>Die</strong>ses brave kleine Madchen ging fur ihren altphilologischen<br />

U nterricht zu einem ehemaligen Priester, derzeit Lagerarbeiter, weil<br />

er nicht unterschrieben hatte, aus Angst vor dem TEUFEL,oder sie<br />

ging in die Kirche zu einem Priester, der unterschrieben hatte,<br />

schlieBlich ist nur die Kirche ewiglich, und aile Regime fallen fruher<br />

oder spater und liegen am Boden wie Sandkarner im unendlichen<br />

Ozean der Gnade - aber auch die Kirche ist nicht alter als der<br />

Stamm ... und im Mund hatte sie noch den Geschmack vom Samen<br />

dieses jungen Mannes aus ihrem Stamm, weil wir namlich eher miteinander<br />

verwandt waren als mit diesen Familien mit gebrochenem<br />

Ruckgrat. <strong>Die</strong> Gegenwart, die die Familien als Trugwelt empfanden,<br />

und die Zeit vor der Invasion, auf die sie ihr Dasein richteten, das<br />

kam uns beides wie der gleiche Schwachsinn vor. U ns interessierten<br />

keine Blutsbande und kein Familiengeschlecht, das sahen wir wie<br />

Romeo und Julia.<br />

In diesem Totenbrausen urn uns herum muBte man sich ducken,<br />

die Fuhler der Nerven ausstrecken und das Stammessignal auffangen<br />

und aussenden. 1m Loch am Hang, die Augen zu: Was siehst<br />

du? Dunkelheit. Weit weg? Nein, gleich hier. Und was siehst du?<br />

Dich. Andere Leute, die sind ganz klein, haben aile das gleiche<br />

Gesicht. Meine Dunkelheit ist jetzt rot. Meine auch.<br />

Unser Austausch von Zartlichkeiten, der mit der Zeit in meinen<br />

Orgasmus mundete und lange danach auch in ihren, war nicht nur<br />

ein Nehmen und Geben von Lust, es war das Ritual eines Stammes<br />

in der Umzingelung. Kleine WeiBe Hundin hatte schwarze Haare<br />

wie jede Liebe von mir, weiB nannte ich sie wegen ihrer Haut. Auch<br />

jetzt nenne ich sie so, in Gedanken, jetzt, wo alles, was ich versuche<br />

festzuhalten, verschwunden ist und ich meine <strong>Schwester</strong> getroffen<br />

