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Tro§zdem Nr. 43, November2010 - Justizvollzugsanstalt Oldenburg ...

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§ RECHT & SOZIALES<br />

Wie trifft mein Gehirn die richtigen Entscheidungen?<br />

PSYCHOLOGIE: Was ist wichtiger - das Gesetz zu achten oder seinem Gewissen zu folgen? Was ist verwerflicher<br />

- zu stehlen oder zu betrügen? Das Leben stellt uns immer wieder vor schwierige Entscheidungen. Aber<br />

wie handle ich, wenn es keine perfekte Lösung gibt? Und: Wie manipulierbar ist mein Ich wirklich? Mit psychologischen<br />

Studien versuchen Forscher zu entschlüsseln, wie wir uns entscheiden und warum.<br />

S<br />

tellen Sie sich einmal folgende Situation vor: Ein Waggon<br />

rast völlig außer Kontrolle auf fünf Gleisarbeiter zu.<br />

Sie selbst stehen an der Weiche und sehen den führerlosen<br />

Waggon heranrauschen. Wenn Sie die Weiche umstellen,<br />

können Sie das Leben der fünf Männer retten. Einziger Haken:<br />

Wenn der Waggon aufs andere Gleis abbiegt, überfährt er einen<br />

anderen Gleisarbeiter. Allerdings nur einen Einzigen. Was würden<br />

Sie tun? Doch bevor Sie antworten, sollten Sie noch eine<br />

zweite Frage durchdenken. Wieder haben wir es mit dem führerlosen<br />

Waggon zu tun, und wieder rast er auf die Weiche und<br />

die fünf Gleisarbeiter zu. Diesmal stehen Sie aber nicht an der<br />

Weiche, sondern auf einer Brücke. Sie suchen nach etwas, das<br />

Sie von oben auf die Bahngleise herunterwerfen können, um<br />

den Waggon aufzuhalten. Das Einzige in Ihrer Nähe, das<br />

schwer genug ist, ist ein großer, dicker Mann, der neben Ihnen<br />

auf der Brücke steht. Das Geländer ist nicht hoch. Alles was Sie<br />

tun müssen, ist, den Mann kräftig von hinten zu schubsen. Sein<br />

Körper würde den heranrasenden Eisenbahnwaggon aufhalten,<br />

die fünf Gleisarbeiter wären gerettet. Würden Sie es tun?<br />

Gibt es ein Zentrum für Moral in unserem Kopf?<br />

Mit diesem und anderen Dilemmata konfrontierte der Psychologe<br />

Marc Hauser von der Harvard University in Boston bislang<br />

mehr als 300.000 Versuchsteilnehmer. Er stellte seinen Test ins<br />

Internet und ließ Menschen entscheiden, was sie im Falle des<br />

ungesicherten Waggons tun würden. Doch Hauser fragte nicht<br />

nur Internet-Surfer. Er stellte seine Testfragen in den USA und<br />

in China, und er testete sogar Nomadenvölker. Er fragte Kinder<br />

und Erwachsene, Gläubige und Ungläubige, Frauen und Männer.<br />

Das überraschende Ergebnis: Die Antworten waren fast<br />

immer gleich - unabhängig von Religion, Alter, Geschlecht und<br />

Herkunftsland. Fast jeder würde die Weiche umstellen und den<br />

Tod von einem einzigen Mann in Kauf nehmen, um das Leben<br />

von fünf Männern zu retten. Aber: Nur jeder Sechste würde den<br />

dicken Mann von der Brücke schubsen, um das Leben der fünf<br />

Männer zu retten.<br />

Ist das logisch? Eigentlich nicht. Ob ich die Weiche umstelle<br />

oder den Mann von der Brücke stoße - das Ergebnis ist in beiden<br />

Fällen das gleiche. Ein Mann stirbt und fünf werden dadurch<br />

gerettet.,, Von der Bilanz der Toten und Überlebenden<br />

her gesehen, gibt es tatsächlich keinen Unterschied“, sagt Hauser.<br />

„ Psychologisch ist es aber erheblich, ob ich direkt oder ob<br />

ich indirekt für den Tod von Menschen verantwortlich bin. Einmal<br />

habe ich das Gefühl, einen Mord zu begehen, selbst wenn<br />

ich damit das Leben anderer Menschen rette, im anderen Fall ist<br />

es eher das Gefühl, Schicksal zu spielen.“ Doch Hauser erkennt<br />

bei der Testauswertung noch mehr: Wenn die meisten Menschen<br />

in derselben Situation die Lage moralisch ähnlich beurteilen<br />

und sich gleich entscheiden - ist das nicht ein Beweis dafür,<br />

