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Tro§zdem Nr. 43, November2010 - Justizvollzugsanstalt Oldenburg ...

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§ RECHT & SOZIALES<br />

politische Tagesgeschehen und politische<br />

Geschehen überhaupt, und ganz besonders,<br />

wenn es die geschaffene delinquentenfeindliche<br />

Atmosphäre der Republik<br />

betrifft. Das Lieblingsthema der Boulevardmedien<br />

sind Sexualstraftäter, Gewalttäter<br />

und rückfällige Straftäter, denn<br />

sie bringen Schlagzeilen und Einschaltquoten.<br />

Dafür, dass von der Politik die<br />

Hetze mitbetrieben wird, halten die Medien<br />

im Gegenzug den gewillten Politikern<br />

lange die Stange.<br />

Ebenso beklagte der Ex-<br />

Für Justiz und Politik bedeutet das<br />

Straßburger Urteil eine Blamage<br />

sonder Gleichen.<br />

Verfassungsrichter Hassemer bei der<br />

Vorstellung des Grundrechtsreports,<br />

wenige Tage vor dem 60. Geburtstag des<br />

Grundgesetzes, die enorme Zunahme<br />

von Kontrollbedürfnissen und einen<br />

Trend zu mehr Sicherheit auf Kosten der<br />

Freiheit. Er sprach davon, dass ein<br />

„Grundrecht auf mehr Sicherheit propagiert,<br />

in Wahrheit als Geisterfahrer in die<br />

falsche Richtung unterwegs sei“ und<br />

erinnerte daran, dass Grundrechte ursprünglich<br />

als Abwehrrechte gegen einen<br />

starken Staat konzipiert worden seien.<br />

Die Politik nicht ständig über Eingriffe<br />

in Grundrechte nachdenken solle.<br />

Seit Ende August zeigt sich die Regierung<br />

nach heftiger Streiterei einig und<br />

präsentiert eine angeblich gerichtsfeste<br />

Lösung. So sollen die Altfälle der Sicherungsverwahrten<br />

nicht aus der Haft entlassen<br />

werden, obwohl sie nach dem<br />

Straßburger Urteil einen Anspruch darauf<br />

haben, sondern es soll erst festgestellt<br />

werden, ob es sich bei ihnen nicht<br />

um psychisch gestörte Gewalttäter handelt.<br />

Zum einen heißt das, dass davon<br />

nur einige der Altfälle betroffen sind,<br />

zum anderen von den bereits entlassenen<br />

Sicherungsverwahrten mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

keiner wieder inhaftiert<br />

wird.<br />

Bei den eventuell Verbleibenden<br />

dürfte es schwierig werden, sie weiterhin<br />

in Haft zu halten, denn wenn sie geisteskrank<br />

wären, hätten sie ja nicht in einem<br />

Gefängnis sondern in einem Landeskrankenhaus<br />

untergebracht werden müssen.<br />

Selbst für gewillte Gutachter dürfte es<br />

schwierig werden eine plötzliche Geisteskrankheit<br />

zu diagnostizieren, denn das<br />

würde bedeuten, dass alle bisher erstellten<br />

Gutachten und eventuell auch die<br />

Urteile falsch waren und die Willkür<br />

weiteren Platz einnimmt. Auch wenn es<br />

verwundern mag, aber diese Diskrepanz<br />

bei Gutachten taucht gerade im Maßregelvollzug<br />

immer wieder auf. Das dürfte<br />

eigentlich nur in Diktaturen funktionieren<br />

aber nicht in einem Rechtsstaat!<br />

Bei einer bundesweiten Studie über<br />

den Maßregelvollzug, die der forensische<br />

Psychiater Norbert Leygraf aus Essen<br />

vor zwanzig Jahren erarbeitet hatte, erfuhr<br />

er, dass es zu groteskem Einschätzungswandel<br />

kommen kann, was die<br />

Gefährlichkeit von Insassen betrifft. In<br />

einer der untersuchten Anstalten mussten<br />

20 Männer entlassen werden, weil die<br />

Einrichtung aufgrund von Baumaßnahmen<br />

für sie keinen Platz mehr hatte. So<br />

lösten sich all die schlechten Prognosen,<br />

der über jahrelang zu gefährlichen eingestuften<br />

Patienten, plötzlich in Luft auf.<br />

Nicht einer von ihnen, die in Wohnheimen<br />

oder auf Bewährung entlassen wurden,<br />

ja keiner, wurde wieder rückfällig!<br />

Anzumerken ist, dass diese Leute behandelt<br />

wurden, was beim überwiegenden<br />

Teil der Straftäter in den Bundesländern<br />

nicht der Fall ist.<br />

Anstatt auf Daten und Fakten aus der<br />

juristischen und kriminologischen Fachwelt<br />

zurückzugreifen, betreiben Politiker<br />

vereint mit den Boulevardmedien lieber<br />

eine Hetzjagd auf soeben entlassene Sicherungsverwahrte<br />

und versetzen das<br />

Volk in Angst und Schrecken. Die Fachwelt<br />

fordert seit Jahren eine Versachlichung<br />

und mahnt zur Unaufgeregtheit.<br />

Der Kriminologe und Rechtssoziologe<br />

Professor a. D. Feest von der Universität<br />

Bremen und der Professor für Kriminologie<br />

und Polizeiwissenschaft Feltes von<br />

der Uni Bochum, um zwei zu nennen,<br />

prognostizieren, dass die Gefährlichkeit<br />

dieser Leute extrem überschätzt wird.<br />

Sie gehen davon aus, dass 9 von 10 Sicherungsverwahrten<br />

unnötig inhaftiert<br />

waren, weil sie gar nicht rückfällig geworden<br />

wären und Professor Feltes belegt<br />

dies anhand einer Untersuchung, die<br />

an seinem Lehrstuhl betrieben wurde.<br />

Bei den Untersuchten handelt es sich um<br />

Straftäter, die aufgrund ihrer durch Sachverständigengutachten<br />

festgestellten<br />

Gefährlichkeit in die nachträgliche Sicherungsverwahrung<br />

geschickt werden<br />

sollten. Aus rechtlichen Gründen – im<br />

Politiker Deutsch handelt es sich dabei<br />

um eine noch nicht geschlossene Lücke -<br />

lehnten die Gerichte die vorsorgliche<br />

Inhaftierung ab. Fünf Prozent der Untersuchten<br />

wurden wegen einer Gewalttat,<br />

die eventuell eine vorsorgliche Inhaftierung<br />

gerechtfertigt hätte, rechtskräftig<br />

verurteilt. Viele Fachleute sind sogar für<br />

die Abschaffung der Sicherungsverwahrung,<br />

weil dann endlich während der<br />

Haftzeit mit den Tätern gearbeitet werden<br />

müsste. In fast allen Anstalten der<br />

Bundesländer befinden sich die Täter im<br />

so genannten Verwahrvollzug anstatt im<br />

Der Knast nach dem Knast wird in<br />

naher Zukunft Geschichte sein.<br />

Behandlungsvollzug, der für diese Tätergruppe<br />

dringend erforderlich ist. Leider<br />

erweist sich die Politik seit Jahren gegenüber<br />

dem Wissen und der Beratung<br />

der juristisch und kriminologisch kompetenten<br />

Fachwelt als resistent. Das Straßburger<br />

Urteil sorgt nun immerhin dafür,<br />

dass zukünftig die Sicherungsverwahrten<br />

nach ihrer Haft in einem Heim, oder wie<br />

sie es auch immer nennen, zur Behandlung<br />

untergebracht werden.<br />

52 Tr§tzdem 11/2010 www.jva-oldenburg.de

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