Die Bardos - Tara Sattva, Shantidas E. Morawa
Die Bardos - Tara Sattva, Shantidas E. Morawa
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Bardo<br />
Viel gelesen und oft falsch verstanden sind die Hauptverse der sechs <strong>Bardos</strong><br />
und das Bardo Thödröl, da ihre Diktion mit Begriffen der buddhistischen Welt<br />
gespickt ist. Ich gebe in dieser und einigen weiteren Dateien eine für uns<br />
Westler angenäherte Erläuterung dieser tantrischen Texte, der hoffentlich für<br />
jeden, der sie aufnimmt, nützlich sind.<br />
Im ersten Kapitel dieser Datei gibt es in der Übersetzung Trungpa/<br />
Freemantle die Hauptverse der sechs <strong>Bardos</strong> mit knappen Erläuterungen.<br />
Im zweiten Teil geht es im wesentlichen um die Umschreibung Bardo, was<br />
damit gemeint ist und um die alltägliche Erfahrung, die für uns persönlich<br />
aus dem Fliessen von Insel zu Insel im Strom der Zeit entsteht..<br />
Wer unter Bardo das Tibetische Totenbuch und das Bardo Thödröl versteht,<br />
sei auf die PDF- Datei Sterben verwiesen, die zum Download in der selben<br />
Rubrik zur Verfügung steht und die das Thema und die Arbeit mit dem Bardo<br />
des Sterbens und des Todes (soweit das auf Papier geht), versucht zu<br />
erklären.
<strong>Die</strong> Hauptverse der sechs <strong>Bardos</strong><br />
Bardo der Geburt und des Lebens<br />
So mir nun der Bardo der Geburt aufgeht,<br />
will ich die Trägheit, für die das Leben keine<br />
Zeit hat, aufgeben,<br />
will unbeirrt den Pfad von Lernen, Wahrnehmen<br />
und Meditation betreten,<br />
die Visualisationen praktizieren und auf den<br />
Pfad achten, und so die drei Kayas<br />
(Energiekörper) verwirklichen;<br />
da ich nun einmal einen Menschenkörper<br />
angenommen habe, bleibt dem Geist auf diesem<br />
Pfade keine Zeit zu wandern.<br />
(Im Moment der Geburt beginnt das Ende meiner Existenz, in der Vorstellung<br />
des „Ich Bin“. Um sicher durch die Zeit dieser physischen Existenz zu<br />
kommen und für mich und mein Mandala (meine Mitwelt) gutes zu tun,<br />
brauche ich eine stabile Verankerung in dieser von Leiden, Dummheit und<br />
Verwirrung geprägten Welt. Dabei kann ich von einigen Spezialisten eoiin<br />
paar Tipps mit auf den Weg bekommen, wie ein Reisender, der einen<br />
Reiseführer mit sich nimmt).<br />
Bardo der Träume (des Traumzustandes)<br />
So mir nun der Bardo der Träume aufgeht, will<br />
ich den leichengleichen Schlaf achtloser<br />
Unbewusstheit aufgeben,<br />
und meine Gedanken in ihren natürlichen<br />
Zustand ohne Ablenkungen übergehen lassen:;<br />
die Träume kontrollierend und in den Glanz<br />
verwandelnd, will ich nicht schlafen wie ein<br />
Tier,<br />
sondern will Schlaf und Übung ganz einswerden<br />
lassen.
(Im Moment meiner Geburt beginnt ein Wechselspiel von Wachheit, Schlaf<br />
und Traum. Auch in der Art meiner Träume und meines Schlafes liegt der<br />
Same für gutes, liebevolles und gütiges Handeln oder das Drama morgens<br />
schon beim Wachwerden mit meinen unverarbeiteten, inneren Bildern und<br />
einer physiologischen Unausgeglichenheit in den Tag zu wanken. <strong>Die</strong> Zeit<br />
von Traum und Schlaf kann zur Praxis verwendet werden, und mir und<br />
anderen Energie kreieren.)<br />
Bardo der Meditation<br />
So mir nun der Bardo der Samadhi- Meditation<br />
aufgeht, will ich die Masse von Zerstreuungen<br />
und von Verblendungen aufgeben und in dem<br />
grenzenlosen Zustand ohne Festhalten und<br />
jegliche Verwirrung ruhen,<br />
gefestigt in den beiden Übungen: der<br />
Vorstellung und der Vollkommenen,<br />
zu dieser Zeit der Meditation, gesammelt und<br />
völlig absichtslos, will ich der Macht<br />
verblendeter Gefühle nicht verfallen.<br />
(Ich beginne zu entdecken, das es einen weiteren Zustand in meinem Inneren<br />
gibt, der mir Ruhe und Stille verleiht. In der Meditation, der Versenkung oder<br />
dem tiefen Kontakt mit Natur oder geliebten Menschen gleich ob im Zustand<br />
des Glücks oder der Not wird mir die Erfahrung innerer Ruhe und Stille zuteil.<br />
Ich spüre die Kraft, dies dieser Zustand mir gewährt und erlebe das mein<br />
Handeln auch in alltäglichen Situationen bewusster wird).
Bardo des nahenden Todes<br />
So mir nun der Bardo des Augenblicks vor dem<br />
Tod aufgeht, will ich alles Ergreifen, Sehnen<br />
und Festhalten aufgeben, will unbeirrt in die<br />
klare Bewusstheit der Lehre eingehen<br />
und mein Bewusstsein in den Raum des<br />
ungeborenen Geistes ausschleudern; diesen<br />
zusammengesetzten Körper von Fleisch und Blut<br />
verlassend, will ich ihn als eine vergängliche<br />
Illusion erkennen.<br />
(Plötzlich und unerwartet stirbt ein Bekannter, ein Freund, ein Elternteil oder<br />
ein Geliebter. Jäh und scharf spüre ich meine Sterblichkeit., die Dumpfheit<br />
und Kurzsichtigkeit vieler meiner Handlungen. Tief erschüttert suche ich<br />
nach Halt und finde ihn nicht.<br />
Ich suche nach Gott und bin verzweifelt. Ich lese spirituelle , kirchliche oder<br />
esoterische Schriften und zweifle am Sinn. Wo ist der Weg?<br />
In der Praxis der Meditation jedes Momentes, der Kostbarkeit des<br />
Augenblick, immer und immer wieder voller Dankbarkeit und Liebe für mich<br />
und andere zu handeln, Gutes zu tun und meine Güte und Liebe zu<br />
verbreiten, erkenne ich Sinn im Leben.)
Bardo des Todes und des Raumes danach<br />
So mir nun der Bardo des Dharmata aufgeht, will<br />
ich alle Gedanken von Furcht und Schrecken<br />
aufgeben, will ich alles was erscheint, als<br />
meine Projektion erkennen, und wissen, daß es<br />
eine Vision des Bardo ist; nun angelangt an<br />
diesem Wendepunkt, will ich die Friedlichen und<br />
Rasenden, meine eigenen Projektionen nicht<br />
fürchten.<br />
( Ganz nahe rücke ich an einen Sterbenden Menschen heran oder angesichts<br />
einer Trennung, gleich ob kurz, lang oder für immer mache ich mir die<br />
Vergänglichkeit bewusst. Jeder Moment atmet Abschied und Beginn. In<br />
Momenten der Krise und des Schmerzes atme ich hinein und gehe tief in den<br />
Kontakt mit der darin verborgenen Auflösung. Im Kontakt mit jedem<br />
Zuendegehen finde ich Frieden.)
Bardo der sexuellen Vereinigung und Empfängnis<br />
So mir nun der Bardo des Werdens aufgeht, will<br />
ich meinen Geist vollkommen sammeln, und mich<br />
bemühn, das Wirken guten Karmas zu verlängern,<br />
den Schoß- Eingang verschließen und Widerstand<br />
leisten; dies ist die Zeit, da Ausdauer und<br />
reines Denken unerlässlich sind, gib auf die<br />
Eifersucht und meditiere über den Guru mit<br />
seiner Gefährtin.<br />
Mit abwesendem Geist, nicht an das Nahen des<br />
Todes denkend, in solch sinnlosem Tun befangen<br />
zurückzukehren mit leeren Händen wäre jetzt<br />
völlige Verblendung; was not tut ist, den<br />
heiligen Dharma zu erkennen, also warum den<br />
Dharma nicht in diesem Augenblick üben?<br />
Aus dem Mund der Siddhas kommen diese Worte:<br />
Bewahrst du deines Guru Lehren nicht im Herzen,<br />
wirst du dann nicht selbst betrügen?