dass es eine kulturübergreifende, allgemeine moralische Veranlagung<br />

in jedem von uns gibt?<br />

Der Neurologe António Damásio konnte tatsächlich eine Region<br />

im Gehirn ausmachen, in der diese allen gemeinsame Moral<br />

verortet ist - den ventromedialen präfrontalen Cortex des Stirnlappens.<br />

Diese Gehirnregion ist ungefähr pflaumengroß und<br />

befindet sich hinter unserem rechten Auge. „Wir nehmen an,<br />

dass sie die Rolle eines Mittelsmanns übernimmt, indem sie<br />

Gefühle, die im limbischen System entstehen, mit unseren rationalen<br />

Abwägungen verschaltet“, sagt Damásio. Während unser<br />

Verstand zum Beispiel sehr schnell zu der logischen Entscheidung<br />

käme, den dicken Mann von der Brücke zu werfen, um die<br />

fünf Gleisarbeiter zu retten, wehrt sich unser Gefühl gegen eine<br />

solche Tat. „Hier kommt nun unser ventromedialer präfrontaler<br />

Cortex zum Einsatz und sucht nach einem akzeptablen Kompromiss“,<br />

sagt Damásio. Um sicher zu gehen, untersuchten<br />

Hauser und Damásio Patienten mit Schäden in der verantwortlichen<br />

Region des Stirnlappens. Alle Teilnehmer hätten ohne<br />

Zögern den dicken Mann von der Brücke gestoßen. Ein anatomischer<br />

Defekt in dieser Region führt zu einer Art moralischen<br />

Blindheit, ähnlich wie ein Augenfehler die Wahrnehmung trübt.<br />

Das bestätigten auch Forscher der Georgetown University in<br />

Washington. Bei ihren Experimenten mit Strafgefangenen<br />

stießen sie überdurchschnittlich häufig auf Durchblutungsstörungen<br />

im Stirnlappen und auf ein deutlich verkleinertes<br />

„Moralzentrum“. Auslöser der Schädigungen können physischer,<br />

aber auch psychischer Natur sein. So betont der Magdeburger<br />

Psychiater Bernhard Bogerts, dass nicht nur Unfallverletzungen<br />

oder Tumore bestimmte Hirnleitungen reduzieren,<br />

sondern auch frühkindliche Erfahrungen. „Unser Gehirn verkümmert,<br />

wenn wir im Kindesalter permanent grausam und<br />

lieblos behandelt werden“, sagt Bogerts.<br />

Können Sie sich auf Ihren Moralinstinkt verlassen?<br />

Vertraut man den Tests, wird jeder Mensch mit einem Sinn für<br />

Gut und Böse geboren - einem jahrtausende alten Moralinstinkt,<br />

der verborgen in der ventromedialen Region liegt. Hier sind<br />

quasi die angeborenen Universalgesetze der Moral angesiedelt.<br />

Nicht allein Religionen und Rechtssysteme, nicht allein Eltern<br />

und Lehrer bringen einem Menschen demnach Sitte und Anstand<br />

bei, er kommt schon mit einem Gespür dafür auf die Welt.<br />

„Deshalb können wir meist, ohne groß zu überlegen, sagen, ob<br />

eine Handlung gut oder schlecht ist“, sagt Marc Hauser - und<br />

werden mit Schuldgefühlen bestraft, wenn wir gegen Gesetze<br />

verstoßen. Manchmal tragen wir den Rest unseres Lebens an<br />

dieser Schuld. Manchmal fühlen Menschen sich aber auch erstaunlich<br />

unschuldig.<br />

Es gibt zwar übergeordnete, allgemein verbindliche Moralgesetze“,<br />

so die Jenaer Sozialpsychologin Amélie Mummendey.<br />

„Doch sie lassen sich ganz einfach aushebeln, indem uns jemand<br />

aktiv die Verantwortung abnimmt. Der Entzug der Verantwortung<br />

und die Autoritätsgläubigkeit sind Schwach-Punkte<br />

unseres Gehirns. So kann jegliche Moralvorstellung ausgelöscht<br />

werden.“ Im Grunde scheint das Gehirn sogar froh zu sein,<br />

wenn ihm die Last schwerwiegender moralischer Entscheidungen<br />

abgenommen wird. Dann sind wir nicht mehr verantwortlich<br />

für das, was wir tun. Wir sind nur noch Teil einer Gemeinschaft<br />

- und wenn diese Gruppe Gewalt zum Ziel erklärt, erwacht<br />

die Bestie im Mensch. Zumindest in vielen von uns.<br />

Text:C. Bahr; Quelle: Weit der Wunder Heft 8/10<br />

42 Tr§tzdem 11/2010 www.jva-oldenburg.de

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