habe und Kleine WeiBe Hundin ein Geist geworden ist, eine gute<br />

Damonin mit unerforschlichen Absichten. Wo ist sie jetzt, wo das<br />

und das passiert ist und der im FluB ertrunken und ein anderer verruckt<br />

geworden und noch einer weggegangen ist, ist sie fort?<br />

Sie legt mir eine Oblate auf die Zunge, das Zeichen Gottes, und<br />

ich hab da noch deinen Samen, wo deine Kinder sind, vielleicht sind<br />

sie nicht aile tot, ich bin so schnell gelaufen.<br />

Spater wischte sie den Geschmack schon weg, sie brauchte es<br />

nicht mehr, ihr Moskitonetz im Dschungel, den Belag auf der Zunge,<br />

die solche Lugen auftischte, zu Hause, in der Schule, dem Priester


gegeniiber, allen anderen, aIlen, die nicht zur Gemeinschaft gehorten,<br />

da aB sie danach schon mal einen Apfel oder trank wenigstens<br />

Wasser und hatte andere, kompliziertere Masken und Verkleidungen.Jetzt<br />

halt mal still, sagte sie, ich halt schon stiIl, log ich und langte<br />

nach ihr, die Spitze ihrer verlogenen Zunge zuckte in meinem Ohr,<br />

wo es noch nachklang: opidda opiddum, puera pulchrum, ghetto<br />

ghettum, wiihrend die Erregung mich vom Lahmen aus dem Kupferstich,<br />

in dem die Zeit stillstand in ein Stuck lebendiges, vom Blut<br />

geschwollenes Fleisch verwandelte, gierig und zum Verzehr bereit.<br />

Siewar die Altere, spielte mit mir, lieB mich in ihr sein, lehrte mich<br />

schon damals, die Kriifte zu erfassen. die der Mensch mit der Zeit<br />

lieber selbst abschleift, urn die Psychiater nicht zu iiberlasten: Der<br />

kleine Junge lernte, wann und wo er die Kraft der Miidchen zu nutzen<br />

hatte, wann die Kinderkraft des Wortes »nein«, und wann es<br />

notig war, ein Krieger zu sein. Ais der kleine Junge nicht mehr so<br />

klein war, tanzte er schon nicht mehr nur nach ihrer Pfeife. Und da<br />

erst begann sie zu strahlen, da war sie schon zur Schonen Hiindin<br />

geworden und hatte einen Busen. Vorher hatten sie das Loch in der<br />

Erde gehabt, da lagen sie in EmbryosteIlung auf Decken und spurten<br />

die Bewegung der Erde. Dann gingen sie nach Hause in die<br />

Familien und lebten in den Kulissen.<br />

Wir schliefen zusammen, spiel ten, eigentlich lebten wir sogar<br />

zusammen, aber man muBte gegen eine solche Flut von Dreck und<br />

Nichtigkeiten kiimpfen, daB die Magie irgendwo unten blieb, sie<br />

strahlte in ihr wie Kohlenglut, und vielleicht auch in mir, kalter,<br />

wahrscheinlich wie Bernstein, und manchmal, wenn wir lange ailein<br />

waren, dann zeigte sich der Zauber, und an diesem Tag, als wir zu<br />

den Deutschen gingen, hab ich von neuem die rote Dunkelheit gesehen.<br />

Ich verteil hier Kekse wie so 'n Opa, und dabei miiBte man<br />

eigentlich die da driiben mal aufmischen, sagte Sinkule.<br />

Yon der Mauer, die den Eingang zur Botschaft verbarg, zerrten<br />

die Bullen einen hageren widerspenstigen Typen im Anzug runter,<br />

der hatte eine Abkiirzung nehmen woIlen, er widersetzte sich, da<br />

kriegte er was mit dem Schlagstock. Er stand wieder auf und gesellte<br />

sich fiigsam zu den Scharen anderer Deutscher, die geduldig vor<br />

der Botschaft von einem Bein aufs andere traten, bis sie an der Reihe<br />

waren. Es waren Tausende. <strong>Die</strong> Schlangen wanden sich durchs Zickzackgewirr<br />

der Gassen bis nach unten, auf den Platz, der schon<br />

liingst fUr den Verkehr gesperrt war.<br />

He, die komm' ja schon wieder, Sinkule schlug mir auf die Schulter.<br />

Ein Trupp von weiBen Helmen mit langen Schlagstocken fing<br />

an, inmitten der Menschenmenge Absperrgitter aufzustellen. <strong>Die</strong>jenigen<br />

Deutschen, die von der Botschaft abgeschnitten waren, wurden<br />

nervos, die Menge biiumte sich auf, wohl aus Panik, daBdas nun<br />

das Ende war und daB, was bisher so glatt iiber die Biihne gegangen<br />

war, wie ein Wunder, wie ein Traum, vorbei sein sollte, daB nun<br />

andere Saiten aufgezogen wiirden und daB die, die schon drin waren,<br />

rausdurften, aber die, die noch nicht dran gewesen waren, nicht<br />

mehr ... daB man nun bei der Selektion angelangt ware, du kriegst<br />

was, du nix, du ja und du nicht mehr, die Menge heulte auf und<br />

driickte sich gegen den Polizeikordon, die Miitter reichten ihre Kinder<br />

uber die Helme hinweg den Leuten auf der anderen Seite riiber,<br />

wer 'n Verwandte sein, dachte ich.<br />

Wenn so 'n Kind erst ma' drinne is, dann wer'n se wohl auch die<br />

Mutter reinlassen. Deswegen schicken se die Kurzen ruber, direkt<br />

iiber die Kopfe von den BuIlen. Ich frag mich bloB, ham Kinder<br />

denn 'n Perso? Wie will die Mutter sonst beweisen, daISes ihrs is?<br />

Los, haun wir ab.<br />

Kann doch sein, 'ne andre Frau will sich das Kind untern Nagel<br />

reilSen, damit se rauskommt. Wie entscheiden die das? Wie bei<br />

Judenking Schlomo?<br />

Los, wir verschwinden.<br />

Ach Quatsch, sagte Sinkule, hier is gleich wieder Ruhe. Den<br />

Bullen geht's ja gar nicht urn die Deutschen. Das hab ich schon<br />

geblickt. <strong>Die</strong> wer'n hier 'n bilSchen rumnerven, und dann ziehn se<br />