(Ich spüre das im Erleben meiner Sexualität ein Schlüssel zum Erleben meiner<br />
Befreiung liegen kann, wenn die Energie dieser Verbindung zwischen mir und<br />
dem Geliebten kreist und ein tiefes, göttliches Gefühl der Stille und Ekstase<br />
auftaucht, in dem Orgasmus ein tiefes Tal ist. Ich kenne die Praxis der<br />
großen Versiegelung der Lebenskraft (Mahamudra)und sende die Kraft<br />
meiner Liebe mit dem Geliebten hinaus in die Welt, damit dieser Überschuss<br />
alle Wesen befreien kann und ihnen Frieden, Glück und Befreiung verschafft.<br />
Ich bin der Ozean.)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Bardos</strong> sind Inseln im Strom der Zeit.<br />
Jeder Zustand ist im Fluss und in der nächsten Sekunde schon weggespült.<br />
Ein Tag in einer Großstadt, ist eine wunderbare Möglichkeit die Meditation<br />
der <strong>Bardos</strong> zu praktizieren.<br />
Mit jedem Wechsel der Szenerie, jeder Sekunde in der U-Bahn, jedem<br />
schnellen Auftauchen und Verschwinden von Kontakt begegnen wir dem<br />
Fluss des Lebens und spüren die Vergänglichkeit.<br />
Auch der Besuch eines Restaurants oder einer Discothek oder ein Konzert<br />
kann die Praxis der Meditation über die <strong>Bardos</strong> fördern.<br />
Jetzt ist::<br />
Ein schöner Hals..<br />
eine angenehme Stimme..<br />
der Geruch eines Betrunkenen ..<br />
der startende Motor..<br />
die laute Unterhaltung..<br />
das Licht der Ampel...<br />
das Rauschen des Windes<br />
ein schöner Fuß..<br />
ein angenehmer Parfumgeruch<br />
eine sonore Männerstimme<br />
und so ist es immer weiter. Bleibe beim Atmen in jeder Sekunde gewahr und<br />
spüre den Hauch jedes Bardo.<br />
Suche Momente der Intensität und bleibe stets darin gegenwärtig!<br />
Abschließend ein Lehrtext vom Ngakpa Chögyam Rinpoche zur Vertiefung.
Belehrungen über die<br />
Neun <strong>Bardos</strong> aus dem Aro gTér<br />
Bei den Vajrayana-Belehrungen muss man sich im Unterschied zum<br />
Sutrayana bewusst machen, dass es eine Linie gibt. Vajrayana-Belehrungen<br />
haben einen Ursprung - sie sind nicht nur allgemeine Information. Man kann<br />
Belehrungen nicht von einer "verallgemeinernden Quelle" bekommen; und<br />
genauso wenig kann man Belehrungen geben, es sei denn, sie kommen von<br />
einer spezifischen Quelle und man ist vom Linienhalter autorisiert worden, zu<br />
lehren. Man kann nicht von Tantra oder Dzogchen sprechen, als wären die<br />
Belehrungen von Padmasambhava & Yeshé Tsogyel frei zugängliche<br />
Information, die man durch bloßes Lesen von Büchern erhält. Heute sehen wir<br />
eine wachsende Zahl von New-Age-Zugängen zum Buddhismus. Und obwohl<br />
manchmal positiv motiviert, sind diese synkretistischen Mischmasch-<br />
Interpretationen von Vajrayana in Wirklichkeit aber ziemlich schädlich.<br />
Normalerweise beginne ich Belehrungen nicht auf diese Weise, aber in letzter<br />
Zeit ist mir bewusst geworden, dass eine Überfülle an falschen Vorstellungen<br />
geäußert wird; Ideen, die Vajrayana-Praktiken mit positivem Denken,<br />
Affirmationen, Persönlichkeitsentwicklung und einer Anzahl anderer<br />
Konzepte vergleichen, die antithetisch zum Buddhismus sind. In diesem<br />
Kontext können wir Chögyam Trungpa Rinpoche von Herzen dankbar sein,<br />
dass er den Ausdruck "spiritueller Materialismus" geprägt hat. Denn durch<br />
ihn sind wir in der Lage, diesen heimtückischen Trend zu identifizieren und<br />
ihn aus unserer eigenen Praxis auszumerzen.<br />
Worüber wir heute sprechen werden, hat nichts mit Affirmationen zu tun<br />
oder damit, Freunde zu gewinnen & Leute zu beeinflussen. Wir befassen uns<br />
nicht mit dem spirituellen Materialismus des "Tu, was du fühlst" und "Folge<br />
deinem inneren Guru". Wir sind Vajrayana-Praktizierende und können stolz<br />
auf unsere eigensinnige Einfachheit sein. Nicht Stolz im üblichen Wortsinn,<br />
sondern im Sinne heiteren Vertrauens. Wir brauchen uns nicht von<br />
"erregenden Tantrifikationen" oder "demokratisierten Dzogchenismen"<br />
verführen zu lassen. Wir werden über die Belehrungen der neun <strong>Bardos</strong><br />
sprechen. Ihr Ursprung liegt in den gTérmas von Khyungchen Aro Lingma,<br />
der Dame des Wissens aus der Sphäre, in der der große Garuda das<br />
ursprüngliche "A" schmeckt. Das ist die Bedeutung von Khyungchen Aro<br />
Lingma. Zu Beginn dieses Jahrhunderts verwirklichte Aro Lingma einen
gTérma Lehrzyklus der reinen Sicht, den sie direkt von Yeshé Tsogyel erhielt;<br />
und das macht diesen Lehrzyklus einzigartig.<br />
Der Aro gTér ist ein Lehrzyklus, der alles aus der Sicht des Dzogchen<br />
darstellt. Ob es sich nun um Belehrungen aus dem Sutra oder Tantra handelt,<br />
sie alle werden in der Sprache des Dzogchen präsentiert. Belehrungen wie die<br />
über die neun <strong>Bardos</strong> werden deshalb in nicht-symbolischer Sprache<br />
ausgedrückt. Der Bardo Thödröl, wie er üblicherweise von den gTérmas von<br />
Karma Lingpa gelehrt wird, umfasst 42 friedvolle, 58 zornvolle<br />
Bewusstseinswesen. In den Bardo-Belehrungen von Aro Lingma jedoch<br />
besteht die Praxis darin, die thig-lé zu erfahren, was sie dem to-gal ähnlich<br />
macht. Wir gehen jetzt nicht im einzelnen darauf ein, weil das ein langes<br />
Retreat voraussetzen würde. Wir werden die Aspekte der neun <strong>Bardos</strong><br />
betrachten, die mit Integration auf der Ebene des täglichen Lebens zu tun<br />
haben.<br />
Jedes System der <strong>Bardos</strong> beginnt anders. In den sechs <strong>Bardos</strong> beginnen wir<br />
mit dem kye-né Bardo, dem Bardo der Geburt; dann gehen wir durch den milam<br />
Bardo (Bardo der Träume); den samten Bardo (Bardo der Meditation); den<br />
chhi-kha’i Bardo (Bardo des Todes); den chö-nyid Bardo (Bardo des<br />
Dharmata oder Klare-Licht-Erfahrung).<br />
In den neun <strong>Bardos</strong> haben wir eine andere Orientierung. Wir beginnen nicht<br />
mit der Geburt, sondern mit dem Tod. Das ist ein reines organisatorisches<br />
Arrangement im Hinblick auf die Präsentation der Belehrungen, aber es ist<br />
ziemlich wichtig. Wir beginnen mit dem chhi-kha’i Bardo. Dann gehen wir<br />
durch den chö-nyid Bardo. Aber hier, im Aro gTér, ist der chö-nyid Bardo<br />
oder der Bardo des Dharmata zweigeteilt: chö-nyid Bardo ist der erste; und<br />
der zweite ist nang-wa Bardo (Bardo der Vision). Der chö-nyid Bardo ist<br />
deswegen so aufgeteilt, weil der Bardo der Vision (nang-wa Bardo) der Bardo<br />
ist, in dem man die thig-lé erfährt.<br />
Als man im Westen den Bardo Thödröl als Buch entdeckte, hatte man<br />
anfänglich die Vorstellung, dass diese Visionen tatsächlich das waren, was<br />
man sieht, wenn man stirbt: man sieht die 100 Bewusstseinswesen der<br />
<strong>Bardos</strong>. Das verursachte Verwirrung, denn andere Kulturen hatten sehr<br />
unterschiedliche Beschreibungen dessen, was man im Zustand des Todes<br />
sehen könnte.
