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Vortrag Prof. Peter Bünder (pdf, 104 KB)

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<strong>Prof</strong>. Dr. <strong>Peter</strong> <strong>Bünder</strong><br />

<strong>Vortrag</strong> anlässlich des 21. Forum für Pflege und Erziehung in der Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie; 27.-29.03.2006 in Viersen:<br />

Zurück zur Gehorsamkeitserziehung?<br />

Videoberatung im Spannungsfeld zwischen Super Nanny, Supermamas<br />

und Marte Meo<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

liebe Kolleginnen und Kollegen !<br />

Ich danke Herrn Kuchenbecker herzlich für die freundliche Einladung zur Teilnahme<br />

an dieser Tagung.<br />

Als ich mich daran setzte, diesen <strong>Vortrag</strong> zu erstellen, habe ich versucht, mich zu<br />

erinnern, was in meinem Kopf vorging, als ich diese Themenstellung so annahm.<br />

Ich bemerkte schnell, dass mein <strong>Vortrag</strong> drei große Aspekte umfasst, von dem jeder<br />

einzelne für einen <strong>Vortrag</strong> ausreichen würde. Da ist zum ersten die Thematik<br />

„Konfrontative Pädagogik“ (nachfolgend: »KP«), über die ja mit dieser Tagung zu<br />

einem kritischen Diskurs eingeladen ist. Es folgt zum zweiten der Bezug auf eine<br />

neue mediale Welle über Erziehungsfragen mit der Gestalt der „Super Nanny“, zu der<br />

ganz viel zu sagen wäre. Und schließlich drittens die neueren Formen einer<br />

ressourcenorientierten Videoberatung für Familien, speziell der Marte Meo-Methode,<br />

deren Arbeit durch die Videos eine besondere Transparenz erhält. Marte Meo<br />

bedeutet sinngemäß „etwas aus eigener Kraft“ erreichen und ist eine<br />

entwicklungsunterstützende kommunikative Methode, die von der Holländerin Maria<br />

Aarts entwickelt wurde.<br />

Nun stehen mir ganze 45 Minuten zur Verfügung, was erforderlich macht, klare<br />

Eingrenzungen vorzunehmen. Um nicht den Gesamtzusammenhang zu verlieren,<br />

möchte ich dennoch kurz zu allen drei Aspekten argumentieren. Um für Sie<br />

hoffentlich verständlich bleiben, habe ich mich daher für den folgenden Aufbau<br />

entschieden.<br />

Ich möchte in einem 1. Teil aus meiner erziehungswissenschaftlichen Sicht ein wenig<br />

zu den Grundlagen der »KP« ausführen.<br />

Als zweites möchte ich kurz darstellen und mit Videobildern zeigen, welche<br />

Verbindung dabei die Super Nanny scheinbar mit »KP« hat und wie dies<br />

pädagogisch eingeschätzt werden kann.<br />

Als drittes möchte ich Ihnen in den letzten Minuten ebenfalls knapp anhand einiger<br />

Videosequenzen vorstellen, wie nach der Marte Meo-Methode gearbeitet wird und<br />

wie hier eine ressourcenorientierte Entwicklungsförderung von Kindern und Eltern im<br />

Alltag möglich sein kann, die auf eine völlig andere Art und Weise konfrontiert.<br />

1


Zu 1)<br />

Es würde den Rahmen meiner eingeräumten Zeit sprengen, wollte ich intensiv auf<br />

die vielzähligen Aspekte »KP« eingehen, die maßgeblich von <strong>Prof</strong>. Jens Weidner von<br />

der Fachhochschule in Hamburg vertreten wird.<br />

Ich belasse es dabei, einige Fragen aufzuwerfen bzw. einige Aspekte zu<br />

hinterfragen. Im Folgenden beziehe ich mich dabei nur auf seine (Mit)Publikationen<br />

„Glen Mills Schools“ von 2001 und „Konfrontative Pädagogik“ aus dem Jahr 2004.<br />

Es stellt sich als erstes die Frage, um wen und was es genau geht: Weidner führt<br />

zum einen aus, dass »KP« nichts wirklich Neues ist.“ (2001; 7). Er spricht von »KP«<br />

oder „präziser formuliert: der konfrontativen Methodik in der Pädagogik.“ (2001; 7).<br />

Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht sind dies aber zwei unterschiedliche<br />

Dimensionen. Geht es um den Anspruch einer in sich konsistenten Pädagogik oder<br />

nur um die Methodik innerhalb von Pädagogik?? Ich komme darauf zurück.<br />

Nach Weidner (2004; 11) begreift sich »KP« als sozialpädagogische ultima ratio im<br />

Umgang mit Mehrfachauffälligen.“ Was sind „Mehrfachauffällige“, an welche<br />

Adressaten soll sich diese »KP« richten? Bei Weidner (2004; 19) heißt es dazu:<br />

„Beim Anti-Aggressions-Training und Coolness-Training handelt es sich um deliktund<br />

defizitspezifische Behandlungsmaßnahmen für gewaltbereite Mehrfachtäter.“ Ich<br />

kürze im Folgenden diese Begriffe mit AAT für Anti-Aggressions-Training und CT für<br />

Coolness-Training ab. An anderen Stellen finden wir synonym die Begriffe<br />

„aggressive Wiederholungstäter“ (2001) oder „Intensivstraftäter“.<br />

Es ist in der Fachwelt unstrittig, dass es diese gewaltbereiten jungen Menschen gibt<br />

und dass sie gesellschaftlich viele Probleme bereiten. In den kriminalpolizeilichen<br />

Statistiken machen sie – je nach Zuschnitt der Kategorien – aber nur 5 bis 8 Prozent<br />

der Tatverdächtigen aus.<br />

Sind es diese jungen Menschen und der gesellschaftliche Umgang mit ihnen, die Sie<br />

hier drei Tage beschäftigen wird?<br />

Wieso die Hervorhebung einer sehr kleinen Anzahl von gewaltbereiten<br />

Tatverdächtigen bzw. Delinquenten? Dies hat damit zu tun, weil die Grundzüge<br />

dieser konfrontativen Methodik in der Jugendstrafanstalt Hameln, dort zuerst AAT<br />

genannt, entwickelt wurde. Mit Goffman nenne ich eine Jugendstrafanstalt eine<br />

„totale Institution“ mit allen Implikationen, die dies für eine professionelle Tätigkeit<br />

dort hat.<br />

Nun sind Totale Institutionen, speziell Gefängnisse, weder therapeutische noch<br />

originär pädagogische Einrichtungen, was natürlich nicht heißen muss, dass man<br />

dort nichts fürs Leben lernen könnte. Ich frage, ob etwas, was in einem gesicherten<br />

Zwangskontext entwickelt wurde, ohne weiteres draußen, beispielsweise im Feld der<br />

ambulanten Hilfen, umzusetzen ist?<br />

In diesem Zusammenhang sprechen die spärlichen empirischen Daten eine klare<br />

Sprache: Untersuchungen in der JSA Hameln, so Ohlemacher 2001 in dem Artikel<br />

„Nicht besser, aber auch nicht schlechter“, zeigen keine signifikanten Unterschiede<br />

zwischen AAT-Trainierten und Nichttrainierten!<br />

2


Dies gilt ebenso – nur am Rande vermerkt – für die Erfolgsgeschichten der<br />

amerikanischen Glen Mills Schools (GMS), gemäß Weidner der prototypischen<br />

Einrichtung für eine erfolgreiche »KP« mit gewaltbereiten männlichen Jugendlichen,<br />

deren Rückfallquoten so phantastisch gering sein sollten, dass deutsche<br />

Praktikerinnen und Praktiker nur vor Neid erblassen konnten.<br />

Richtig hingeschaut und wissenschaftlich geprüft - so der auch in Amerika<br />

forschende belgische Kriminalsoziologe Elmar Weitekamp - zeigt sich, dass die<br />

Erfolgsmeldungen wohl doch etwas geschönt waren. Weitekamp legt in der Expertise<br />

des Deutschen Jugend-Institutes überzeugend dar, dass die GMS weder als eine<br />

Alternative noch ein Modellprojekt zum amerikanischen Jugendstrafvollzug gelten<br />

kann. In staatlichen Evaluationsprogrammen wie beispielsweise die des „Bureau of<br />

Quality Assurance“ des Staates Florida (der zeitweise 100 Plätze in GMS belegte)<br />

erreichte die GMS bestenfalls einen guten Mittelplatz. (dji 2002; 42 ff.)<br />

Als zweites können wir fragen, was die „konfrontative Methodik in der Pädagogik“ auf<br />

der Theorieebene beinhaltet. Schauen wir genau hin, zeigt sich, dass man diese<br />