wieder ab. In Wirklichkeit woIln die nur uns zeigen, daB es sie<br />

auch noch gibt.<br />

Ich hab kein' Bock, was abzukriegen. Was gibt's hier schon zu<br />

gaffen.<br />

<strong>Die</strong> komm' nich bis zu uns her, bleib ruhig.<br />

Sinkule ging jeden Tag zur Botschaft hin, er gehorte zu denen, d;-}<br />

von diesem Exodus fasziniert waren.<br />

l<br />

Er kuckte mich an. Du siehst ja sowieso wie 'n Deutscher aus,<br />

dich wurden se eh in Ruhe lassen. Kannste Deutsch?<br />

No, nur so Hende hoch, los Svajne, Achtung, Minen, Arbajt


macht fraj, diesen ganzen Mull aus den Filmen. Und: majne Libe<br />

komen fiken, aber das hab ich noch nicht benutzt.<br />

Sinkule behielt recht, die Bullen zogen ab, und in die Menge, die<br />

die Botschaft umringte, kehrte wieder gespenstische Stille ein.<br />

Seh ich aus wie 'n Deutscher?<br />

Du? Beinah hatt ich laut losgeprustet. Na ja, Goebbels war<br />

schlieBlich auch Deutscher.<br />

Ich kann aber Deutsch, meine Mutter war Deutsche.<br />

<strong>Die</strong> sind wieder da.<br />

Auf diesem Stuck zwischen der westdeutschen und der amerikanischen<br />

Botschaft, wo mono ton die Kameras aller Fernsehsender der<br />

Weltvor sich hin surrten, umringt von einer Menschenmenge, fuhlten<br />

sich die Bullen offensichtlich nicht besonders wohl. Es schien<br />

sich bei diesen vier Typen urn Verstarkung vom Lande zu handeln.<br />

Ansonsten kamen die Bullen nicht von der engen Rychta-Gasse ins<br />

Gedrange. Wenn uberhaupt, dann nur in einer groBeren Gruppe.<br />

<strong>Die</strong> Deutschen waren still. <strong>Die</strong> vorne gingen langsam vorwarts,<br />

drangten sich den Hugel hoch, die anderen traten wenigstens auf der<br />

Stelle. Normalerweise hort man in einer Menschenmenge ein Rauschen,<br />

einzelne Gesprachsfetzen verflechten sich miteinander, es ist<br />

ein biBchen wie Wasser, man kann nach Wortern fischen. Aber die<br />

hier waren still, als ob sie sich entschieden hatten, erst dort wieder<br />

zu sprechen, hinter dem Tor. Plotzlich lachte jemand in der Menge<br />

laut auf. Dann fing ein Kind an zu weinen. Dann noch eins. Auf einmal<br />

war der Platz erfullt von Kindergeplarr, bis dahin war mir noch<br />

nicht der Gedanke gekommen, daB das genauso wie bei Hunden ist,<br />

einer fingt an, und die anderen machen gleich aile mit. Aber die Kinder<br />

weinten nicht wegen dieser Handvolliacherlicher tschechischer<br />

Bullen. Einige waren schon tagelang unterwegs, in uberfUllten<br />

Zugen, in Trabis und Wartburgs voll mit allem moglichen Gerumpel,<br />

auf der Reise raus aus dem Kafig, rein ins PARADIES.Einige<br />

waren wahrscheinlich hungrig, sie hat ten nicht genug geschlafen,<br />

spurten die Nervositat ihrer Eltern, die sie mude auf den Schultern<br />

schleppten, sie an der Hand den Hugel hinauf zur Botschaft zogen.<br />

Und das Lachen horte nicht auf, es war ein hohes, nervoses Frauenlachen,<br />

manchmal klang es wie der Klageruf eines Vogels irgendwo<br />

weit weg, der einen aus dem Schlaf schreckt, auf dem Land, im<br />

Wald, in der Nacht.<br />

<strong>Die</strong> Menschenmenge schob sich schwerfallig nach oben, und der<br />