Man versuchte, die Belehrungen über die Nach-Tod-Zustände aus<br />
verschiedenen Religionen miteinander zu vergleichen und wurde ziemlich<br />
verwirrt bei dem Versuch, alles miteinander in Einklang zu bringen. Man<br />
dachte, der Bardo Thödröl beschreibe eine festgelegte "Realität", die auf<br />
jeden von uns warte. Aber tatsächlich sind die einzigen, die die friedvollen<br />
und zornvollen Bewusstseinswesen sehen, jene Yogis und Yoginis, die sie<br />
während ihres Lebens praktiziert haben.<br />
<strong>Die</strong> 100 Bewusstseinswesen des Bardo sind eine Methode. Es ist wichtig, das<br />
zu verstehen. Viele Menschen machen sich nicht klar, dass Buddhismus fast<br />
zu 100% aus Methode besteht. Wir entstammen Kulturen, in denen unsere<br />
Religionen von "Wahrheit" sprechen, "die drei Buchreligionen": Judaismus,<br />
Christentum und Islam. Aber "Wahrheit" und wie sie wahrgenommen wird, ist<br />
eines der Haupthindernisse beim Verständnis des Buddhismus, weil es im<br />
Buddhismus nicht um "Wahrheit" geht. Ihm geht es um Methode. Wahrheit<br />
ist, was durch Methode entdeckt wird. Es gibt Methode und es gibt Leerheit.<br />
Wahrheit wird nicht wirklich thematisiert als "die Wahrheit", nicht einmal<br />
hinsichtlich der Beschreibung von Wirklichkeit, weil selbst die Beschreibung<br />
der "Wahrheit" eine Methode ist, auf die Wahrheit zu zeigen.<br />
Also lasst uns jetzt die Idee von Tantra erkunden und wie das in diesem<br />
Sinne funktioniert. Mit dem Tantra bewegen wir uns von der Vorstellung,<br />
dass es nichts gibt, weg und hin zu der Vorstellung, dass, was immer da ist,<br />
in dem Moment da ist, wo es entsteht. Wir fangen an, uns mit Form zu<br />
beschäftigen. Sutra beschäftigt sich nicht mit Form, abgesehen von der<br />
Vorstellung, dass man Form loslassen muss; und dass man sich durch das<br />
Ideal des Mitgefühls hindurcharbeiten muss, was die Praxis von Form ist. Mit<br />
Tantra integrieren wir Leerheit und Form. Mit Tantra werden die gesamten<br />
Belehrungen auf Form hin ausgerichtet - leere Form.
Das ist wichtig, vom Blickwinkel der neun <strong>Bardos</strong> her zu verstehen, wo der<br />
Fokus auf der Gestalt des "Welche Form auch immer da ist, sie ist da im<br />
Moment" liegt. Ich kann tatsächlich den verleumdeten "Atman" haben, aber<br />
nur im Moment. Und dann, im nächsten Moment, ist es ein anderer "Atman".<br />
Wenn ich den momentanen Atman von Moment zu Moment ausweiten<br />
möchte, dann gibt es keinen Atman - kein Selbst, keine Seele. Wenn ich<br />
jedoch nicht versuche, den momentanen Atman auszudehnen, dann ist er auf<br />
wunderbare Weise da im momentlosen Moment. Das ist charakteristisch für<br />
Tantra, das sein Ethos gegenüber dem des Sutra differenziert.<br />
In den Belehrungen der neun <strong>Bardos</strong> beginnen wir mit dem chhi-kha’i Bardo<br />
(Bardo des Todes); es folgt der chö-nyid Bardo; und dann der nang-wa Bardo<br />
(Bardo der Vision). Im nang-wa Bardo gibt es die besondere Praxis der thiglés.<br />
Das ist auch eine Praxis, die man für andere Wesen ausüben kann.<br />
Vielleicht werde ich zu einem anderen Zeitpunkt mehr dazu sagen - aber, wie<br />
ich sagte, erfordert es ein langes Retreat. Nach dem nang-wa Bardo kommt<br />
der kye-né Bardo (Bardo der Geburt); der mi-lam Bardo; der samten Bardo<br />
genau wie bei den sechs <strong>Bardos</strong>. <strong>Die</strong> letzten beiden <strong>Bardos</strong>, die die neun<br />
konstituieren, werden der gYo-wa Bardo und der tha-shé Bardo genannt.<br />
'gYo-wa' bedeutet "Bewegung". Das ist dasselbe gYo-wa wie in den<br />
Belehrungen über die vier Naljors. Tha-shé ist eine Kontraktion des tha-malgyi-shé-pa.<br />
Tha-mal-gyi-shé-pa bedeutet "augenblickliche Gewöhnlichkeit".<br />
<strong>Die</strong>s sind die beiden <strong>Bardos</strong>, die wir heute besprechen werden.<br />
Im Englischen wurde der Bardo Thödröl "The Tibetan Book of the Dead" (dt.<br />
"Das Tibetische Totenbuch") genannt. Es bekam diesen Titel, weil es ein<br />
Ägyptisches Totenbuch gibt. Es war ein unglücklicher Titel. Er blieb, wie der<br />
Ausdruck "Tibetischer Buddhismus" blieb, weil niemand eine bessere<br />
Bezeichnung weiß. Aber Menschen, die in Bhutan leben, halten ihn nicht für<br />
Tibetischen Buddhismus. Es ist so, als würde man "Englisches Christentum"<br />
sagen (Lachen). Der Titel Tibetisches Totenbuch hat den Eindruck erweckt,<br />
als handele es sich einzig um Belehrungen über den Zustand nach dem<br />
physischen Tod. Ganz bestimmt betrifft es auch den physischen Tod, aber es<br />
betrifft auch die Geburt. Es könnte tatsächlich "Das Tibetische Buch von<br />
Geburt & Tod" genannt werden, das "Tibetische Buch vom Leben" oder "Das<br />
Tibetische Buch von der Existenz & Nicht-Existenz". Trungpa Rinpoche<br />
erwähnte es einmal als "Das Tibetische Buch vom Raum".
Eine Redeweise ist in letzter Zeit im Westen entstanden, wo man von diesen<br />
Vajrayana-Belehrungen als von "Leben und Tod" spricht. <strong>Die</strong>s ist aus<br />
buddhistischer Sicht eine einzigartig seltsame Paarung von Begriffen - als<br />
gäbe es ein Bardo Thödröl von Leben & Tod. Aus buddhistischer Sicht können<br />
wir Leben & Tod nicht auf diese Weise polarisieren, ohne uns das Paradigma<br />
zu eigen zu machen, dass der Tod nur einmal in jedem Leben erscheint. Es<br />
ist für Khandro Déchen und mich äußerst wichtig, dass wir diesen Typus von<br />
spirituellem Materialismus bei denen untergraben, die ernstlich an<br />
buddhistischen Unterweisungen interessiert sind.<br />
Wenn ihr euch mit eurem physischen Tod abfinden wollt, ist es wichtig zu<br />
verstehen, dass ihr das nicht durch freiwillige Arbeit in einem Hospiz tun<br />
könnt oder indem ihr in einer Leichenhalle arbeitet. Manche Leute haben<br />
diese Vorstellung, dass man so zu einem Verstehen des eigenen Todes<br />
gelangen kann. Das ist nicht wahr. Vielleicht gewöhnst du dich an die<br />
Tatsache, dass Menschen sterben, besonders, wenn du große Angst vor dem<br />
Tod hast. Oder wenn du dich zugemacht hast, indem du niemals an<br />
Krankenhäuser denkst oder niemals daran denkst, dass Menschen älter<br />
werden. Aber selbst wenn du diese Themen betrachtest, kannst du leicht in<br />
genau der Haltung der Verleugnung enden. Man kann sich selbst täuschen,<br />
indem man denkt, dass man sich mit dem Tod abgefunden hat. Das ist<br />
sowieso der Grund, warum wir in Samsara existieren - wir sind ganz schön<br />
clever! (Lachen) Wenn wir nicht sehr klug wären, würden wir es nicht<br />
schaffen, im Samsara gefangen zu sein. Wir können außergewöhnlich klug<br />
sein, wenn wir Leichen betrachten: "Kein Puls, kein Atem..." dann schaltet<br />
etwas im Kopf ab. Eine stumme Feststellung wird getroffen: "Das hat nichts<br />
mit mir zu tun." Also macht es nicht wirklich einen Unterschied, wenn wir uns<br />
an Leichen gewöhnen. Jemand, der sich Leichen gegenüber verschließt, kann<br />
genau so sein wie jemand, der sie jeden Tag anschaut, hinsichtlich: "Das hat<br />
nichts mit mir zu tun... Menschen sterben, ja, das weiß ich. Aber ich bin eine<br />
Person, für die das nicht wirklich gilt; obwohl ich tatsächlich in Kontakt bin<br />
mit "den Sterbenden" und "den Toten". Es sind immer "die", nicht wahr... die<br />
Sterbenden; selten hören wir "Menschen, die kurz vor dem Tod sind". Man<br />
weiß nicht genau, ob man gerade verdrängt oder nicht, wie ich vielleicht nicht<br />
weiß, ob ich Samsara mache oder nicht (lacht). Wenn ich tatsächlich wüsste,<br />
dass ich Samsara tue, dann (Pause) vielleicht (Pause) würde mich das<br />
misstrauisch machen.