„konfrontative Methodik“ eklektisch nennen kann. Ich meine dies nicht abwertend!<br />

Die von mir vertretene Methode ist ebenfalls eklektisch konzipiert. Die entscheidende<br />

Frage ist vielmehr, ob in einem gewählten Mix die einzelnen Bezüge, Theorien,<br />

Konzepte oder Elemente gut miteinander harmonieren und ob keine unerwünschten<br />

Nebenwirkungen auftreten?<br />

Schauen wir etwas genau hin. Was steht im Zentrum dieser „konfrontativen<br />

Methodik“: Pointiert ausgedrückt – so Weidner 2004; 7 – „80% Emphatie<br />

(einfühlsam, verständnisvoll, verzeihend und non-direktiv) und „20% Biss, Konfliktund<br />

Grenzziehungsbereitschaft.“ Er bezieht sich dabei auf zwei Personen: auf den<br />

Psychologen Raymond Corsini, der seine „konfrontative Therapie“ stark an der aus<br />

der humanistischen Psychologie stammenden Annahme einer<br />

„Selbstaktualisierungstendenz“ ausrichtet, und auf Frank Farrelly, einem<br />

amerikanischen klinischen Sozialarbeiter, der seine Art zu therapieren in einer<br />

Erwachsenenpsychiatrie entwickelt hat. Über Corsini kommen zwei therapeutische<br />

Verfahren dazu, den „heißen Stuhl“ von Fritz Pearls (Gestalt) und die „Hinter-dem-<br />

Rücken-Technik von Jakob Moreno (Psychodrama).<br />

Wie kommt Weidner nun zur Sozialpädagogik? Sie finden hier als wichtige Referenz<br />

Fritz Redl, einen Schüler von August Aichhorn. Weidner zitiert gerne aus Redls<br />

Klassiker „Kinder, die hassen“ die Passage von der „Einmassierung des<br />

Realitätsprinzips“. Was hier festzustellen ist, wird in einer systemischen Terminologie<br />

„Kontextverlust“ genannt.<br />

Redl praktizierte seine psychotherapeutisch orientierte Pädagogik in Anlehnung an<br />

seinen Freund Bruno Bettelheim als „Milieutherapie“. Im Falle eines Falles wurde den<br />

Kindern geholfen, indem „diesen Kindern auf der Stelle in einem Gespräch die<br />

Realität einmassiert wird, und zwar am Besten von Personen, die zur Zeit des<br />

Vorfalls anwesend sind (..).“ (Erziehung schwieriger Kinder; 56).<br />

Im Gegensatz zu Weidner bestand Redl entschieden darauf, dass die Wahl einer<br />

Technik für die Behandlung eines Kindes<br />

a) vom spezifischen Ziel<br />

b) vom konkreten sozialen und situativen Kontext<br />

c) vom speziellen Typus Kind und<br />

3


d) von der spezifischen Phase der therapeutischen<br />

Entwicklung, in der sich das Kind befindet<br />

abhängig gemacht werden muss. Von daher hat sich Redl unmissverständlich gegen<br />

jedwede Programme oder strukturierte Trainings in der Behandlung von Kindern<br />

ausgesprochen. Er bestand immer auf eine auf den konkreten Einzelfall abgestimmte<br />

Intervention.<br />

In einem seiner anderen Klassiker „Erziehung schwieriger Kinder“ (1966; 1978)<br />

beschäftigt sich Redl auf den Seiten 204 – 208 eingehend mit der Frage von<br />

Grenzziehung, was ja auch ein zentrales Thema der »KP« ist. Redl thematisiert hier,<br />

wie diese Grenzen zu setzen sind, damit sie ihre Funktion erfüllen können.<br />

Er fragt, wie schaffen wir es<br />

• Die Kinder dazu zu bringen, die gesetzten Grenzen mit Anstand zu<br />

akzeptierten?<br />

• Wie bringen wir es fertig, dass sie innerhalb dieser Grenzen leben wollen?<br />