untere Teil des Platzes wurde frei. Hier saBen hauptsachlich deutsche<br />

Jugendliche auf dem Boden. Sie tranken Tee, manche von ihnen<br />

hatten die kalte Nacht auf dem Platz verbracht, und sie sahen nicht<br />

so aus, als ob es ihnen noch auf eine Stunde mehr oder weniger ankame.<br />

Ein, zwei sahen sogar so aus, als ob es ihnen auf uberhaupt<br />

nichts mehr ankame. <strong>Die</strong> Bullen blieben bei ihnen stehen. Der Offizier<br />

hielt es nicht mehr aus, auf einmal schlug er einer alten Tschechin,<br />

die den Deutschen Tee einschenkte, die Thermoskanne aus der<br />

Hand. Wer hat Ihnen das erlaubt? schnauzte er sie an. <strong>Die</strong> Menge<br />

schwappte zuruck, und in Null Komma nichts stand die alte Dame<br />

ganz alleine da. Ich muBte ihren ruhigen Heldenmut angesichts dieses<br />

unappetitlichen Ergusses polizeilicher Willkur bewunrlern.<br />

Das is die olle Vohryzkova bei uns aus'm Haus, sagte Sinkule.<br />

Wenigstens wird se jetze mal aufhorn, sich wie Mutter Teresa vorzukomm',<br />

die alte Fotze.<br />

Besorg's ihr nur anstandig, du Stier, grolte er zum Bullen hin, und<br />

wir machten schleunigst 'n Abgang.<br />

Na, Gott sei Dank, daB die immer irgend so 'ne Landeier nach<br />

Prag schicken, anders gab's fur uns durch die Durchgange wohl kein<br />

Entrinnen mehr.<br />

Da bekreuzigte ich mich sicherheitshalber auch. Wir kamen beim<br />

Jesulein raus und rangen nach Luft.<br />

<strong>Die</strong> ham aber schon angefangen, welche von den Durchgangen<br />

zuzumachen, Sinkule, haste das gemerkt?<br />

Echt, Alter, das hat mir den Rest gegeben. Mein ganzes Stadtrattenleben<br />

bin ich da durchgeflitzt, und jetzt machen die ScheiBkerle<br />

vor meiner Nase dicht. Ich sag das jetzt nur zu dir, ich hau auch ab.<br />

Das sag ich zu dir, damit du aufpaBt, damit's sozusagen 'ne Kontrolle<br />

gibt, damit die mich nicht in irgend so'm Loch verschwinden<br />

lassen.<br />

Du haust ab? Ais Deutscher?<br />

Na und? Is doch 'n Kinderspiel, du bist doch selber Schauspieler,<br />

oder was?<br />

Du willst dich mit den Deutschen hier verpissen, im Ernst?<br />

Na, der Sule hat's auch gepackt, der is schon drin. Gestern isser<br />

durch, und jetzt isser da.<br />

Was soll'n der Blodsinn? Hier is doch auch bald Schlug!


Das weiBja eben keiner. <strong>Die</strong> Deutschen gehen zu den Deutschen,<br />

aber die hier bei uns lassen sich das Heft ja nicht aus der Hand nehmen.<br />

Ich weiBja nicht, aber wir konnten hier doch aile sterben. <strong>Die</strong><br />

KZs haben die schon Iiingst fur uns fertig. Konnten sie jedenfalls<br />

haben, das weiB doch jeder. Wir stehn auch auf der Liste. Jeder, der<br />

irgendwas macht, hat doch heute Muffen. Vielleicht geht's ja alles<br />

gut aus, und wir wer'n's mal vergessen haben, aber ich hab einfach<br />

kein' Bock mehr. Mir gehn einfach die Muffen, daB die noch zu<br />

schieBen anfangen. Und ubrigens warst du derjenige, der als erster<br />

von Panzern geredet hat.<br />

Ja, aber ich wart's hier ab, wie's zu Ende geht.<br />

Ja, aber das kann hier gut und gerne abgehn wie in China.<br />

Na, hor mal, wir sind doch in Europa!<br />

Ach nee, und wer sagt das?<br />

Also, du haust ab, ja?<br />

Ich hab mir das alles genau angekuckt, ich geh zusammen mit dem<br />

Majsner, hier is ja sowieso jeder zweite deutscher Abstammung. <strong>Die</strong><br />