Eine der wichtigen Dinge in den Belehrungen über die sechs oder neun<br />
<strong>Bardos</strong> ist das Wort "Bardo". Etymologisch zerfällt es in "bar", was eine Art<br />
Bewegung oder Fliessen bedeutet, wie ein Bach; und "do" bedeutet eine Art<br />
Insel oder Fels in dem Bach. Es gibt einen Bereich mitten in der Bewegung;<br />
das ist hier die Idee. Es bezieht sich nicht bloß auf die Phase, nachdem du<br />
physisch tot bist, obwohl alle sagen: "Wenn du im Bardo sein wirst...", als ob<br />
wir jetzt nicht drin wären (lacht). "Im Bardo" wie "im Dharma" wie "in the<br />
Navy" (lacht). Also (Pause) der Bardo hat eine Bedeutung ähnlich wie Lücke,<br />
Gestalt, Zeitrahmen oder "Becken von zeitlichem Raum".<br />
Um ein gewisses Verständnis davon zu haben, was Tod ist, muss man<br />
sterben. Du kannst dich nicht an etwas gewöhnen, ohne dieses "etwas" auch<br />
zu "tun". "Den Tod tun" einmal in jeder physischen Lebenszeit ist bei weitem<br />
nicht häufig genug (lacht). Wir müssen so oft wie möglich sterben. Es gibt<br />
nichts, was die Erfahrung des Todes auf dieser Ebene von allem anderen, was<br />
wir tun, trennt. Wenn wir oft genug sterben, werden wir uns daran gewöhnen.<br />
Also... das muss angewendet werden irgendwie - wir müssen "den Tod tun",<br />
wenn wir uns mit ihm vertraut machen wollen. Um "den Tod" oft genug zu<br />
"tun", müssen wir den Moment des Todes jeden Tag entdecken.<br />
<strong>Die</strong> offensichtlichste Art, jeden Tag zu sterben, ist einfach durch das<br />
Einschlafen jede Nacht - aber das Einschlafen ist noch etwas anders. Wir<br />
beginnen hier, indem wir die Praxis des mi-lam <strong>Bardos</strong> betrachten. Das ist<br />
die nächste und offenkundigste Form der Bardo-Praxis in unserem Leben.<br />
Wenn wir Traum-Yoga praktizieren, bereiten wir uns auf den Schlaf vor,<br />
indem wir eine bestimmte Haltung einnehmen. Es gibt außerdem eine<br />
bestimmte Visualisation, die eine von den drei Silben von Aro Lingma<br />
verwendet, entweder<br />
das kurze blaue<br />
'a<br />
das weiße<br />
A<br />
oder das lange rote<br />
A'a'a<br />
(
Wir werden diese Praxis des mi-lam hier betrachten, weil diese Praktiken<br />
miteinander verbunden sind. <strong>Die</strong> Praxis von mi-lam basiert auf der Tatsache,<br />
dass der Einschlaf-Prozess den Prozess des physischen Todes spiegelt -<br />
abgesehen vom Auflösen des Raumes in sich selbst hinein. Mit dem<br />
physischen Tod lösen sich die psycho-physischen Elemente in sich selbst<br />
hinein auf und verschwinden in ursprüngliche die Leerheit. Erde löst sich in<br />
Wasser hinein auf. Wasser löst sich in Feuer auf. Feuer löst sich in Luft auf.<br />
Luft löst sich in Raum auf und Raum in sich selbst. Dann treten wir in den<br />
chö-nyid Bardo ein, in dem sich das klare Licht „des Sohnes“ mit dem klaren<br />
Lichte „der Mutter“ vereinigt. Im Bardo des Schlafens erfährt man nur das<br />
Licht des Sohnes, aber im Bardo des Sterbens lösen sich chö-ku & chö-ying<br />
in den Grund von chö-nyid auf.<br />
Das Schlaf-Äquivalent des nang-wa Bardo ist die Traumphase. Das Schlaf-<br />
Äquivalent des kyé-né <strong>Bardos</strong> ist der Augenblick, wo wir das normale<br />
Wachbewusstsein zurückgewinnen. Das ist ein vollständiger Prozess und man<br />
kann den Tod erfahren, indem man diese <strong>Bardos</strong> praktiziert. Man kann den<br />
Tod erfahren, indem man sich der Auflösung der Elemente bewusst ist. Man<br />
kann den Tod erfahren, indem man in die Dimension des "klaren Lichtes des<br />
Sohnes" eintritt. Man kann ihn ebenso erfahren, indem man vom "klaren<br />
Licht" weggeht in den Traumbardo. Dann kann man vom Traumbardo ins<br />
Wachbewusstsein "sterben". Hier ist es wichtig, zu verstehen, dass man das<br />
Sterben auf diese Weise mit völliger Präsenz erfährt. Normalerweise<br />
bevorzugen wir es, einen Moment wach zu sein und im nächsten zu schlafen.<br />
Wir sind nachlässig darin, in diesem Prozess präsent zu bleiben, weil wir uns<br />
dabei beobachten würden, wie wir auseinanderfallen. <strong>Die</strong>ser Prozess ist sehr<br />
unangenehm hinsichtlich unserer Bezugspunkte. Wir mögen es nicht, uns<br />
auseinanderfallen zu sehen. Das müssen wir anerkennen. Es ist<br />
entscheidend, den Faktor "angenehm" bezüglich des Verlustes von Präsenz<br />
zu verstehen, und ungefähr fünf Minuten um den Prozess von bewusst-zuunbewusst<br />
zu verbringen, wenn wir das Vergessen vermeiden wollen. Wenn<br />
der Einschlaf-Prozess zu schnell erfolgt, verlieren wir lediglich die Präsenz.<br />
<strong>Die</strong> meisten Leute werden von dem Naro Chö-drug, den sechs Yogas von<br />
Naropa gehört haben; oder dem Nigu Chö-drug, den sechs Yogas von<br />
Niguma. Du wirst feststellen, dass diese Praktiken sich mit denen der neun<br />
<strong>Bardos</strong> überschneiden und mit ihnen verwoben sind.
Im Aro gTér ist mi-lam verbunden mit dem Nigu Chö-drug und ist so<br />
zusammengesetzt, das die Praxis des mi-lam, 'ö-sel (klares Licht) & gyü-lü<br />
(Illusionskörper) verbunden sind. Normalerweise wird von ihnen als von drei<br />
getrennten Praktiken innerhalb des Nigu Chö-drug gesprochen, aber im Aro<br />
gTér werden sie innerhalb der Praxis des mi-lam Bardo kombiniert.<br />
Frage: Bezieht sich der kyé-né Bardo speziell auf die Dauer, die man im<br />
Mutterleib verbringt?<br />
Rinpoche: Ja... und auf den Bardo davor. Es ist die gesamte Phase, in der man<br />
Form annimmt. Und dann, wenn du Verwirklichung im kyé-né Bardo hast,<br />
wird das als "ein Mutterleib mit einer Sicht" bezeichnet (lacht). Tut mir leid.<br />
F: Ist Existenz auch einer der sechs <strong>Bardos</strong>?<br />
R: Ja. Sie wird der srid-pa'i Bardo genannt. <strong>Die</strong> Folge ist: kyé-né, srid-pa’i,<br />
mi-lam, samten, chhi-kha’i, chö-nyid, nang-wa und dann wieder kyé-né und<br />
so weiter. <strong>Die</strong>se neun <strong>Bardos</strong> sind mehr oder weniger wie die sechs <strong>Bardos</strong>,<br />
nur gibt es drei zusätzlich. Einer davon ist aus dem chö-nyid Bardo<br />
geschaffen, der zweigeteilt ist. Der erste ist chö-nyid Bardo, der das klare<br />
Licht erfährt. Der zweite ist der nang-wa Bardo, der Teil mit der Erfahrung<br />
der thig-lé. <strong>Die</strong>ser nang-wa Bardo-Teil hat zwei Eigenschaften. <strong>Die</strong> erste hat<br />
mit den thig-lé als einer Methode zur Entwicklung der Dimension der<br />
Traumerfahrung zu tun. Das ist Teil des to-gal Ngöndros innerhalb des Aro<br />
gTér. <strong>Die</strong> zweite Eigenschaft hat damit zu tun, Menschen zu helfen, die<br />
gestorben sind.<br />
F: Als Meditationspraxis?<br />
R: Ja. Das ist eine nicht-liturgische Praxis. Es ist auch eine nicht-symbolische<br />
Praxis im Hinblick auf die Tatsache, dass keine Yidams verwendet werden.<br />
F: Sind es also nur die Formen der thig-lé selber?<br />
R: Ja... oder besser, ihre wesentlichen Schlüssel werden durch symbolischen<br />
Kontakt hervorgerufen. Das Energiefeld, das als thig-lé bekannt ist, wird<br />
durch sel-tong Klarheit-Leerheit hervorgerufen.
