18.11.2013 Aufrufe

Romane 1900 bis 1950 vom 12. Juli 2011 - Heinrich Detering

Romane 1900 bis 1950 vom 12. Juli 2011 - Heinrich Detering

Romane 1900 bis 1950 vom 12. Juli 2011 - Heinrich Detering

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Romane</strong><br />

in der deutschen Literatur <strong>1900</strong>-<strong>1950</strong><br />

<strong>Heinrich</strong> <strong>Detering</strong>,<br />

Sommersemester <strong>2011</strong>


Rainer Maria Rilke:<br />

Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge<br />

(erschienen 1910)


„… le développent infiniment“: Entwicklungsroman<br />

als Roman eines weltverneinenden Scheiterns<br />

im Sinne des Übergangs <strong>vom</strong> Naturalismus<br />

zur décadence (Herman Bang, Jens Peter Jacobsen, Thomas Mann) –<br />

oder ein modernistischer Anti-Roman ohne kontinuierliche Handlung<br />

und ‚Entwicklung‘, als Selbstreflexion eines ‚neuen Sehens‘?


Henrik Ibsens letztes Drama Wenn wir Toten erwachen. Ein<br />

dramatischer Epilog (1899) als Modell einer Selbstaufhebung der Kunst:<br />

Malte:<br />

„Dass man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit<br />

gewesen sein. Ich habe nie jemanden erzählen hören.“


Rilke, Werk-Skizze zum Malte Laurids Brigge, um 1908<br />

M. L. vient à Paris au mois de Mars; le Printemps commence peu après, et<br />

l‘entraine. Le Printemps de Paris. Quoique déjà effrayé par quelques de<br />

ces impressions, il commence à s‘ouvrir de plus en plus. Il note ce qu‘il<br />

voit. Mais tout en observant, faiblement encore, il se concentre intérieurement<br />

etil retrouve ses loins souvenirs, beaucoup de ceux qu‘il croyait perdus<br />

à jamais [Souvenirs d‘enfance, des voyages]. Il est innondé des souvenirs;<br />

il écrit, il est très attentif, il aperçoit beaucoup sans s’en rendre<br />

compte. C’est l’été qui se passe ainsi au Luxembourg, au bord de la Seine,<br />

dans les Musées. Voilà l‘automne. La visite chez Rodin … et le Salon où il<br />

admire l‘exposition Cézanne, le développent infiniment. La sensibilité est<br />

montée à un très haut dégrès; il est tout prêt de compréhensions tout à fait<br />

avancées: (Ibsen, Duse, la Dame à la Licorne, …) et c‘est ici que commence<br />

la crise tragique qui s‘empare de ses forces accumulées et qui l‘entraine<br />

vers le néant. Et cela donne pourtant une ligne qui monte. La fin<br />

c‘est comme une ascension sombre vers un ciel non terminé. – Ce sera<br />

pour moi ma Porte de l‘enfer. Il faudra faire tous les groupes possibles,<br />

pour les placer après dans un vaste ensemble …


„tous les groupes possibles, … dans un vaste ensemble“:<br />

Auguste Rodin: La Porte d‘enfer (Musée Rodin, Paris)


Paul Cézanne: Montagne Saint-Victoire


Rodins Gestaltbildung aus dem Fragmentarischen, Cézannes Blick,<br />

Baudelaires Ästhetik des Hässlichen (Une charogne / Ein Aas), die<br />

Teppiche der Dame mit dem Einhorn:<br />

<strong>vom</strong> „neuen Sehen“ zur „Zeit der<br />

anderen Auslegung“ („und es wird kein<br />

Wort auf dem anderen bleiben“) –<br />

Kunst → Liebeskonzepte → Mystik<br />

siehst du: sie zeigt dem<br />

Einhorn sein Bild


Von der „intransitiven Liebe“ der „großen<br />

Liebenden“<br />

zur Gottesliebe des „Verlorenen Sohnes“<br />

als dessen, „der nicht geliebt werden wollte“:<br />

„den geliebten Gegenstand mit den Strahlen<br />

seines Gefühls zu durchscheinen, statt ihn darin<br />

zu verzehren.“<br />

„… daß die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so<br />

eitel waren.“<br />

(Neue Schluss-Variante statt des Tolstoj-<br />

Schlusses:<br />

eine Wiederkehr des Erzählens<br />

in der Transformation des biblischen<br />

Gleichnisses –<br />

als offener Schluss.)


Vom „Ende des Erzählens“ zur Prosa der Avantgarde<br />

Carl Einstein:<br />

Bebuquin oder<br />

Die Dilettanten des<br />

Wunders (1912)<br />

• der „lyrische Roman“ als<br />

„absolute Prosa“:<br />

• Komposition assoziativalogischer<br />

und akausaler<br />

Assoziationssequenzen<br />

• in (behaupteter) Analogie<br />

zur ‚reinen Bildlichkeit‘


Gottfried Benns Gehirne (1915) u. a. Rönne-Novellen<br />

als Gegenstück zu Einstein<br />

(… und der Roman des Phänotyp / Der Ptolemäer 1941-49)


