Oktober 2012 - Lebendige Gemeinde
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Die Bibel<br />
veränderte das Land<br />
Das evangelische Württemberg<br />
Hans-Dieter<br />
Frauer<br />
Der Autor ist Historiker und Publizist;<br />
er hat im Francke-Verlag Marburg<br />
mehrere Bücher zur Geschichte der<br />
württembergischen Kirche und des Pietismus<br />
veröffentlicht. Gerne kann er zu<br />
Vorträgen darüber angefragt werden<br />
Die Grundlagen für das moderne Württemberg<br />
wurden am 16. Mai 1534 gelegt.<br />
An diesem Tag hielt der hessische Hofprediger<br />
Konrad Öttinger die erste evangelische<br />
Predigt in der Stuttgarter Stiftskirche;<br />
dieses Datum steht für den offiziellen Beginn<br />
der Reformation in Württemberg. Sie<br />
hat Land und Leute tief greifend geprägt<br />
und verändert: aus dem kleinen, abgelegenen,<br />
ganz überwiegend agrarisch strukturierten<br />
Ländchen wurde ein evangelischer<br />
Muster- und Vorzeigestaat und schließlich<br />
das moderne Land von heute: ein industriell<br />
dynamisches Gebiet, Sitz von High-<br />
Tech-Unternehmen von Weltrang und<br />
allgemeinem Massenwohlstand, begehrtes<br />
Ziel von Einwanderern.<br />
Durch die Reformation wurde das damals<br />
nur 280.000 Einwohner zählende (Alt-)<br />
Württemberg ab 1534 nach dem aus der<br />
Bibel abgeleiteten Motto „Gottes Wort<br />
bleibt in Ewigkeit“ im Sinne des neuen<br />
Glaubens nachhaltig umgestaltet. Es galt<br />
zuerst, das Wort Gottes zu verbreiten, die<br />
Pfarrer mussten deshalb regelmäßig und<br />
in deutscher Sprache predigen. Dann wurde<br />
alles beseitigt, was dem „allein Christus,<br />
allein der Glaube, allein die Schrift“ nicht<br />
zu entsprechen schien. So reinigte man die<br />
Kirchen von allem, was der Konzentration<br />
auf „das Wort“ hinderlich war: mit deshalb<br />
sind sie ja so schlicht. Der fromme, aber<br />
sinnentleerte Betrieb am Vorabend der Reformation<br />
wurde als unbiblisch beseitigt:<br />
Prozessionen, Wallfahrten, Reliquienkult,<br />
Ablasshandel, die ausufernde Heiligenverehrung<br />
und die abgöttische Marienverehrung<br />
wurden ersatzlos gestrichen. Die Feiertage<br />
– in der religiös aufgeladenen Zeit<br />
vor der Reformation war jeder dritte Tag<br />
ein Feiertag – wurden von der Bibel her<br />
überprüft und entweder gestrichen oder<br />
verändert. Deshalb hat die Fasnacht im<br />
evangelischen Bereich keine Tradition und<br />
der 6. Januar wird nicht als „Dreikönigsfest“<br />
gefeiert, sondern als „Erscheinungsfest“.<br />
Man beseitigte aber nicht nur, sondern<br />
man schuf gezielt auch Neues. Damit auch<br />
jeder selbst die Bibel lesen konnte, entstand<br />
in dem kleinen und armen Württemberg<br />
ein für die damalige Zeit vorbildliches<br />
Schulsystem mit einem rasch flächendeckend<br />
aufgebauten Netz von Dorfschulen.<br />
Hier lernten die Jugendlichen anhand der<br />
Bibel Lesen, Schreiben und Rechnen. Im<br />
Unterricht standen das Lesen der Bibel<br />
und das Singen von Kirchenliedern im<br />
Vordergrund, ein Tag in der Woche war<br />
dem Katechismus gewidmet. Den Unterricht<br />
erteilten die <strong>Gemeinde</strong>pfarrer oder<br />
von ihnen rigide überwachte Schulmeister.<br />
Über den Dorfschulen gab es die ebenfalls<br />
neu errichteten anfangs 13 internatähnlichen<br />
Klosterschulen. An der Spitze der Bildungspyramide<br />
stand das ebenfalls neue<br />
„Stift“ in Tübingen (seit 1536), das das<br />
Studium an der Landesuniversität begleitete.<br />
Das neu errichtete Bildungswesen in Württemberg<br />
ist eine bewundernswerte Kulturleistung<br />
erster Ordnung; seine Bedeutung<br />
für die Verankerung des evangelischen<br />
Glaubens im Lande kann gar nicht überschätzt<br />
werden. Es brachte nicht nur eine<br />
Vielzahl bedeutender Wissenschaftler von<br />
Weltrang hervor (so legte der Klosterschüler<br />
Johannes Kepler vor 400 Jahren die<br />
Grundlagen für die moderne Weltraumforschung,<br />
Wilhelm Schickhard ertüftelte die<br />
erste funktionierende Rechenmaschine),<br />
so wurde auch eine einheitlich geprägte<br />
Pfarrer- und Beamtenschaft herangebildet.<br />
Gerade die württembergischen Pfarrer<br />
galten bald als die anerkannt besten im<br />
gesamten deutschsprachigen Raum. Der<br />
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