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Oktober 2012 - Lebendige Gemeinde

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Aufbau der württembergischen Bildungspyramide<br />

war zudem – wie sich im Rückblick<br />

zeigt – jene entscheidende Weichenstellung,<br />

die aus Württemberg das Volk<br />

der Dichter und Denker gemacht hat.<br />

Protestantische Führungsmacht<br />

Württemberg<br />

Württemberg war erst 1534 für die Reformation<br />

gewonnen worden und – dank<br />

seiner rigiden Umgestaltung – rasch zum<br />

evangelischen Musterstaat geworden.<br />

Ihm fielen schon früh Führungsaufgaben<br />

zu. So wurde etwa von hier aus der einzige<br />

ernsthafte Versuch unternommen, die<br />

Glaubensspaltung doch noch zu überwinden.<br />

Eine württembergische Delegation<br />

besuchte – auch für weitere evangelische<br />

Gebiete sprechend – das Konzil von Trient,<br />

um dort ihre Sache zu vertreten. Als<br />

sie nicht angehört wurde, trat die Festschreibung<br />

des neuen Glaubens immer<br />

mehr in den Vordergrund. Dazu trug bei,<br />

dass sich das kleine Württemberg dauernd<br />

in bedrängter Diaspora-Situation<br />

befand und sich ständig in seiner Existenz<br />

bedroht fühlte. Deshalb wurde der<br />

neue Glaube schon 1565 durch einen<br />

„Landtagsabschied“ verfassungsrechtlich<br />

abgesichert. Es gibt ein eigenes württembergisches<br />

Glaubensbekenntnis, die „Confessio<br />

Virtembergica“. Über 200 Jahre gab<br />

es – wiederum nur für Württemberg – einen<br />

eigenen Kalender, weil man 1582 den<br />

„papistischen“ Gregorianischen Kalender<br />

nicht übernehmen mochte.<br />

Der Pietismus setzt<br />

die Reformation fort<br />

Ab dem späten 17. Jahrhundert wurde der<br />

Pietismus in Württemberg heimisch. Mit<br />

seiner Bindung an das Wort der Heiligen<br />

Schrift, der Betonung des persönlichen<br />

Glaubens und einem davon geprägten Leben<br />

hat er Anliegen der Reformation aufgräbnisgarten<br />

der Brüdergemeinde Korntal<br />

gibt gleichsam Anschauungsunterricht<br />

über evangelische Missionsarbeit in aller<br />

Welt.<br />

Es fällt auf, wie viel universal gebildete<br />

Männer den württembergischen Pietismus<br />

geprägt haben: Der fromme und hoch<br />

gelehrte Johann Albrecht Bengel (1687<br />

– 1752), der als Klosterpräzeptor von<br />

Denkendorf Generationen von Pfarrern<br />

ausbildete, war – wie viele seiner Schüler<br />

– ein Bibeltheologe von Rang. Das Universalgenie<br />

Friedrich Christoph Oetinger<br />

(1702 – 1782) beherrschte mühelos das<br />

gesamte Wissen seiner Zeit einschließlich<br />

der Naturwissenschaften. Philipp Matthäus<br />

Hahn (1739 – 1790) ersann Weltspitzenleistungen<br />

der Mechanik, um seinen<br />

Mitmenschen im Zeitalter der Aufklärung<br />

die Vollkommenheit der Schöpfung Gottes<br />

anschaulich zu machen. Der Bengel-<br />

Schüler Johann Friedrich Flattich (1713 –<br />

1797) war ein pädagogisches Naturtalent.<br />

Der Pietismus kam als Untergrundbewegung<br />

ins Land; er wurde lange von<br />

staatlicher und kirchlicher Obrigkeit argwöhnisch<br />

beäugt und es gab Lehrzuchtvergenommen<br />

und weitergeführt. Ihm ist die<br />

Bibel der Liebesbrief Gottes an die Menschen<br />

und die Summe aller göttlichen und<br />

menschlichen Weisheit. Das Studieren und<br />

Forschen in der Schrift „wie es sich verhielte“<br />