kontrollieren absolut gar nix mehr, wenn doch, dann sag ich, die<br />

Papiere ham mir die Grenzer abgenommen, da is so 'n Chaos in der<br />

Botschaft, die stopfen die ganze Bagage nur noch in die Busse und<br />

liefern sie ab.<br />

Hat sich das Warten fur die Knodelfresser also doch noch gelohnt,<br />

nu quetschen sich die Deutschen schon yon selber in Autobusse und<br />

verpissen sich sonstwohin, verfickte Arschlocher!<br />

He, nu werd nich gleich hysterisch. Ich bin ja mit dem Majsner<br />

zusammen, wenn's bei einem irgendwelche Probleme gibt, macht<br />

der andere fix die Biege, aales is gutt, kein Grund zur Hysterie, ich<br />

schick dir Schokolade und komm auf'm weiBen Panzer zuruck. Du<br />

sollst nur aufpassen, daB wir gut da reinkommen.<br />

BeimJesulein hatte also alles angefangen. Wir sind zuruck auf den<br />

Platz und zur Botschaft hin. Sie muBten lange warten. Ich hab genau<br />

gesehen, wie sie dann durch sind.<br />

Und Glaser ist auch durch, vorher hatte er ein Jahr gesessen, sie<br />

haben ihn unterm Stacheldraht im Bohmerwald gepackt, er hatte<br />

einen ganzen Tag lang im Sand eingebuddelt gelegen, die Mucken<br />

fraBen ihn auf, er war kurz vorm Ersticken, aber raus kam er im<br />

falschenMoment, sie haben ihn dann stundenlang krumm geschlossen<br />

liegen lassen ... in der vollgeschissenen Zelle ... nun ging er<br />

durch, und am Tor spuckte er noch mal den Bullen an, die Deutschen<br />

griffen das gleich auf, und sobald sie einen Schritt hinter dem<br />

Tor waren, spuckten sie dieses bolschewistische Bullenschwein auch<br />

an, der sah nach einer Weile aus wie voll mit Sperma, und sein<br />

Schlagstock baumelte machtlos yom Gurtel, weil er Angst hatte ...<br />

und Glaser ging sich ihn ankucken ... dann konnt ich aber nicht<br />

mehr, das war auf einmal komisch, wie 'ne Story aus'm Krieg, wie<br />

ich hier der Grund war, daB Deutsche einen Tschechen anspucken,<br />

auch wenn das 'n kommunistischer Soldner war ... das war so<br />

komisch, daB ich beim ersten Schritt in die Freiheit nicht tief Luft<br />

geholt hab, sondern ausgespuckt, hat er mir spater erzahlt ... es gingen<br />

auch andere, groBtenteils gingen tatsachlich die, die in der Familie<br />

jemanden deutscher Herkunft hatten ... aber es ging auch der<br />

Dummbatz Novak, er ging einmal durch und kam gleich wieder<br />

zuruck ins U Schnellu, der war nur gegangen, weil's ihm gefallen hat,<br />

daB die Leute jetzt hin und her gehen konnten.<br />

Und damals, als dieser Kasper die ganze Kneipe vollgrolte, hab<br />

ich begriffen, daB es angefangen hatte ... die Bewegung, schon im<br />

Exodus der Deutschen hatte etwas yon Karneval gelegen, und der<br />

Karneval dauert bis heute an, seit den Tagen, als die Zeit explodiert<br />

ist.<br />

