empfehlungen der pfs-arbeitsgruppe - Pro Familia Schweiz
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Fachtagung 8. November 2012 - Solothurn<br />
Flexible und familienbewusste Arbeitszeitmodelle – Herausfor<strong>der</strong>ung und Chance für<br />
Unternehmen<br />
EMPFEHLUNGEN DER PFS-ARBEITSGRUPPE „FAMILIENZEIT“<br />
Der Wert <strong>der</strong> Erziehungs-, Betreuungs- und Beziehungsarbeit<br />
Viele sprechen in diesem digitalen Zeitalter von Zeitmanagement. Sie stellen fest, dass die<br />
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausfor<strong>der</strong>ungen immer zahlreicher werden.<br />
Unternehmen müssen, um Wettbewerbsfähig zu bleiben, mit weniger Mitarbeitenden eine<br />
höhere <strong>Pro</strong>duktivität erzielen – dadurch steigt <strong>der</strong> Druck.<br />
Die Grenzen zwischen Privatem und Beruflichem haben sich infolge <strong>der</strong> technologischen<br />
Fortschritte des digitalen Zeitalters verwischt.<br />
Einerseits sind die Lebenshaltungskosten (Wohnen, Gesundheit und Mobilität) in den letzten<br />
Jahren gestiegen und werden weiter steigen. Familien sind i.d.R. auf zwei Einkommen<br />
angewiesen, um ihre Existenz auch mittel- und langfristig zu sichern. An<strong>der</strong>erseits geniessen<br />
junge Eltern eine bessere Ausbildung, viele Mütter haben einen tertiären Berufsabschluss<br />
und möchten wenn immer möglich sich auch beruflich weiter entwickeln. Junge Eltern<br />
wissen, dass die auch nur vorübergehende Abwesenheit vom Erwerbsmarkt mit Nachteilen<br />
verbunden ist. Sie wollen – auch als Eltern – am Ball bleiben können.<br />
Familienmitglie<strong>der</strong> erbringen generationenübergreifend unschätzbare und unbezahlte<br />
Leistungen. Diese personenbezogenen Dienstleistungen sind Teil <strong>der</strong> Care-Ökonomie.<br />
Erstmals hat das Bundesamt für Statistik im Jahr 2000 ein erweitertes Bruttoinlandprodukt<br />
berechnet, das den Wert <strong>der</strong> unbezahlten Arbeit einschliesst. Der unbezahlte Sektor macht<br />
41% des erweiterten Bruttoinlandproduktes aus! Eine beachtliche Leistung aller<br />
Familienangehörigen.<br />
Die innerfamiliären Dienstleistungen Familienangehöriger sind somit von immenser<br />
Bedeutung für die gesamte Gesellschaft. Diese Leistungen sind vielfältig und decken viele<br />
Bedürfnisse ab: Ernährung, Pflege, Erziehung, Kin<strong>der</strong>betreuung, Begleitung, Unterstützung,
Familienzeit – Empfehlungen für die Fachtagung vom 08.11.2012<br />
2<br />
Trostspenden, Krankenpflege, Angehörigenpflege, usw. Diese Beziehungsarbeit wurde für<br />
das Jahr 2004 vom BFS in Stunden berechnet – die Zahl ist eindrücklich: es werden „für<br />
Betreuungsaufgaben im Haushalt und informelle Pflege (…) insgesamt pro Jahr rund 62<br />
Millionen Stunden unbezahlt gearbeitet“. (BFS, 2006) Nicht enthalten in dieser Zahl ist <strong>der</strong><br />
direkte Aufwand für die Betreuung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> (ohne Hausarbeit). Diese betrug im Jahr 2000<br />
über 1211 Millionen Stunden!<br />
Wichtiger aber als all diese Zahlen ist die mit den erbrachten Beziehungsleistungen<br />
verbundene Lebensqualität. Diese Leistungen benötigen wir alle um gut aufzuwachsen, um<br />
uns zu integrieren, um Teil <strong>der</strong> Gesellschaft zu sein, um ausserhäusliche Leistungen zu<br />