• Wie helfen wir ihnen, sie zu intentionalisieren?<br />

und schließlich<br />

• Was tun wir, damit Kinder das Verhalten unterlassen, welches Grenzen<br />

überschreitet?<br />

Redl besteht nachdrücklich darauf, dass Grenzen setzen nicht strafen bedeutet!<br />

Strafe ist für ihn immer nur die eine Hälfte des Geschehens: „Die andere Hälfte<br />

besteht in dem, was das Kind mit dem Erlebnis macht, das wir in ihm ausgelöst<br />

haben.“ (ESK; 210)<br />

Es geht ihm daher nicht um eine umfassende Kontrolle von außen, sondern um eine<br />

Kontrolle von innen, d.h. in seiner Sprache um die Stärkung der Ich-Funktionen.<br />

Damit – so Redl an anderer Stelle – die Kluft zwischen »naiver pädagogischer<br />

Praxis« und »therapeutischer Reflexion über Kausalzusammenhänge« geschlossen<br />

werden kann, ist es erforderlich, dass der einflußnehmende Erwachsene<br />

„sich auch dafür interessiert, wie wirksam eine Technik ist, mit deren Hilfe man ein<br />

bestimmtes Verhalten unterbinden bzw. anregen kann, aber genauso wichtig wird<br />

ihm sein, ob die angewandte Technik auch hinsichtlich ihrer Nebenwirkungen für das<br />

grundlegende therapeutische Ziel unschädlich sei.“ (Steuerung des aggressiven<br />

Verhaltens des Kindes; 18)<br />

Sie finden nun bei Weidner eine Positionierung, dass AAT und CT als zentrale,<br />

markengeschützte Methodiken der »KP« sich in Anlehnung an die GMS an einem<br />

„lerntheoretisch-kognitiven Paradigma“ orientieren (2004; 19). Befassen Sie sich<br />

eingehender mit den ausgewiesenen theoretischen Grundlagen der GMS, werden<br />

Sie sehen, dass hier behavioristischen Ideen, speziell das operante Konditionieren<br />

von Skinner, eine zentrale Rolle spielen. Wo aber viel Skinner drin ist, ist wenig Platz<br />

für Redl.<br />

Mit Verweis auf sein Vorbild Ferrainola, Leiter der GMS, übernimmt Weidner dessen<br />

Motto „Jugend erzieht Jugend“ (2001; 12). In der Konsequenz – und dies belegt der<br />

4


deutsche Film von <strong>Peter</strong> Schran aus dem Jahr 2002 mit eindrücklichen Bildern -<br />

bedeutet dies in GMS den absoluten Vorrang der Gemeinschaft gegenüber dem<br />

Individuum.<br />

Ferrainola äußert in diesem Film unmissverständlich, dass er nicht viel von<br />

Sozialarbeitern, Psychologen und Lehrern hält. Er beschäftigt lieber Handwerker,<br />

Leistungssportler und Ehemalige.<br />

Diese männliche Sprachform ist bewusst gewählt, weil der Anteil von weiblichen<br />

Kräften im Erziehungsdienst der Schule minimal ist. Das hat - so <strong>Prof</strong>. Tischner aus<br />

Nürnberg in einem Beitrag in Weidners Buch von 2004 – damit zu tun, weil hier<br />

konsequent auf eine Umsetzung einer „väterlich geprägten Pädagogik“ gesetzt wird<br />

(2004; 39).<br />

Im Zentrum der von Weidner favorisierten Konzeption von GMS steht der Gedanke<br />

eines „subkulturfreien Raumes“. Ich halte dies für ein Missverständnis. Für mich ist<br />

die GMS vielmehr ein prototypisches Beispiel einer spezifischen Subkultur. Diese<br />

Subkultur realisiert sich über eine sog. „positive Normenkultur“, deren<br />

ausgewiesenes Wesensmerkmal die permanente Normenkontrolle aller durch alle ist.<br />