F: Normalerweise wird das Bardo-System in einer bestimmten Reihenfolge<br />
vom kyé-né Bardo an gelehrt, und ich frage mich, ob es einen besonderen<br />
Grund gibt, mit dem Tod zu beginnen.<br />
R: Das Aro gTér System bevorzugt es, lieber mit dem Tod als mit der Geburt<br />
zu beginnen, weil innerhalb dieses Systems das durchgehende Verständnis<br />
"des Todes innerhalb des physischen Lebens" der Schlüssel zu allen anderen<br />
<strong>Bardos</strong> ist.<br />
F: Also beginnt es von der Position des chhi-kha’i Bardo; dann der chö-nyid<br />
Bardo; dann der nang-wa Bardo, der Bardo des Sehens; dann der kye-né<br />
Bardo, der srid-pa’i Bardo; der mi-lam Bardo, samten Bardo; und ...<br />
R: Dann der gYo-wa Bardo. gYo-wa bedeutet der Bardo der Bewegung oder<br />
der Bardo der Veränderung, "der Bardo des sich verändernden Moments". Der<br />
neunte Bardo ist der tha-mal-gyi-shé-pa Bardo, der Bardo der<br />
"augenblicklichen Gewöhnlichkeit". Wir verkürzen "tha-mal-gyi-shé-pa Bardo<br />
zu "tha-shé Bardo". Das ist die übliche Zusammenziehung dieses Wortes.<br />
Wie ich vorher gesagt habe, bedeutet das Wort "Bardo" "Raum" oder "Lücke";<br />
ein gewisser Punkt innerhalb eines Bewegungsfeldes. Bardo ist ein<br />
"erkennbares Gebiet", wo Chaos herrscht; und dann ist da ein verständlicher<br />
Aspekt. Der verständliche Aspekt ist "do", das, was nicht als sich bewegend<br />
im Moment erscheint. Wir können das eine "Lücke", einen "Raum" oder ein<br />
"Zeit-Becken" nennen.<br />
Wenn wir die anderen <strong>Bardos</strong> betrachten, sehen wir, dass sie spezifische<br />
Zeitperioden betreffen, wenn etwas geschieht. Entweder wird man geboren,<br />
man stirbt... (lacht). Ein Deutscher fragte mich einmal, ob ich eine humorvolle<br />
deutsche Definition von Leben kenne... Er sagte, sie gehe so, das Leben sei<br />
"ein Unglück kommt selten allein". (Pause) Offensichtlich ist deutscher Humor<br />
anders als Westküsten-Humor (allgemeines Lachen). Vielleicht ist das eine<br />
andere Form von Bardo (lacht). Meditation ist auch als eine Form von Bardo<br />
bekannt - nicht einfach der samten Bardo der meditativen Stabilität, sondern<br />
das reguläre Sitzen, das man praktiziert, und dann hört man auf zu sitzen.<br />
Das ist auch Bardo. Bardo ist der Raum, wo alles, was auch immer im Raum<br />
enthalten ist, eine besondere Art von Duft hat. Der mi-lam Bardo, der<br />
Traumbardo, hat den Duft seiner Träume. Sie könnten Alpträume sein. Sie<br />
könnten erotisch sein...
F: Oder erotische Alpträume?<br />
R: (Lacht) Das tut mir leid. Der srid-pa’i Bardo hat die Qualität der eigenen<br />
Lebensumstände - seiner menschlichen physischen, körperlichen Existenz.<br />
Darum ist gYo-wa Bardo ein Weg, um die Beschaffenheit des srid-pa’i Bardo<br />
in enorm reiche momentane Details hinein zu entwickeln. Es gibt eine<br />
bestimmte Art eines gYo-wa Bardo-Retreats, das du vielleicht ausprobieren<br />
willst. Es ist interessant, dass wir technische Möglichkeiten haben, die diese<br />
Praxis sehr viel leichter machen, als sie es in Tibet war. In Tibet mussten sie<br />
das Gedächtnis und physische Objekte für dieses Retreat benutzen; aber hier<br />
können wir Fotos benutzen. Es ist sehr nützlich, Fotos für ein derartiges<br />
Retreat zu haben, weil man zurück auf seine Vergangenheit blickt. Das ist<br />
sehr interessant, es auszuprobieren: du schaust dir ein Foto von dir an und<br />
fragst: "Gut, wer ist das? Bin das ich? Ja... Ich weiß, das bin ich. Ich weiß, dass<br />
ich zu dem Zeitpunkt bestimmte Sachen gemacht habe... Ich war in der<br />
Schule. Oder vielleicht war ich an der Uni. Ich war, wo immer ich war. Ich war<br />
in dieser Beziehung. Ich trug Kleidung, die genau so aussah. Vielleicht<br />
erinnere ich mich an einige Lieblingsstücke. Ich erinnere mich an all das...<br />
aber kann ich mich erinnern, wie es tatsächlich war, als ich der Besitzer all<br />
dieser Sachen war? Kann ich diese Person wenigstens für einen Moment<br />
wieder sein?" In der tibetischen Tradition schaute man sich gewöhnlich<br />
Objekte an, falls etwas aus der Kindheit übrig geblieben war, ein Spielzeug,<br />
mit dem man gespielt hatte. Man hob es auf und fragte: "Kann ich dieses<br />
Kind sein, das mit diesem Gegenstand spielte?" Und du entdeckst, dass du es<br />
nicht kannst. Vielleicht kannst du da eine Art Gefühl kriegen; aber wie immer<br />
auch diese Erfahrung ist, du bist erwachsen und erinnerst dich an diese<br />
Erfahrung. Was du herausfindest, ist, dass du versagst - es ist tatsächlich<br />
nicht möglich, noch einmal dieses Kind zu sein. <strong>Die</strong>ses Kind ist tot. Innerhalb<br />
des gYo-wa Bardo-Retreats wiederholen wir unser Leben und wir können uns<br />
fragen: "Wie früh reicht meine Erinnerung?"
Wenn du ein Bild von einem Baby siehst, schaust du es an und sagst: "Ich<br />
kann mich überhaupt nicht mehr mit diesem Kind in Beziehung bringen."<br />
Aber nachdem du einer Serie von etwas älteren Kindern angesehen hast,<br />
kommst du bei einem bestimmten Alter an, an das du dich zu erinnern<br />
scheinst. Dann sagst du vielleicht: "Ja. Daran kann ich mich jetzt erinnern. Ich<br />
erinnere mich an einige Ereignisse." Also schaust du dir diese Ereignisse an.<br />
Wenn du eine Serie von Fotos hast, ist es sehr nützlich: du gehst von einem<br />
zum anderen. Du folgst ihnen einem nach dem anderen in chronologischer<br />
Reihenfolge mit dem Versuch, dich damit zu verbinden, und kontinuierlich<br />
misslingt es dir, dich zu verbinden.<br />
F: Du würdest denken, je näher du in die Gegenwart kommst, desto mehr<br />
müsste man in der Lage sein, sich zu verbinden, aber man entdeckt, dass das<br />
nicht wahr ist?<br />
R: Das stimmt. Und das ist unheimlich. In diesem Retreat geht es darum, die<br />
Kontinuität der eigenen Existenz abzubrechen.<br />
F: Man muss also erkennen, dass man nicht kontinuierlich ist?<br />
R: Ja. Man praktiziert das, indem man sein eigenes Leben betrachtet,<br />
besonders, indem man wichtige Ereignisse anschaut.<br />
F: Eine große Sache im Westen ist, dass die meisten von uns einige<br />
Beziehungen hinter sich haben. Das muss sehr nützlich für dieses Retreat<br />
sein...<br />
R: Klar. Ich erinnere mich an Partnerinnen, die mich verlassen haben (tut, als<br />
würde er weinen). "Ich wollte nicht, dass du mich verlässt."<br />
F: Gerade dachte ich, dass diese Person sehr, sehr wichtig für mich war.<br />
R: Ja, und vielleicht habe ich zu Freunden gesagt: "Ich bin jetzt völlig am<br />
Boden zerstört; ich werde nie wieder so jemanden finden." Aber eine Weile<br />
später bin ich mit jemand anderem zusammen und plötzlich ist diese Person<br />
nicht mehr so wichtig. Und jemand sagt: "Hey, ich dachte, du hast gesagt,<br />
das war die einzige auf der ganzen Welt für dich?"