erbringen, um die Grundsteine unserer Existenzsicherung zu legen und um ein Leben in<br />
Würde führen zu können. Wenn Kin<strong>der</strong> und die Begleitung <strong>der</strong> pflegebedürftigen<br />
Erwachsenen und älteren Menschen nur als kostenintensives <strong>Pro</strong>blem betrachtet werden,<br />
weil wir in einer Zeit <strong>der</strong> knappen Ressourcen und <strong>der</strong> zunehmenden Ökonomisierung aller<br />
Lebensbereiche leben, ist diese Betrachtungsweise kurzsichtig. Kin<strong>der</strong> sind unsere Zukunft<br />
und für die Lebensleistungen <strong>der</strong> älteren Generationen dürfen wir dankbar sein. Die<br />
Beziehungskompetenz, die Kommunikation, die gegenseitige Wahrnehmung <strong>der</strong> Gefühle<br />
sowie die Qualität <strong>der</strong> Beziehung spielen eine wichtige Rolle. Die Qualität dieser Leistungen<br />
hat unmittelbar Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Wirtschaft.<br />
Ohne Zeit kann keine qualitativ hochstehende Leistung erbracht werden. Deshalb<br />
müssen sich die Gesellschaft, namentlich die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Politik, bei<br />
ihren Entscheiden stets die Frage stellen: Was bewirken die Massnahmen für unsere Kin<strong>der</strong>,<br />
für ältere Menschen, für die zwischenmenschlichen Beziehungen? Wer leistet in Zukunft die<br />
notwendige „Care-Arbeit“, welche soll bezahlt und welche soll unbezahlt bleiben? Wie kann<br />
die Lebenszeit ausbalanciert werden (Beruf und Familie / Beruf und Pflege)? Die Antworten<br />
auf diese Fragen geben einen Einblick in die Wertschätzung unserer Gesellschaft für die<br />
erbrachten Beziehungsleistungen.<br />
Die Anerkennung dieser Leistungen hat weitere positive Aspekte. Sie garantiert in einer<br />
pluralen Gesellschaft die Kohäsion zwischen Menschen mit sehr unterschiedlichen<br />
Lebensbiographien, zwischen Erwachsene mit o<strong>der</strong> ohne Kin<strong>der</strong>, zwischen den<br />
Generationen. Indem die erbrachten Leistungen in den Mittelpunkt gerückt werden, kann<br />
auch die Solidarität innerhalb <strong>der</strong> Gesellschaft gestärkt werden, denn ohne diese Leistungen<br />
wäre die Gesellschaft und somit jedes einzelne Mitglied um vieles ärmer und isolierter.<br />
Unsere Gesellschaft zählt auf diese familialen Leistungen. Sie anerkennt und honoriert sie<br />
aber viel zu wenig. Heute sind beide Eltern erwerbstätig. Trotz ebenbürtiger Ausbildung<br />
bleibt <strong>der</strong> grösste Teil <strong>der</strong> privaten Erziehungs-, Beziehungs- und Betreuungsarbeit in<br />
weiblichen Händen, dies obschon ein wachsen<strong>der</strong> Teil <strong>der</strong> Männer, <strong>der</strong> Väter, sich auch eine<br />
bessere Balance zwischen Erwerbsarbeit und Familienzeit wünscht.<br />
Eine bessere Balance zwischen Beruf und Familie bringt Eltern und Unternehmen positive<br />
Vorteile. Es braucht aber ein schärferes Bewusstsein, dass diese erbrachten Leistungen im<br />
zwischenmenschlichen Bereich Zeit, wertvolle Zeit benötigen. Im Gegensatz zur<br />
Güterproduktion können diese zwischenmenschlichen Beziehungen nicht rationalisiert<br />
werden. Ganz im Gegenteil, in dieser herausfor<strong>der</strong>nden gesellschaftlichen und<br />
wirtschaftlichen Welt werden diese interpersonellen Leistungen immer mehr Zeit benötigen,