Auf der anderen Seite werden ausdrücklich alle biografischen Lebenserfahrungen<br />

und individuellen Schutz- und Rückzugsräume ignoriert bzw. verwehrt. In GMS gibt<br />

es noch nicht einmal Türen an den Toiletten und ein Wachdienst von Jugendlichen<br />

hat durchgehend sicherzustellen, dass auch auf dem Klo nichts Normfremdes<br />

passiert.<br />

Diese erzieherischen Maximen produzieren im besten Fall erfolgreich<br />

normensozialisierte junge Männer, die wahrscheinlich nicht divergent denken, dafür<br />

aber Befehle widerspruchslos befolgen können.<br />

Ich möchte hier betonen, dass ich keinen Zweifel habe, dass auch in unserem Land<br />

mit dem Einsatz eines engagierten und ethisch vertretbaren AAT oder CT im<br />

Einzelfall jungen Menschen gut geholfen werden kann. Ich habe kein Problem damit,<br />

im Rahmen eines fachlichen Methodenrepertoires AAT und CT als mögliche<br />

wertvolle Interventionsformen zu sehen, für die es aber auch eindeutige<br />

Indikationskriterien geben sollte.<br />

Was ich in der Auseinandersetzung aber als Problem erachte, ist die unnötige<br />

Polarisierung. Und da scheint es mir – wieder aus einer systemischen Perspektive –<br />

als ob manche exponierten Vertreter einer »KP« eine auffallende strukturelle<br />

Kopplung zu ihrem Lieblingsklientel aufweisen: Sie können mächtig austeilen, aber<br />

scheinbar ganz schlecht einstecken.<br />

Was soll es – so frage ich – wenn Weidner 2004 ein Buch über »KP« einleitet, in<br />

dem er feststellt, dass »KP« manche Menschen irritiert, nämlich „vornehmlich<br />

Theoretiker und graumelierte Endfünfziger“ (2004; 7).<br />

Dann kriegen die ihr Fett ab, die eine „Kuschelpädagogik“ betreiben. Für diese<br />

Personen gilt dann die Unterstellung „Grenzen ziehen, streng sein, autoritativ<br />

agieren, das widerspricht ihrem akademisch sozialisierten Selbst- und<br />

Erziehungsverständnis“ (2001; 16).<br />

Da wird der Jugendhilfe pauschal der Vorwurf gemacht, ihren Maßnahmen fehle die<br />

„Verbindlichkeit“.<br />

5


Und schließlich sieht Tischner sogar „ein Gespenst in Europa umgehen“ – nein, nicht<br />

der alte Marx– eben nur die »KP«, welche „bei vielen Sozialpädagogen in<br />

Deutschland heftige Abwehrreaktionen auslöst“ (2004; 25). Er konstatiert weiter,<br />

dass „die »KP« für den Berufsstand der Pädagogen eine massive Kränkung<br />

darstellt“.<br />

Auf der Basis dieser von Tischner vorgelegten eindrucksvollen Selbst- und<br />

Fremdumschreibung ist vielleicht nachzuvollziehen, weshalb er eine These vertritt,<br />

wonach die Pädagogik in den letzten 30 Jahren an einem zunehmenden<br />

Übergewicht von „mütterlicher Erziehung“ krankt, weshalb nach seiner Auffassung<br />

die »KP« als „väterliche Pädagogik“ das notwendige Korrektiv darstellt (2004; 26).<br />

Wird der wissenschaftliche Fehdehandschuh aufgenommen und argumentieren<br />

Kritiker ebenfalls polemisch, ist das Geschrei groß. »KP«’ler sehen sich<br />

überraschenderweise einer „ungezügelten Emotionalität und unkontrolliertem Affekt“<br />

ausgesetzt (Wolters 2004; 109).<br />

Was war passiert: der Erziehungswissenschaftler <strong>Peter</strong> Struck von der Universität<br />

Hamburg hatte »KP« als „teutonisch“, als „unerträglich“ und „Brutal-Behaviorismus“<br />

charakterisiert (Sozialmagazin 9/2001; 6).<br />

Ein konstruktiver Diskurs ist m.E. nur zu führen, wenn gilt, dass seriöse Argumente<br />

die Grundlage für eine fachliche Auseinandersetzung darstellen und gerne<br />

polemisch, aber nicht diskreditierend argumentiert wird.<br />

Zu 2)<br />

Was hat nun die die „Super Nanny“ (nachfolgend: SN) als so genannte<br />

Erziehungssendung von RTL mit unserer Thematik zu tun? Bekanntlich ist das<br />

wirtschaftliche Ziel von Privatsendern, möglichst viel Geld mit Werbung zu verdienen.<br />

Um die unglaublich viele Werbung herum müssen überwiegend unterhaltsame und<br />

spannende Inhalte gesetzt werden. Je attraktiver die Inhalte, desto teurer die<br />