Ich ging mit Kleine WeiBe Hundin durch diese Gassen, manchmal<br />

hielten wir Handchen.<br />

Der Exodus ging weiter, da und dort wurden diejenigen Deutschen,<br />

die neu dazukamen, yon Panik erfaBt, daB die Tschechen den<br />

Abmarsch stoppen wurden ... daB auf den Dachern Maschinengewehre<br />

stehen .. , daB die Stasi sich in den Stragen yon Prag rumtreibt<br />

und zusammen mit der StB Deutsche und auch Tschechen<br />

abgreift ... daB die StB einen Zornesausbruch des tschechischen<br />

Volkes gegen die Verrater des Kommunismus organisiert, genau wie<br />

die Gestapo den Zornesausbruch des deutschen Volkes gegen die<br />

Reichsschadlinge organisiert hatte ... die Deutschen, die durch die<br />

StraBen und uber den Platz zogen, und die Tschechen, die sie von<br />

den Fenstern und den Pawlatschen aus beobachtetcn und sic auf den<br />

Burgersteigen umringten und schweigend diese Flucht aus dem<br />

Kommunismus verfolgten und selbst keinen Ort hatten, wo sie hatten<br />

hingehen konnen, weil dieses Land ihr einzigcs Land war ... sic<br />

halfen den Deutschen, oder sie klautcn ihnen die Haare vom Kopf,


diese Tschechen und Deutschen wuBten aile sehr gut, daB jemand<br />

noch die Moglichkeit hatte, das Ganze zu stoppen, sie wuBten, welche<br />

Kraft sie voneinander trennen, von dieser stummen Beruhrung<br />

abhalten konnte und andererseits auch wieder nicht unbedingt<br />

muBte ... wenn die StraBe voll mit Menschen war, schleppte sich die<br />

Menge langsam und schwerfiillig vorwarts, langhaarige junge Deutsche<br />

in ihren Cliquen, Jungs und Madchen handchenhaltend,<br />

manchmal, so wie ich und Hundin, aber die hier gingen woandershin<br />

... alte Frauen mit Einkaufstaschen, Eltern mit ihren kleinen<br />

Kindern, die hielten Teddybaren oder Puppen im Arm ... war aber<br />

auf der StraBe Platz, und die Leute waren nur in kleinen Gruppchen<br />

unterwegs, dann gelangten von hinten, vielleicht aus der ganzen<br />

Stadt oder vielleicht durch besondere Vibrationen von den Prager<br />

Bahnhofen oder sogar von den Haushalten in Dresden, Karl-Marx-<br />

Stadt, aus Gera oder Zwickau, aus den Dorfern und Kleinstadten<br />

an der Grenze gelangten alarmierende Meldungen zu ihnen durch ...<br />

aus den Haushalten, wo noch eilig die letzten Sachen zusammengepackt<br />

wurden, der Schmuck ... sie packten zu essen ein und anzuziehen<br />

und kuckten zum hundertstenmal nach, ob der PaB dabei<br />

war,und machten sich auf die Flucht, denn hier nahm man ReiBaus<br />

vor dem GROSSENBRUDER,der gerade ein Sekundchen eingenickt<br />

zu sein schien, wahrscheinlich nach einer groBeren Dosis eines blutigen<br />

Schlaftrunks, nachdem man wieder mal jemand erschossen<br />

hatte, umgebracht, er blieb da liegen ... an der MAUER... <strong>Die</strong> U nbekannten.<br />