F: Ist das nicht wirklich komisch... wie seine ganze Erfahrung gefärbt ist<br />
durch das, was im Moment geschieht.<br />
R: Ja. Das ist der Bardo der Beziehung.<br />
F: Sie endet. Und dann was? Ich bin in einer anderen; und ich blicke zurück,<br />
und ich kann mich nicht mehr mit ihm in Verbindung bringen.<br />
R: Das ist richtig. Er ist weg... Sie ist weg... jenseits von: ga-té ga-té,<br />
paramour ga-té, paramour sam ga-té bodhi svaha...<br />
F: (Lacht) Also jetzt betrachte ich meinen letzten Freund und denke: Ich habe<br />
diese Person bewundert und jetzt sehe ich, dass diese Person tatsächlich<br />
etwas dumm ist, ich meine, diese Person versteht Dinge nicht besonders<br />
schnell... (lacht).<br />
R: Oder vielleicht denkst du: "Was passiert hier eigentlich? Was hatte die<br />
Person, was sie so besonders machte? Klar ist das eine nette Person. Klar ist<br />
diese Person noch ein Freund. Klar bewundere und respektiere ich sie. Aber<br />
da war diese Elektrizität... wo ist sie jetzt? <strong>Die</strong>se Person ist jetzt wie meine<br />
Schwester oder wie mein Bruder! Vielleicht sehe ich ihn oder sie einmal in der<br />
Woche... Vielleicht sind wir noch gute Freunde... Aber wo ist diese enorme<br />
Leidenschaft geblieben?" Sie ist nicht da. Sie ist verschwunden.<br />
F: Unser Leben ist voller solcher Erfahrungen, nicht wahr.<br />
R: Ja... Menschen, die wir lieben, und die wir dann nicht mehr lieben. Dinge,<br />
die wir mochten, und die wir dann nicht mehr mochten...<br />
F: So, wie ich mich erinnere: das bin ich in meinen ersten Hosen mit Schlag<br />
(lacht). Was denke ich, wie ich jetzt aussehen würde? Damals, als ich dachte,<br />
sie wären so toll... Kennst du die, die man auftrennt und Extrastücke einnäht?<br />
R: In England sagten wir "Segel" dazu. Wir schnitten unsere Lewis an den<br />
Seiten auf und nähten Segel ein... und wir machten sie richtig weit. Mein<br />
Bruder und ich hatten diese großartige Idee - ich bin nicht sicher, ob irgend<br />
jemand sonst auf der Erde das jemals gemacht hat (lacht). Wir beide<br />
bekamen jeder eine Lewis und dann kauften wir eine dritte. Wir sagten zum<br />
Verkäufer: "Wir wollen die größte, die Sie auf Lager haben, die weiteste Taille<br />
und die längsten Beine." Wir nahmen sie mit nach Hause, trennten die Nähte<br />
auf, schnitten sie auseinander und machten riesige "Segel". Wir haben<br />
Ewigkeiten dafür gespart, um das zu machen (lacht). Der Schlag unserer Levis<br />
war weiter als die Taille. Das war es damals, für die, die ausreichend<br />
besessen davon waren.
Und dann musstest du versuchen, damit Fahrrad zu fahren, was bedeutete,<br />
dass du sie um deine Beine herumwickeln musstest und Bindfäden um sie<br />
binden musstest, damit sie nicht in die Kette kamen. Das Großartige war,<br />
dass niemand anderes solche hatte! Einen Meter Schlag! (Lacht) Wir hätten<br />
eine Herde Yaks mit diesen Lewis überdachen können.<br />
F: Aber du würdest sie heute nicht tragen...<br />
R: (Lacht) Du hast wohl recht. Mode ist großartig dafür. Man glaubt, dass<br />
spirituelle Praxis im Osten leichter war. Das ist Romantizismus. Tatsächlich<br />
ist es nicht irgendwo leichter oder schwerer, sondern einfach<br />
"unterschiedlich". Es ist wichtig, die Vorteile des Westens zu sehen, die man<br />
normalerweise nicht als Vorteil sieht. Mode ist ein großartiger Vorteil für<br />
diese Praxis; besonders, wenn du sie auf extreme Weise durchläufst.<br />
F: Du siehst dich an und sagst: "Und ich dachte, das hätte echt Stil, ich war<br />
stolz auf diese..."<br />
R: ... und jetzt bin ich hier und spreche zu einem Raum voller Leute und<br />
mache Witze darüber. Ja.<br />
F: Es ist faszinierend, dass unsere Wahrnehmung sich so sehr ändern kann.<br />
Und es ist nicht so, als hätte ich jetzt die Irrtümer meines Weges gesehen<br />
und dass ich niemals Dinge tragen würde, über die ich in zehn Jahren wieder<br />
lachen würde. Also wo immer ich auch bin... (unterbricht)<br />
R: ... gibt es eine subjektive Qualität, die eine ganze Bandbreite an<br />
Wertschätzung und Bedeutung hat. In dieser Praxis geht es darum, sein<br />
Leben zu betrachten, und das in immer kleiner werdenden Zeitabschnitten zu<br />
tun. Es ist offensichtlich, je näher du an die Gegenwart kommst, desto kleiner<br />
werden die Zeitabschnitte, die du voneinander trennen kannst, bis du das<br />
Gestern betrachtest. <strong>Die</strong> Qualität von gestern (yesterday)..."<br />
F: "... all my troubles seemed so far away, now it looks as though they're here<br />
to stay..." ("Gestern schienen meine Sorgen soweit fort, aber heute bleiben<br />
sie genau an diesem Ort..." - Hit der Beatles)<br />
R: (But I don't believe in yesterday (lacht).) Aber ich glaube nicht an gestern<br />
(lacht).<br />
F: Das ist wie als ich morgens aufstand, schlechte Laune hatte und diesen<br />
Brief bekam, der mir mitteilte, dass ich den Höchstbetrag meiner Kreditkarte<br />
überschritten hatte. Oder ein Freund rief mich an und war sehr gereizt mir<br />
gegenüber; und das war gestern. Und heute wache ich auf, ich habe einiges<br />
an Geld gewonnen. Ich bekam einen netten Brief. Das Wetter ist genau, wie<br />
ich es mag. Jetzt fühle ich mich anders.