Werbezeit. Über den Erfolg dabei entscheidet die Quote, d.h. die Anzahl von<br />

Zuschauern pro Sendung. Die durchschnittliche Zuschauerquote der SN wird mit ca.<br />

5 Millionen angegeben. Damit erreicht das Format „Primetime-Standard“, d.h. beste<br />

Sendezeit.<br />

Was hat RTL mit Erziehung zu tun: nichts, außer der Tatsache, dass damit<br />

inzwischen bei relativ geringen Produktionskosten viel Geld verdient werden kann.<br />

Ganz kurz zu den Grundlagen der Sendung. SN ist eine gekaufte Lizenzsendung.<br />

Vorbild war die britische SN auf Channel 4. Die sog. „Super Mamas“ auf RTL II<br />

wiederum sind nur eine schlechte Raubkopie.<br />

Wenn Sie die theoretischen Grundlagen von SN erschließen, landen Sie schnell bei<br />

Triple-P. Es heißt aber hier nicht Triple-P, weil dafür gesonderte Lizenzgebühren<br />

fällig geworden wären. Von daher hat man nur einige Versatzstücke aus dem Triple-<br />

P-Programm entnommen wie den „Stillen Stuhl“, die „Auszeit“, die akribischen<br />

Tagespläne und das behaviorale Belohnungssystem. Die intelligenteren und<br />

anspruchsvolleren Teile von Triple-P hat man einfach weggelassen.<br />

Was bei RTL mit gutem unternehmerischen Gespür erkannt wurde, ist die zunehmende<br />

Verunsicherung von Eltern in Erziehungsfragen.<br />

• Einspielung Filmclip 1<br />

6


Diese Verunsicherung ist eingebettet in eine allgemeine gesellschaftliche Nachfrage<br />

nach Orientierung in Erziehungsfragen – und dass mit möglichst einfachen und<br />

klaren Regeln. Schließlich will und muss man unbedingt auch sog. Bildungsferne<br />

Schichten erreichen.<br />

Genau dies verspricht Frau Saalfrank, wenn sie als SN auftritt. Auch sie konfrontiert<br />

für ein Millionenpublikum – nämlich Eltern, die vorgeführt und in ihrer<br />

Unzulänglichkeit instrumentalisiert werden. • Einspielung Filmclip 2<br />

Wir haben uns hier im Hinblick auf die erzieherischen Belange zwei Fragen zu<br />

stellen:<br />

• Konfrontation wozu (die Frage nach dem Ziel)<br />

• Konfrontation womit (Frage nach den Mitteln)<br />

Zur ersten Frage wird durch SN geantwortet, damit die Eltern wieder lernen, ihren<br />

Kindern adäquate Grenzen zu setzen. Ohne es zu sagen, suggeriert der scheinbar<br />

immer gute Ausgang in der wöchentlichen Sendung, dies würde erreicht.<br />

Wir haben zu fragen: gibt es vielleicht nicht intendierte Nebenwirkungen oder<br />

Langzeitfolgen?<br />

Ich habe diese Art der versuchten Kindesbeeinflussung in einem Artikel (2005)<br />

„Gehorsamkeitserziehung“ genannt. Vordergründig kommt doch die SN mit<br />

einfachen, ethisch vertretbaren Familienregeln daher. Wieso dann<br />

„Gehorsamkeitserziehung“? Nun, es ist der Kontext und die darin enthaltenen<br />

Nebenwirkungen, die SN zu einem großen Problem machen.<br />

Ich lasse hier unberücksichtigt, was Eltern bewegt, sich und ihre Kinder in einer<br />

solchen Art und Weise einer Fernsehöffentlichkeit auszusetzen und sich derartig<br />

vorführen zu lassen.<br />

Was Sie in den Sendungen sehen können ist, dass die SN systematisch in eine<br />

Elternrolle geht, d. h. sie legt auch für die Eltern fest, welche Handlungen „angesagt“<br />

sind. Was passiert damit im Familiensystem? Die Kinder – und speziell der kleine<br />

Tyrann – erfahren jetzt, dass eine Person gekommen ist, die mehr Macht hat, da ja<br />

auch die Eltern brav tun, was die SN vorgibt. Das einfach gestrickte lerntheoretische<br />