„Der Weltkrieg“ als thematisches Brennglas divergierender<br />

Erzählformen: Gottfried Benns Rönne-Komplex (seit 1915),<br />

Ludwig Renn, Krieg (1928) / Nachkrieg (1930)<br />

Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues (1929)<br />

Ernst Jünger, In Stahlgewittern (1920 u. ö.) / Das Wäldchen 125


Romanformen nach dem vermeintlichen „Ende des Romans“<br />

• Hinwendung zu nicht-modernen Schauplätzen (historisches Erzählen:<br />

Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Stefan Zweig, Ricarda Huch;<br />

völkisch-präfaschistische „Heimatkunst“: Gustav Frenssen, Erwin Guido<br />

Kolbenheyer, Hans Grimm, Blunck; moderne „Heimat“-Literatur in<br />

aufklärerischer Absicht: Ödön von Horváth, Marieluise Fleißer)<br />

• Hinwendung zu sozialistischen Zukunftsperspektiven (Anna Seghers,<br />

Arnold Zweig, Leonhard Frank, Johannes R. Becher)<br />

• moderne Experimente mit vormodernen Genres wie Legende, Märchen,<br />

Mythos (Thomas Mann, Hermann Hesse, Hans Henny Jahnn, Werfel)<br />

• narrative Experimente mit traditionellen Genres (Leo Perutz zwischen<br />

Kriminalgeschichte und phantastischem Roman)<br />

• moderne Wiederaufnahmen barocker Erzählformen (Fritz von<br />

Herzmanovsky-Orlando, Heimito von Doderer, Wolf von Niebelschütz)<br />

• modernitätskritische Satire (<strong>Heinrich</strong> Mann)<br />

• bürgerliche Familienromane in neusachlicher Perspektive (Hans<br />

Keilson)<br />

• neusachliche Pícaro- / Pícara-<strong>Romane</strong> (Erich Kästner, Irmgard Keun)


Die Pícara im Dickicht der Städte:<br />

Irmgard Keun, Das kunstseidene Mädchen (1932)<br />

• „Neue Sachlichkeit“: anti-avantgardistischer und antibürgerlicher<br />

Gestus<br />

• linke, jedoch nicht ‚dogmatisch‘ sozialistische Zeitkritik<br />

• die Welt der Angestellten (Erich Kästner, Fabian; Martin Kessel, Herrn<br />

Brechers Fiasko; Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?)<br />

• in dezidiert ‚weiblicher‘ Perspektive: soziologisch, diskursiv, im<br />

Genre-Spiel mit dem Pícara-Roman


Pikareskes Erzählen in systematischer und historischer Perspektive<br />

• soziale ‚Untersicht‘<br />

• satirische, dezidiert amoralische Grundhaltung<br />

• im Durchgang durch ein Gesellschafts-Panorama<br />

• der Held als – nach der schockhaften Initiation („dass ich allein bin“) –<br />

prinzipiell unwandelbarer Blickpunkt, als narrative ‚Sonde‘<br />

• immer dieselben pessimistischen Grunderkenntnisse<br />

• in immer neuen sozialen Kostümierungen<br />

• in einer erzählerisch prinzipiell unabschließbaren Episodenstruktur<br />

(Fortuna statt Fatum)<br />

• rahmenlos (Lazarillo de Tormes, anonym 1552)<br />

• oder gerahmt nach dem Schema von Sünde und Buße (Mateo Alemán,<br />

Guzman de Alfarache, 1599)<br />

• als weibliche pícara-Erzählung zuerst in La pícara Justina (1605),<br />

• in Deutschland seit dem Barock etabliert („Landstörzer“), in<br />

männlicher pícaro- (Grimmelshausen: Simplizissimus) und weiblicher<br />

pícara-Variante (Grimmelshausen: Die Landstörzerin Courasche),<br />

• so auch in anderen Nationalliteraturen (etwa Defoe, Moll Flanders)


Am Ende der Vorlesung: Deutsche <strong>Romane</strong> der Frühen Moderne<br />

1899-1902 Wilhelm Raabe, Altershausen (abgebrochen)<br />

[ <strong>1900</strong> Arthur Schnitzler, Leutnant Gustl ]<br />

1901 Thomas Mann, Buddenbrooks<br />

1903 Toni Schwabe, Die Hochzeit der Esther Franzenius<br />

1905 <strong>Heinrich</strong> Mann, Professor Unrat (1918 Der Untertan)<br />

1906 Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß<br />

1910 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge<br />

1912 Thomas Mann, Der Tod in Venedig / Carl Einstein, Bebuquin<br />

1914/15 Franz Kafka, Der Proceß (erschienen 1925)<br />

1915 Alfred Döblin, Die drei Sprünge des Wang-lun; Benn, Gehirne<br />

1920/22 Franz Kafka, Das Schloß (erschienen 1926)<br />

1924 Thomas Mann, Der Zauberberg<br />

1928 Remarque, Im Westen nichts Neues / Seghers, Aufstand der Fischer<br />

1929 Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz<br />

1930 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften<br />

1932 Joseph Roth, Radetzkymarsch / Irmgard Keun, Das kunstseidene<br />

Mädchen


Die (produktiven) „Krisen der Moderne“,<br />

die (Frühe) Moderne als produktive Krise:<br />

• die „Krise des Subjekts“ – und die neuen Formen des Ich-Erzählens<br />

• die „Krise der Sprache“ – und die Entfaltung neuer<br />

Sprachmöglichkeiten<br />

• die „Krise des Erzählens“ – und seine Neubegründungen bei Döblin,<br />

Kafka, Musil, Thomas Mann<br />

• der „Tod Gottes“ – und ein weites Panorama religiöser Erzählformen<br />

„…den Stein wieder steinern gemacht“<br />

(Viktor Šklovskij)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!