R: Dann gibt es "hier", wo wir jetzt sind. Vorher gab es "diesen Morgen".<br />
Dann gab es den Bardo der "Geschichte meines Bruders und unserer Lewis<br />
und es gab ein Gefühl dazu, als diese Geschichte erzählt wurde. Dann gab es<br />
den Bardo des Mittagessens". Jetzt gibt es den Bardo des "hier".<br />
Im Hinblick auf die Praxis des täglichen Lebens ist es wertvoll, wenn du in<br />
einer Stadt wohnst. Leute denken immer, dass das Land besser für die Praxis<br />
ist, aber die Stadt macht es sehr leicht, immer kleinere <strong>Bardos</strong> zu haben: ich<br />
setze mich in den Wagen. Ich fahre. Ich steige aus. Ich steige in den Zug. Ich<br />
setzte mich. Ich komme an diesen Ort. Ich steige aus. Ich gehe zu meiner<br />
Arbeitsstelle. Ich gehe durch die Tür. Ich gehe die Treppe hoch. Ich betrete<br />
den Fahrstuhl. Was immer ich tue... jedes Segment kann kleiner werden...<br />
bis... man.... fortwährend aus dem Nichts herausspringt. Das ist die Natur der<br />
Praxis des gYo-wa Bardo. Ich muss die Beschaffenheit jedes Moments<br />
schätzen. Ich muss erkennen, was in jedem Moment vorhanden ist. Es gibt<br />
das Hier-drin-Sein mit diesen Farben... Als ich darüber in New York sprach,<br />
sagte jemand: "Macht das dich nicht völlig unverbunden?" (Lacht) Aber gYowa<br />
Bardo hat diese Qualität ganz und gar nicht, weil man total und<br />
vollständig da sein muss, wo man gerade ist. Man muss Dinge aktiv<br />
wertschätzen, um unterscheiden zu können, was anders ist. Wenn ich nicht<br />
unterscheiden kann, was anders ist, kann ich nicht die zunehmend kleiner<br />
werdenden <strong>Bardos</strong> erkennen: draußen ist es wärmer; hier drin ist es kühler.<br />
<strong>Die</strong> Farben sind anders. Das Licht ist anders. Es ist ein völlig anderes Gefühl,<br />
"drin" zu sein. Ich muss das wertschätzen, um in der Lage zu sein, es von<br />
"draußen" zu unterscheiden. Ich bemerke den Übergang. Ihr als das Publikum<br />
von Apprentices bemerkt vielleicht die Übergänge bei dem, was hier<br />
ausgeführt wird. Es gab Phasen, wo ich versuchte, amüsant zu sein. Es gab<br />
Phasen, wo ich offenkundig nicht versuchte, zu amüsieren. Du könntest eine<br />
ständige unausgesprochene Frage haben: "Was ist der Unterschied zwischen<br />
diesem Moment und dem letzten? Wie höre ich das? Was ist der Bardo dieses<br />
Moments?"<br />
F: Geht es darum, die Veränderung mitzukriegen?<br />
R: Ja. Das ist jetzt tot. Es ist weg. Und nun gibt es dieses.<br />
F: Also darum beginnen die neun <strong>Bardos</strong> von Aro Lingma mit dem Tod?<br />
R: Klar. Es fängt nicht mit dem Tod an, weil es ein morbides System ist<br />
(lacht). Es fängt mit dem Tod an, weil wir Bardo so innerhalb des Flusses<br />
unseres physischen Lebens erfahren.
F: Indem wir in dem vorhergehenden Moment sterben; und dann: "Peng!<br />
Anders!"<br />
R: Genau. Alles muss sterben, um im nächsten Moment geboren werden zu<br />
können und um es vollständig erfahren zu können. Man entwickelt diese<br />
Qualität, wie alles sich ständig ändert. Wie es jeden Moment ein anderer<br />
Moment ist. Eine andere Zeit. Es ist offensichtlich, dass man an dieser Praxis<br />
beständig arbeiten muss.<br />
F: Um längere Zeit-Perioden zu betrachten wie "heute": worin liegt der<br />
Unterschied?<br />
R: Ja, und wie ist dann heute morgen anders? Im Restaurant zu sein. In<br />
diesem Auto zu sein und zu versuchen, zurück nach Alameda zu kommen,<br />
aber Sky Tiger besteht darauf, zu versuchen, über die mexikanische Grenze<br />
zurück zu kommen (lacht). Das ist eine Praxis, an der man über eine Periode<br />
von Monaten arbeiten muss, wenn man die Fragmente des Lebens<br />
verkleinern will. Das muss allmählich geschehen... Aber das heißt nicht, dass<br />
man nicht einen Moment erfahren könnte.<br />
F: Aber im Prinzip sollen wir versuchen, diese Praxis zu leben?<br />
R: Das ist richtig. Wir entwickeln einfach eine Wertschätzung für jeden Raum,<br />
in dem wir uns wiederfinden. Wir werden sensitiv für den Moment der<br />
Veränderung. Wir erkennen den vergehenden Moment: "Das ist weg. Das ist<br />
tot. Jetzt dieses". Sobald wir erkennen, dass der vergangene Moment tot ist,<br />
befinden wir uns an dem wunderbaren Rand des nächsten Moments und<br />
fragen, ohne zu fragen: "Wie ist dieser anders?"
F: Also nicht auf analytische Weise?<br />
R: Nein, auf eine Weise, die einfach offen für das ist, was da ist. Der<br />
Aufenthaltsraum. Jetzt bin ich draußen. Ich bin irgendwo anders. Ich bin in<br />
der Küche. Ich bin im Schlafzimmer. Es gibt in jedem Moment eine völlig<br />
andere Zone so unterschiedlich wie Auto, Flughafen, Flugzeug, anderes Land.<br />
Das Schlafzimmer ist ein anderes Land. <strong>Die</strong>ser Teil des Schlafzimmers. Im<br />
Bett sein. Jeder Ort ist anders.<br />
F: Und das kann einfach immer zunehmen?<br />
R: Das ist richtig. Weißt du, jede Praxis innerhalb des Buddhismus ist in<br />
Wirklichkeit die Praxis von Leerheit und Form. Sutra, Tantra, Dzogchen, es ist<br />
immer Leerheit und Form. Es gibt so viele unterschiedliche Arten, mit<br />
Leerheit und Form zu arbeiten. Wenn man zum Beispiel tong-len praktiziert.<br />
Tong-len ist der Austausch des Ich mit dem anderen: mental übernimmt man<br />
alle Probleme des anderen und gibt ihm die eigenen Vorteile. Das ist eine<br />
Leerheit & Form Praxis. In der Hinsicht, anderen zu helfen, sich nicht an die<br />
erste Stelle zu setzen, ist es Leerheit; und Form in Hinsicht auf Ich und<br />
andere.<br />
F: "Ich" ist Leerheit und "andere" ist Form.<br />
R: Das ist richtig.<br />
F: Das ist also ein Weg, sich der Nicht-Dualität zu nähern?<br />
R: Sicher. Das ist ein Weg, der typisch für die Praxis des Sutra ist. Man löst<br />
die Grenzen zwischen sich und dem anderen auf, um die Verbundenheit mit<br />
allem zu erkennen. Das ist einer der Zugänge. Wenn wir die vier Naljors<br />
betrachten, ist der Zugang nè-pa und gYo-wa. <strong>Die</strong> erscheinenden namthog<br />
und der leere Geisteszustand und die Frage: "Was ist dasselbe in diesen<br />
beiden Erfahrungen?" Das beruht auf meditativer Erfahrung hinsichtlich des<br />
Auftauchens von namthog. Aber hier bei der Praxis der <strong>Bardos</strong> betrachten wir<br />
einen anderen Aspekt von Leerheit und Form: Kontinuität und Diskontinuität.<br />
Kontinuität ist Form. Diskontinuität ist Leerheit. Wir nähern uns der Nicht-<br />
Dualität durch ein Verstärken der Qualität von Diskontinuität. Wir machen<br />
das Leben völlig unterbrochen. Es gibt eine zunehmende Unverbundenheit.<br />
Unverbundenheit jede Sekunde. Der Moment wird kleiner und kleiner und<br />
kleiner, bis alles Gefühl für Kontinuität in sich zusammenfällt. Und dieser<br />
Punkt, an dem die Kontinuität zerstört ist, heißt tha-shé Bardo oder tha-malgyi-shé-pa<br />
Bardo. Tatsächlich ist tha-mal-gyi-shé-pa Bardo die Frucht des<br />
gYo-wa Bardo. Wie ich schon gesagt habe, bedeutet tha-mal-gyi-shé-pa<br />
"augenblickliche Gewöhnlichkeit". Sobald Kontinuität zerstört ist, erscheint<br />
sie wieder als der fortlaufende Moment der "großen Zeit".