Familienzeit – Empfehlungen für die Fachtagung vom 08.11.2012<br />
3<br />
auch als Folge <strong>der</strong> Alterung unserer Gesellschaft. Die Rationalisierung und<br />
<strong>Pro</strong>duktivitätssteigerung stehen einer menschenwürdigen Gestaltung des Alltags und des<br />
gesellschaftlichen Zusammenlebens gegenüber.<br />
Die Bedeutung des Faktors ZEIT !<br />
Der Faktor Zeit lässt sich verschiedentlich analysieren, gesellschaftlich, politisch und<br />
unternehmerisch.<br />
<strong>Pro</strong> <strong>Familia</strong> <strong>Schweiz</strong>, als Dachorganisation <strong>der</strong> Familienorganisation in <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, legt<br />
daher den Fokus auf die Familienzeit und auf Familienfreundlichkeit.<br />
Die Themen „Zeit“, „Familienzeit“ und „Familienfreundlichkeit“ bekommen in Zeiten <strong>der</strong><br />
Bevölkerungsalterung und <strong>der</strong> zunehmenden Knappheit von qualifizierten Mitarbeitenden<br />
einen immer höheren Stellenwert. Mittlerweile erkennen auch Unternehmen, dass sich<br />
familienfreundliche Massnahmen in einer höheren Arbeitszufriedenheit, in einer geringeren<br />
Fluktuation <strong>der</strong> Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und in tieferen Kosten ausdrücken<br />
Familienfreundlichkeit ist ein Asset, das sich sogar beziffern lässt. 1 .<br />
Familienfreundlichkeit schafft für Männer und Frauen Raum für Familienzeit.<br />
Familienfreundlichkeit ist ein Zeichen des Bewusstseins <strong>der</strong> Unternehmen, denn<br />
mittlerweile ist die Berufstätigkeit bei<strong>der</strong> Eltern das am meisten gelebte Modell.<br />
Familienfreundlichkeit als Erfolgsfaktor und als strategisches Mittel für die Schaffung von<br />
Wettbewerbsvorteilen.<br />
Familienfreundlichkeit heisst, die Anerkennung <strong>der</strong> erbrachten Leistungen zugunsten <strong>der</strong><br />
Gesellschaft.<br />
Familienfreundlichkeit muss auch gesetzlich eingefor<strong>der</strong>t werden.<br />
1 Gemäss <strong>der</strong> <strong>Pro</strong>gnos-Studie sparen Unternehmen bis zu 8% ihrer Personalkosten: <strong>Pro</strong>gnos AG,<br />
Betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse familienfreundlicher Unternehmens-politik. Eine Studie<br />
bei ausgewählten <strong>Schweiz</strong>er Unternehmen, Basel 2005
Familienzeit – Empfehlungen für die Fachtagung vom 08.11.2012<br />
4<br />
Empfehlungen für Unternehmen:<br />
Empfehlung 1: Vereinbarkeit zur Selbstverständlichkeit erklären<br />
Damit Vereinbarkeit und Familienfreundlichkeit zur Selbstverständlichkeit werden, braucht es<br />
eine klare Voraussetzung: Vereinbarkeit muss thematisiert werden und Teil <strong>der</strong><br />
Unternehmensphilosophie und gelebten Unternehmenskultur sein. Im Wissen, dass für eine<br />
Mehrheit <strong>der</strong> Frauen und Männer bei einem Stellenwechsel das Angebot im Bereich<br />
Vereinbarkeit wichtig ist, ist die Thematisierung <strong>der</strong> Vereinbarkeitsmöglichkeiten Ausdruck<br />
<strong>der</strong> sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung <strong>der</strong> Geschäftsführung.<br />
Empfehlung 2: Vereinbarkeit för<strong>der</strong>t kontinuierlichere Erwerbsverläufe<br />
Die För<strong>der</strong>ung einer besseren Vereinbarkeit ist sowohl für den Einzelnen als auch für die<br />