Programm a la Skinner führt zu Konditionierungen bei Eltern und Kindern, die auf<br />

den ersten Blick erfolgreich wirken können. • Einspielung Filmclip 3<br />

Im Mittelteil der inszenierten Sendung ist das Problemkind ist wieder brav und macht<br />

scheinbar, was die Eltern sagen. Da die Sendezeit noch nicht zu Ende ist und noch<br />

nicht alle Werbung gesendet, braucht es eine Verlängerung mit weiterer Aktion.<br />

Wie nicht anders zu erwarten, werden die nicht bearbeiteten familiäre Problemmuster<br />

reaktiviert, sobald wieder der „Alltag“ einkehrt: Geht die SN wieder, geht auch die<br />

Erziehungsmacht, die alten familiären Muster treten wieder auf. Anlass für einen<br />

letzter Auftritt der SN. Sie interveniert erneut – diesmal energischer und instruktiv –<br />

und dann gibt das problematische Kind scheinbar klein bei.<br />

Wenn – wie in den Sendungen gezeigt – der Wille des tyrannischen Kindes so<br />

gebrochen wird, wird nicht hinterfragt, was diese Erfahrung für das Kind in Zukunft<br />

möglicherweise bedeuten könnte. Zu befürchten ist, dass das Kind eine „richtige<br />

Schlussfolgerung“ zieht: Wartet nur, bis ich größer und stärker bin als ihr – dann<br />

schauen wir mal, wer dann zu sagen hat!<br />

7


Zur zweiten Frage ist anzumerken, dass die sog. Konfrontation über Videobilder<br />

erfolgt. Videoberatung ist seit einigen Jahren auch ein Angebot an Familien im<br />

Rahmen der Jugendhilfe, so dass sich hier die Frage aufdrängt, ob dass, was da im<br />

Fernsehen inszeniert wird, etwas gemein hat mit dem, was in einem geschütztem<br />

Beratungsprozess im familiären Alltag passiert.<br />

Sie können sich davon vergewissern, dass die SN vom Prinzip der<br />

Ressourcenorientierung keinen Gebrauch macht. Während sie sich im ersten<br />

Sendejahr noch strikt an ihr verhaltensbasiertes Trainingsprogramm hielt, müssen<br />

die Eltern inzwischen auch ihre „Beratung“ aushalten. Hier verletzt Frau Saalfrank<br />

teilweise gravierend die Regeln eines guten fachlichen Könnens, wie sie<br />

beispielsweise die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung entwickelt hat.<br />

• Einspielung Filmclip 4<br />

Drei zusammenfassende Kritikpunkte an der SN:<br />

Es findet zu keiner Zeit ein Gespräch darüber statt, welche Überzeugungen oder<br />

Vorstellungen die Eltern bewegt haben, in der gezeigten Weise mit ihren Kindern<br />

umzugehen.<br />

Es wird kaum etwas gesagt, wie die Entwicklung der Kinder verlief bzw. es wird<br />

zum Teil sogar verschwiegen.<br />

Die SN ist häufig nonverbal, aber auch verbal abwertend. Eltern haben nur eine<br />

Chance, wenn sie sich den Anordnungen und Vorstellungen der SN unterordnen.<br />

Das ist „take it or leave it“ in Reinform.<br />

Gehorsam ist auch das Wort, welches das Verhältnis der Eltern zu der SN bestimmt.<br />

Hier werden nicht ein oder zwei autonome Menschen beraten und unterstützt, die in<br />

einem gemeinsamen Reflexionsprozess mit einer qualifizierten Beraterin darüber<br />

entscheiden, was zu ihnen passt, was sie annehmen und wie sie etwas umsetzen<br />

können. Vielmehr müssen sich Eltern selbst einer quasi „pädagogischen Maßnahme“<br />

unterziehen, um ihre sichtbaren, aber nicht nachvollziehbaren Defizite zu<br />

kompensieren.<br />

Am Ende stehen keine „starken Eltern“ und keine „starken Kinder“, sondern<br />

konditionierte Menschen, die wenig aus eigener Kraft vermögen.<br />

Zu 3)<br />

Im Hinblick auf die vorangeschrittene Zeit in aller gebotenen Kürze einige<br />

grundlegende Anmerkungen: Was hat eine Videoberatung wie die Marte Meo-<br />

Methode, die fachlichen und ethischen Standards verpflichtet ist, im Rahmen der<br />