Man ist wieder fortlaufend, aber das, was fortlaufend ist, ist leer. Man<br />
erreicht den nicht-dualen Punkt der Erkenntnis des einen Geschmackes von<br />
Kontinuität und Diskontinuität. Das ist die Essenz des tha-mal-gyi-shé-pa<br />
<strong>Bardos</strong>: einfach den Tod zu erkennen - und im nächsten Moment zu sein. In<br />
der Praxis des tha-mal-gyi-shé-pa <strong>Bardos</strong> muss man überhaupt gar nichts<br />
tun... abgesehen davon, dass man lebt, wie man sowieso leben würde. Es ist<br />
eine Praxis der völligen Integration. Es gibt keinen Aspekt des Lebens, mit<br />
dem man irgend etwas "tun" muss. Jeder Moment des Lebens ist Praxis. Es<br />
gibt keine Zeit, wo man nicht praktiziert (lacht), abgesehen von der Zeit, wo<br />
du nicht praktizierst, nämlich wenn du dir der Unverbundenheit nicht mehr<br />
bewusst bist. Es ist eine Praxis, Unverbundenheit zu erkennen, bis die<br />
Unverbundenheit so schnell wird, dass sie in sich selbst verschwindet und<br />
Kontinuität wird.<br />
F: Aber es ist diskontinuierliche Kontinuität?<br />
R: Das ist richtig; oder ein Zustand, in dem Kontinuität und Diskontinuität<br />
keine Bedeutung mehr haben. Bardo ist so klein geworden, dass er als<br />
Bezugspunkt nicht mehr verlässlich ist.<br />
F: Also löst er sich auf...<br />
R: Ja.<br />
F: Aber dann machen wir da wieder!<br />
R:Ja. Man erzielt darin einen Erfolg, man erhascht einen Augenblick der<br />
"großen Zeit"; und dann verschwindet er, weil man wieder Zuflucht zur<br />
kleinen Zeit nimmt.<br />
F: Wir suchen hier nicht die Leerheit, oder?<br />
R: Nein, wir streben nach Form, der Form des nächsten Moments.<br />
F: Also liegt der Tod hinter dir?<br />
R: Ja, genau. Das ist ein anderer Zugang. Tod ist der Ausgangspunkt.<br />
F: Darum beginnt es im chhi-kha’i Bardo mit dem Tod.<br />
R: Das ist richtig. Ja. Dann bewegst du dich zur Form, aber vom Tod aus. Der<br />
Tod ist wesentlich. Ohne den anfänglichen Tod kann Geburt nicht<br />
stattfinden.<br />
F: Also bewegt man sich direkt vom Tod in die Geburt.<br />
R: Ja, das ist die Art des gYo-wa <strong>Bardos</strong>.<br />
F: Aber könnte man auch mit der Geburt beginnen?<br />
R: Ja, deswegen beginnt das System der sechs <strong>Bardos</strong> mit der Geburt. Aber es<br />
ist dasselbe, ob du nun mit der Geburt oder mir dem Tod beginnst.<br />
Tatsächlich macht es keinen Unterschied.
F: Rinpoche, ich habe gehört, dass du und Khandro Déchen Leuten ratet, die<br />
nicht viel Zeit für formale Praxis haben, die neun <strong>Bardos</strong> oder speziell der<br />
gYo-wa Bardo als Hauptpraxis zu machen.<br />
R: Ja, sicher. Besonders Khandro Déchen hat Apprentices häufig diesen Rat<br />
gegeben. Ich sollte betonen, dass das eine wertvolle Praxis für Mütter ist.<br />
F: Das ist eine großartige Praxis der Leerheit in sich selbst, nicht wahr?<br />
R: Sicher. Aber bezüglich des gYo-wa Bardo ist es eine Praxis, in der Leerheit<br />
retrospektiv ist. Leerheit wird kontinuierlich auf den vorhergehenden Moment<br />
verlagert. Der vorhergehende Moment haucht kontinuierlich seine Existenz<br />
aus. Tot. Tot. Tot tot tot. Beim stillen Sitzen bewegt man sich normalerweise<br />
Richtung Leerheit; aber hier ist die Leerheit immer gerade genau hinter mir.<br />
Ich würdige die Form des nächsten Moments mit frischer Lebendigkeit, wie er<br />
ins Sein kommt. Und dann, sobald er da ist, stirbt er ebenfalls in den<br />
nächsten Moment hinein.<br />
F: Aber ich muss leer sein, um die Form wertzuschätzen, die gerade<br />
entstanden ist.<br />
R: Ja, es ist die Form, die gerade erst entstanden ist. Das wird dann<br />
außergewöhnlich reich, klar, lebendig, kunstvoll und dennoch weit.<br />
F: Das klingt wie die fünf Elemente...<br />
R: Das ist richtig. <strong>Die</strong> fünf Elemente: reich, klar, lebendig, kunstvoll und weit;<br />
Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum.<br />
F: Also ist gYo-wa Bardo wie eine Umkehrung des üblichen Verfahrens im<br />
shi-nè, wo man Leerheit anstrebt?<br />
R: Genau. Das ist doch ziemlich faszinierend... faszinierend, dass es möglich<br />
ist... Leerheit, indem man auf Leerheit zielt, indem man den letzten Moment<br />
in Leerheit verwandelt. Da Form Leerheit ist und Leerheit Form, ist das<br />
unvermeidlich.<br />
F: Tatsächlich können wir das dann nicht vermeiden, oder? Ich meine, eine<br />
Praxis wie diese kehrt wirklich unsere Systeme um und sagt: "Okay, du hast<br />
Angst vor Leerheit? Okay, also liegt sie hinter dir."<br />
R: Aber du hast eine neue Form und die neue Form ist leer.<br />
F: Das ist eine Art Trick, wirklich, oder nicht...<br />
R: Sicher. Vajrayana ist voller Tricksereien dieser Sorte.<br />
F: Weil wir es gewohnt sind, auf Form zu zielen?<br />
R: Ja, deshalb liegt die Betonung hier auf der Wertschätzung der nächsten<br />
Form. Aber wenn wir wirklich die nächste Form schätzen, muss die vorherige<br />
sterben. Das ist das Prinzip.
Also... Tod ist nur etwas, mit dem du dich abfindest, wenn du stirbst. Du<br />
musst Erfahrungen haben im Sterben, wenn du dich mit dem Tod abfinden<br />
willst.<br />
F: Gut... und, wie du gesagt hast, sich in der städtischen Leichenhalle oder im<br />
Hospiz aufzuhalten, würde nicht reichen.<br />
R: Richtig. Du musst das städtische Hospiz in dir selbst sein. Du musst die<br />
Leichenhalle werden. Dein Wahrnehmungsfeld muss die Leichenhalle deiner<br />
vergangenen Erfahrung werden. Deine vergangene Erfahrung hört nicht auf<br />
zu sterben.<br />
F: Also... wenn man wirklich in der Lage wäre, im Moment des<br />
kontinuierlichen Entstehens zu leben, dann wäre der Tod kein großes<br />
Problem mehr?<br />
R: Genau. Weil man erkennt, dass man kontinuierlich stirbt. Dann erkennen<br />
wir, dass Kontinuität eine selbstgeschaffene Illusion ist.<br />
F: Also schneiden wir diese Vorstellung von Kontinuität ständig ab.<br />
R: Ja. Und wenn wir das schaffen, dann ist Tod kein Problem; besonders,<br />
wenn wir auch mi-lam praktizieren. Mit mi-lam werden wir die Erfahrung der<br />
Auflösung des konzeptuellen Bewusstseins durch die Elemente machen. <strong>Die</strong><br />
beiden Praktiken fügen sich perfekt ineinander.<br />
F: Und dann gibt es auch noch gyü-lü, eine ähnliche Praxis, oder? Könntest<br />
du etwas darüber sagen?<br />
R: Ja. Das habe ich heute morgen nicht behandelt. Beim gyü-lü wachen wir<br />
auf und machen einen Ton auf einer der Silben aus dem mi-lam: entweder<br />
das kurze blaue 'a, das weiße A oder das lange rote A'a'a. Nach dem Ton auf<br />
der mi-lam Silbe besteht die Praxis darin, einfach aufzustehen und die erste<br />
halbe Stunde oder Stunde deines Lebens so zu leben, als wäre es ein Traum.<br />
Man betrachtet bewusst alles, als wäre es unwirklich. Das wird gyü-lü<br />
genannt. Und das ist ein anderer Prozess von Leerheit und Form in Hinsicht<br />
auf den einen Geschmack: es ist der eine Geschmack der Träume und der<br />
Realität im Wachzustand. "Traumzustand" und "Wachzustand" werden ein<br />
nahtloses Kontinuum. Das Bewusstsein, das träumt und das Bewusstsein, das<br />
"wach" ist, haben denselben Geschmack. Man erfährt Nicht-Dualität durch<br />
die Integration von Traumzustand und Wachzustand. Das ist genau die Art<br />
von Belehrungen, die typisch ist für alles innerhalb des Aro gTer. Es ist die<br />
Erfahrung des einen Geschmacks zweier Elemente, die Leerheit & Form<br />
repräsentieren: Kontinuität und Diskontinuität; Traumzustand und<br />
Wachzustand; nè-pa und gYo-wa. Es ist immer nyi-mèd, die beiden haben<br />
einen Geschmack.
<strong>Tara</strong> <strong>Sattva</strong> Institut<br />
Autor: Shanti E. <strong>Morawa</strong><br />
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