Gesellschaft von grosser Bedeutung. Sie ermöglicht existenzsichernde Beschäftigungen und<br />
verhin<strong>der</strong>t somit auch die Abhängigkeit staatlicher Unterstützungsmassnahmen. Nach wie<br />
vor aber gibt es eine Vielzahl von Gründen für die Lohnunterschiede zwischen Frauen und<br />
Männern. Die familienbedingten Erwerbsunterbrechungen und die sehr hohe Anzahl Frauen<br />
mit tiefen Teilzeitpensen sind nur zwei Gründe für die Gehaltsunterschiede. Letztere sind zu<br />
einem grossen Teil auf die fehlenden Vereinbarkeitsmöglichkeiten zurückzuführen und<br />
entscheidend für die Lebens- und Berufsplanung. Doch die familienbedingten<br />
Erwerbsunterbrechungen und –reduzierungen haben mittel- und langfristige ökonomische<br />
Folgen, sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Es ist im Interesse<br />
aller, dass das Angebot an Möglichkeiten <strong>der</strong> Nachfrage angepasst wird. 2<br />
Empfehlung 3: <strong>Pro</strong>duktivitätssteigerung dank Familienfreundlichkeit<br />
Das partnerschaftliche Lebensmodell setzt sich zunehmend durch. Der verstärkte Wunsch<br />
nach Freiräumen ist bei Frauen und Männern spürbar. Frauen wie Männer möchten nicht nur<br />
vermehrt Zeit, wenn sie sich für eine Familie entscheiden o<strong>der</strong> Pflegeverantwortung<br />
übernehmen. Deshalb for<strong>der</strong>n Frauen und auch immer mehr Männer Teilzeitstellen und<br />
äussern den Wunsch nach einer besseren partnerschaftlichen Aufgabenteilung.<br />
Unternehmen sind gefor<strong>der</strong>t, einen Ausgleich zwischen den individuellen Wünschen <strong>der</strong><br />
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und den wirtschaftlichen Interessen <strong>der</strong> Organisation zu<br />
schaffen. Mit einem besseren Angebot von Teilzeitstellen auf allen Stufen mit flexiblen<br />
Jahresarbeitszeiten, för<strong>der</strong>n Unternehmen nicht nur die partnerschaftliche Aufgabenteilung,<br />
son<strong>der</strong>n profitieren zusätzlich - wie verschiedentlich in Studien aufgezeigt wurde - von<br />
2 Eine Mehrheit <strong>der</strong> Frauen, die einer Teilzeiterwerbstätigkeit nachgehen, möchte ihre Erwerbszeit<br />
erhöhen. Vgl. Familienbericht, BSV, 2004 / sh. auch die repräsentatitve Studie „Was Männer wollen“,<br />
in welcher 9 von 10 Männer ihre Erwerbszeit reduzieren möchten und bereit sind weniger Einkommen<br />
zu erwirtschaften um mehr Familienzeit zu haben. <strong>Pro</strong> <strong>Familia</strong> <strong>Schweiz</strong>, Bern / St. Gallen 2011 (Studie<br />
im Auftrag des Kt. St.Gallen)
Familienzeit – Empfehlungen für die Fachtagung vom 08.11.2012<br />
5<br />
motivierten, einsatzfreudigen und ausgeglichenen Mitarbeitern. Ein lohnendes Modell,<br />
welches nicht nur dem Arbeitgeber, <strong>der</strong> Arbeitgeberin dient, son<strong>der</strong>n auch einen Mehrwert<br />
für die Familie, die Partnerschaft und die Gesellschaft bietet.<br />
Empfehlung 4: För<strong>der</strong>ung neuer Arbeitszeitmodelle<br />
Der Wunsch nach örtlicher Flexibilität, nach Telearbeit, Heimarbeit und Home Office<br />
Möglichkeiten gewinnt an Bedeutung. Home Office Lösungen bieten vielen Menschen mit<br />
Familienverantwortung eine interessante Perspektive. Die physischen und psychischen<br />
Belastungen, die das Pendeln für manche Arbeitnehmenden mit sich bringt, haben<br />