Aber die BESTIEkann jederzeit aufwachen, erfrischt und<br />

Fertig zum Abstrafen ... da und dort verbreitete sich unter den<br />

Deutschen die Nachricht, daB schon SchluB ist, daB sie schon zu spat<br />

kommen, alles umsonst, wir tappen in die Faile ... und die Gruppchen<br />

beschleunigten ihr Tempo, auf den letzten hundert, zwanzig,<br />

zehn Metern fielen einige sogar noch in Trab, und darin lag schon<br />

ein Triumph, es war ein Spiel ... sie lieBen in den StraBen der Kleinseite<br />

alles liegen, was zu schwer war, Taschen, Koffer, die Decken, in<br />

die sie sich in der Nacht gemummelt hatten, als die Botschaft uberfullt<br />

war, Luftmatratzen, Propangasflaschen aus ihren Trabis, sie<br />

lieBen so viel Zeug zuruck, das sie im Westen ihrer Traume nicht<br />

brauchen wurden ... auf der StraBe lagen vergessene und ausgesetzte<br />

Spielsachen, ein Teddy mit verdrehtem Kopf und kahle Babypuppen,<br />

die aus dem bolschewistischen Karpfenteich DDR ausge-.<br />

stoBen worden waren, auf den harten pflastersteinen Prags gestrandet,<br />

im Durcheinander und der Eile verloren, bestimmt waren sie<br />

schon langst von der Barbie-Hure mit ihrem seidigen Haar ersetzt<br />

worden ... ich sah sogar eine Bratpfanne und einen Schulranzen, der<br />

Platz, von dem die StraBe zur Botschaft fuhrte, war voll mit deutschen<br />

Autos, ein Trabant mit einer Bettdecke auf dem Dach lag<br />

umgekippt auf der Seite ...<br />

sie ziehen ziehen<br />

die umgehangten pfannen schlagen an die Seiten hin<br />

der Kinderwagen mit dem Deckbett schiebt sich nur mit Muhen<br />

Feuerkreuze am Firmament<br />

der Tranen Salz veratzt die Tage<br />

und niemand niemand kennt<br />

den Weg. <strong>Die</strong> Zukunft, sie ist vage,<br />

sagte sie.<br />

Na, so dramatisch ist es nun auch wieder nicht.<br />

Das hat Hanus Bonn geschrieben, sagte Kleine WeiBe Hundin.<br />

Allerdings gehen diese DDR-Schweinebacken ja nicht ins Gas.<br />

No, aber ins Ungewisse, die sind auf der Flucht, kuck mal, die<br />

zwei Alten, wie die sich helfen, da druben.<br />

Na eben.<br />

Na eben - was? DaB das jetzt Ilse Koch is, oder was? Und der<br />

Opa da is dann Mengele?<br />

Ich weiB ja, daB es Blodsinn ist, sagte Hundin. Aber ich scheiB<br />

halt auf die Deutschen. Heut fruh am Bahnhof hab ich ihnen geholfen,<br />

aber ich scheiB auf die. Ich scheiB auf die deutsche Sprache. Wie<br />

mein GroBvater zuruckkam, hat er noch 40 Kilo gewogen. Das hat<br />

dann nicht mehr lang gedauert. Und Hanus Bonn war ein Freund<br />

von unserer Familie. Ferne Stimme von ihm haben wir mit Widmung.<br />

Wahrscheinlich sind die Kommunisten dran schuld, weil sie<br />

uns mit diesen ganzen bekackten Filmen zugemullt haben, eigentlich<br />

hab ich ja selber nie mit'm Deutschen geredet.<br />

Aber heute doch.<br />

Tja. <strong>Die</strong> Taxifahrer, weiBte, die einen fahrn sie gratis, die anderen<br />