hat dann Württemberg zum Volk der<br />

Tüftler und Erfinder gemacht. Bis heute<br />

kommen die meisten Patentanmeldungen<br />

in Deutschland aus Württemberg.<br />

Der Pietismus will lebendigen Glauben;<br />

er soll gelehrt, gelebt und weiter gegeben<br />

werden – so früh und so gut wie möglich.<br />

Daher kommt es zu – einst als revolutionär<br />

angesehenen – Neuerungen. Kinder kommen<br />

neu in den Blick: schon ab 1691 wird<br />

der Kindergottesdienst eingeführt und<br />

ab 1723 die Konfirmation nach vorausgegangener,<br />

gründlicher katechetischer Unterweisung.<br />

Frauen erhalten einen neuen<br />

Stellenwert: sie dichten Lieder, schreiben<br />

Briefe, führen Tagebuch und ihnen werden<br />

Aufgaben mit Eigenverantwortung übertragen.<br />

Auch damit hat der Pietismus den<br />

Weg in die Moderne gebahnt.<br />

Bibelerkenntnisse wurden ganz praktisch<br />

im Alltag umgesetzt. Aus dem Schöpfungsbericht<br />

las man etwa ab, dass Gott auch die<br />

Tiere erschaffen habe und sie deshalb als<br />

Mitgeschöpfe zu betrachten und zu behandeln<br />

sind. Über solchen Überlegungen<br />

kam es zum Tierschutz und 1837 gründete<br />

der Pfarrer, Pietist und Liederdichter<br />

Albert Knapp in Cannstatt den ersten<br />

Tierschutzverein der Welt. Weil Gottes<br />

Gnadenzusage jedem Einzelnen gilt, ist es<br />

auch jeder Einzelne wert, gerettet zu werden:<br />

daher entstanden eine Vielzahl von<br />

„Rettungseinrichten“ für Menschen, um<br />

die sich zuvor kaum jemand gekümmert<br />

hatte. Sie wenden sich etwa an „gefallene<br />

Mädchen“ (ledige Mütter) Straffällige, Verwahrloste<br />

und Behinderte. Die Geschichte<br />

der Diakonie in Württemberg kann ohne<br />

den Pietismus nicht geschrieben werden.<br />

Schließlich wird erstmals im evangelischen<br />

Bereich der Missionsbefehl „Gehet hin in<br />

alle Welt“ ernst genommen: ausgerechnet<br />

das Binnenland Württemberg wurde zu<br />

einem Zentrum der Weltmission. Der Befahren<br />

etwa gegen Christoph Oetinger und<br />

Philipp Matthäus Hahn. Es dauerte seine<br />

Zeit, bis man zu einem nicht immer spannungsfreien<br />

Miteinander gefunden hatte:<br />

zum Vorteil von beiden. „Kirche ohne<br />

Pietismus verflacht, Pietismus ohne Kirche<br />

verengt“ sagt dazu der frühere Landesbischof<br />

Theo Sorg.<br />

Das Leben in der Verantwortung vor Gott,<br />

Fleiß, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, das<br />

Nachdenken, das Probieren, die Sorgfalt,<br />

die unausgesetzte Selbstprüfung im Glauben<br />

und das Wissen um die eigene Verantwortung<br />

haben sich auch auf das wirtschaftliche<br />

Leben des Landes ausgewirkt.<br />

So ist die wirtschaftliche Entwicklung<br />

Württembergs ohne den Pietismus nicht<br />

zu denken. Die meisten der frühen Unternehmerfamilien<br />

kommen aus dem Pietismus,<br />

seine Stammgebiete sind die Zentren<br />

der Industrialisierung. Obgleich zu keiner<br />

Zeit mehr als sieben bis acht Prozent der<br />

Einwohner Württembergs dem Pietismus<br />

zugerechnet werden können, haben sie<br />

Land und Leute verändert. Reformation<br />

und Pietismus haben Württemberg zu<br />

dem gemacht, was es heute ist.<br />

Reformation und Pietismus haben<br />

Württemberg zu dem gemacht, was<br />

es heute ist.<br />

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