Jugendhilfe zu leisten:<br />

• Sie ist eine Beratungsform, die mit einem Medium arbeitet. Über die<br />

Videobilder wird ein kleines Stück Alltag eingefangen, konserviert und so eine<br />

andere Form der Betrachtung und Reflexion möglich gemacht<br />

• Videoberatung ist wie alle anderen Beratungsansätze dem Gebot der<br />

Verschwiegenheit verpflichtet. Sie dient nicht zur Abschreckung oder<br />

Belustigung von Dritten.<br />

8


• Zentral ist, dass die Anliegen und Wünsche der zu Beratenden den Rahmen<br />

einer Videoberatung stecken. Videoberatung arbeitet mit den Fragen der<br />

Eltern oder Fachleuten und hat den Anspruch, Veränderungsarbeit zu<br />

initiieren und zu unterstützen.<br />

• Der Ansatzpunkt der Beratung ist nicht das, was die Eltern nicht richtig oder<br />

falsch machen (der Defizitblick), sondern das, was sie zumindest ansatzweise<br />

gut und richtig machen. Wenn Eltern zur Zusammenarbeit bereit sind, wird – in<br />

welch kleinen Schritten auch immer – die Kompetenz der Eltern und ihre<br />

Beziehung zu ihren Kinder in einer Weise gestärkt, die frei ist von<br />

Nebenwirkungen wie Druck, Erpressung oder Strafe.<br />

• Einspielung Filmclip 5<br />

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

Literatur:<br />

Weidner, J. / Kilb, R. (Hg.) (2004):<br />

Konfrontative Pädagogik. Konfliktbearbeitung in Sozialer Arbeit und Erziehung; Wiesbaden:<br />

VS-Verlag<br />

Weidner, J. / Kilb, R. / Jehn, O. (Hg.) (2003):<br />

Gewalt im Griff, Band 3. Weiterentwicklung des Anti-Aggressivitäts- und Coolness-Training;<br />

Weinheim: Beltz<br />

Weidner, J. / Kilb, R. / Jehn, O. (Hg.) (2004 4 ):<br />

Gewalt im Griff, Band 1. Neue Formen des Anti-Aggressivitäts-Trainings; Weinheim: Juventa<br />

Weidner, J. / Colla, H. / Scholz, Chr. (Hg.) (2001):<br />

Konfrontative Pädagogik – Das Glen Mills Experiment.<br />

Weinheim: Juventa<br />

Corsini, Raymond J. (1994 4 ):<br />

Konfrontative Therapie; in: Handbuch der Psychotherapie, Seite 555-570<br />

Weinheim: Juventa<br />

Deutsches Jugendinstitut (Hg.) (2002):<br />

Die Glen Mills Schools, Penn., USA. Ein Modell zwischen Schule, Kinder- und Jugendhilfe<br />

und Justiz? Eine Expertise<br />

München: Eigenverlag<br />

Farrelly, F. / Matthews, Scott (1994):<br />

Provokative Therapie; in: Corsini, a.a.O.; Seite956-977<br />

Ohlemacher, Th. / Sögding, D. / Höynck, Th. / Ethé, N. / Welte, G. (2001):<br />

Nicht besser, aber auch nicht schlechter. Anti-Aggressivitäts-Training und Legalbewährung;<br />

in: DVJJ-Journal 12, Heft 4, 380-386<br />

Redl, F. / Wineman, D. (1979):<br />

Kinder, die hassen<br />

München: Piper (Original: 1951)<br />

9


Redl, F. (1968 4 ):<br />

Steuerung des aggressiven Verhaltens beim Kind (Hg. Reinhard Fatke)<br />

München: Piper (Original: 1952)<br />

Redl, F.“ (1978):<br />

Erziehung schwieriger Kinder<br />

München: Piper (Original: 1966)<br />

Struck, P. (2001):<br />

Unerträgliche Pädagogik: in: Zeitschrift Sozialmagazin, Heft 9 / 2001<br />

Weitekamp, E. G. M. (1999):<br />

Die Einbettung der GMS innerhalb der kriminologischen Diskussion in den Vereinigten<br />

Staaten von Amerika<br />

in: Deutsches Jugendinstitut (2002); a.a.O., Seite 42 - 49<br />

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