nehmen sie tierisch aus.<br />

Manche unterstutzen sie eben, so wie du, andre raumen ihnen die<br />

Autos aus.<br />

Is eben die alte Geschichte mit dem Stamm der echten Menschen,


was wir immer gesagt haben, als wir klein waren ... Hiindin machte<br />

ihren Mund breit auf und streckte ihre Zunge raus ... wenn<br />

irgendwas passiert, dann erkennen sich die Leute, die vom selben<br />

Stamm sind. 1m Augenblick der Bedrohung dividieren sich die<br />

Leute auseinander.<br />

Bis es soweit ist, benehmen sich manche aber ganz schon sauisch.<br />

Tja, erlaubt ist alles, bis zu dem bestimmten Moment, wo's urn<br />

was geht.<br />

Aha, und worum geht's, Hiindin?<br />

Keine Ahnung, Gott wahrscheinlich, oder 's geht urn alles.<br />

BloB,daB die Menschen mit ihrem Wahnsinnsverhalten das Bose<br />

geradezu heraufbeschworen.<br />

Das weiBt du nicht, es gibt verschiedene Wege, und jeder muB fiir<br />

sich entscheiden.<br />

Also unser Vertrag?<br />

Der Vertrag gilt.<br />

Sinkule glaubt, die stecken aile in den Knast.<br />

Der Vertrag gilt, auch wenn wir keine Angst haben.<br />

Davor, daB sie Maschinengewehre auf den Dachern haben? Da<br />

werd ichfurt vor Angst haben.<br />

Fortwahrend. Schon irre, wie die deutschen Worter in unsrer<br />

Sprache stecken. Trinken wir jetzt wo noch was, oder nicht?<br />

Aber erst mal gehn wir noch wo rein.<br />

Is gut, sagte Hiindin und stieB die halboffene Tiir von einem Haus<br />

mit einem Lowen als Hauszeichen auf, kuck mal, wie war's denn<br />

hier?<br />

ier roch es nach Holz, von woanders waren wir den Gestank<br />

der Plumpsklos gewohnt, aber wir hatten uns die Keller ausgesucht,<br />

weil wir Sehnsucht nach unserem Loch in der Erde hatten,<br />

wo sie meine Lehrerin gewesen war und wo die Welt zum erstenmal<br />

wirklich gewesen war und wo unser beider Korper, von denen<br />

wir jeden einzelnen Zentimeter kannten, zusammen groBer wurden<br />

... in diesen Kellern war auch die Zeit noch unversehrt und<br />

komprimiert bewahrt, in den Ecken, unterm Gewolbe, in unseren<br />

Kellerschlupfwinkeln, sie war auch in den Spinnweben, dem zarten<br />

Hochzeitskleid auf diesem Beilager. Oft sickerte das Grundwasser<br />

von unten durch, es war manchmal so alt wie die Zeit<br />

selbst, die Zeit hatte stets einen schweren Duft, sie stillte unseren<br />

iibergroBen Durst. Ich hielt Kleine WeiBeHiindin auf mir, oder sie<br />

setzte sich auf irgendeinen Mauervorsprung und machte die Beine<br />

breit, allmahlich kam in diese Verknotung von Mannchen und<br />

Weibchen, in diese Bewegung, in das StoBen, ein Rhythmus, und<br />

es erschien die rote Dunkelheit und in ihr Bild~r. Wir brachten die<br />

Zeit urn uns herum in Schwung, sie wirbelte und sprach zu mir.<br />

Manchmal fliisterte mir Hiindin ins Ohr, heute redete sie von<br />

Angst, immer, wenn die Freundin mit ihren Fingernageln an meiner<br />

Hiifte nach unten fuhr und meine Haut aufriB, war es, als ob<br />

Blitze durch die rote Dunkelheit unter meinen Lidern fuhren. Ich<br />

harte ihre Stimme nicht, es war, als ob die Laute in der roten Dunkelheit<br />

Buchstaben hervorbrachten, aber das war nur die Vorstellung<br />

von Lauten und Buchstaben, ihr Sprechen halite einfach in<br />

meinem Hirn, die Sprache meiner Spielgefahrtin war jetzt die<br />

Sprache der Angst, der Angst, die Kraft zu verlieren, sie entzog<br />

sich uns schon, denn die Stadt stellte ihr die Kraft der Angst aller<br />

anderen entgegen, die Angst der Menge, das ist sauer, harte ich<br />

den Widerhall des Gehirns von Hiindin. Wir wuBten sehr wohl,<br />

daB die Zeit auch oben f1oB, aber wir hatten schon die Kraft nicht<br />

mehr, dort hinzugelangen ... iiber die Dacher, auf denen Maschinengewehre<br />

stehen konnten ... nicht unbedingt muBten ... aber<br />

urn die ging es gar nicht so sehr, da gab es auch Vogelnester, wo<br />

pestkranke Taubenmutationen geboren wurden, Nester, aus denen<br />

die kleinen Piepmatze rausfielen, nur mehr Degenerationen von<br />

Vogeln, vollgepumpt mit Chemie, wenn sie das erste Mal zu fliegen<br />

versuchten, plumps ten sie schutzlos aufs Pflaster, ohne daB<br />

sich eine weiche Hand zwischen sie und die Welt geschoben hatte,<br />

und zu horen war kein Vogelschreien, sondern der heisere Laut<br />

einer neuen Kreatur, der kleinen MiBgeburt der Pest, keiner hat's<br />

gehort, nur vielleicht der ALTEBOG, und diese Geschopfe wurden<br />

nur fiir ein Leben in Angst und ohne Hoffnung geboren, und das<br />

wuBten sie nicht einmal, aber ich wuBte es, und deswegen konnte<br />

ich nicht nach da oben.<br />

Verloren haben wir die Kraft auch, weil das Reich der Grausamkeit<br />

in den leuchtendsten Farben strahlte, wie der Himmel, wenn die<br />

Dammerung zum Feuer wird und voll ist von Nachtdamonen, die<br />

piinktlich mit dem ersten Glockenschlag der Nacht die Stadt betreten.

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