Auswirkungen auf die erbrachte Leistung am Arbeitsplatz. Von zuhause aus zu arbeiten,<br />
verringert für die Unternehmen ausserdem die "Leerzeiten", die mit dem Pendeln verbunden<br />
sind. Angesichts <strong>der</strong> neuen Kommunikationskanäle und -möglichkeiten lohnt es sich, neue<br />
Wege zu erproben und die Zusammenarbeit von zeitlich und/o<strong>der</strong> räumlich getrennten<br />
Organisationseinheiten o<strong>der</strong> Arbeitsplätzen zu för<strong>der</strong>n.<br />
Neue Arbeitszeitmodelle erfor<strong>der</strong>n eine verän<strong>der</strong>te Unternehmenskultur, indem <strong>der</strong><br />
Vertrauensarbeitszeit mehr Gewicht als <strong>der</strong> Präsenzzeit verliehen wird.<br />
Die Schaffung neuer Arbeitsformen muss mit <strong>der</strong> Überprüfung gewisser gesetzlicher Normen<br />
einhergehen: Arbeitsrecht, Sozialversicherungsrecht, Datenschutz.<br />
Empfehlung 5: Unterstützung <strong>der</strong> Pflege- und Betreuungszeit<br />
In den kommenden Jahren werden aufgrund <strong>der</strong> demographischen Entwicklung vermehrt<br />
Mitarbeitende Mitverantwortung für pflege- und hilfsbedürftige Angehörige übernehmen.<br />
Unternehmen sollten daher nicht nur den Fokus auf die Bedürfnisse <strong>der</strong> jüngeren<br />
Mitarbeitenden mit Kin<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n ebenfalls auf die Bedürfnisse <strong>der</strong> älteren<br />
Mitarbeitenden, <strong>der</strong> sogenannten pflegenden Arbeitnehmenden, richten. Auch<br />
Pflegebedürftigkeit geht oft einher mit Unvorhersehbarem, Unplanbarem und erfor<strong>der</strong>t daher<br />
unter an<strong>der</strong>em die Möglichkeit <strong>der</strong> Kurzabwesenheit. Auch eine unbezahlte längere<br />
Freistellung, respektive eine familienbedingte Auszeit, können zur Lin<strong>der</strong>ung des privaten<br />
<strong>Pro</strong>blems beitragen.<br />
Empfehlung 6: Erstellung einer Kosten-Nutzen Analyse<br />
Die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Vereinbarkeit o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> Familienfreundlichkeit rechnet sich auch<br />
wirtschaftlich. Zwar muss sich jedes Unternehmen <strong>der</strong> Kostenfrage bei Anpassungen im<br />
Personalbereich stellen. Für kleine und mittlere Unternehmen ist sie zentral. Dass<br />
Massnahmen in den Bereichen Vereinbarkeit und Familienfreundlichkeit in <strong>der</strong> Planung und<br />
Umsetzung Zeit und Geld kosten, ist unbestritten. Und doch gibt es mittlerweile nicht nur<br />
theoretische Kosten-Nutzen-Analysen, son<strong>der</strong>n vermehrt Unternehmen, die diese für sich
Familienzeit – Empfehlungen für die Fachtagung vom 08.11.2012<br />
6<br />
erstellen, weil sie erkannt haben, dass sich ihnen dadurch grosse Chancen eröffnen. Die<br />
Fluktuationsraten und die mit jedem Personalwechsel verbundenen kurz- und mittelfristigen<br />
Kosten sinken bei umgesetzter Vereinbarkeit. Die <strong>Pro</strong>duktivitätssteigerung ist in vielen<br />
Unternehmen mit einer hohen Anzahl Teilzeiterwerben<strong>der</strong> erwiesen. Verschiedene<br />
Beratungsfirmen haben sich mittlerweile auf diese spezifische Kosten-Nutzen-Analyse<br />
spezialisiert. 3<br />
Empfehlungen an die Politik:<br />
Empfehlung 7: Familienzeit, Elternzeit, Pflegezeit ist mehr als Urlaub<br />
Die bis anhin verwendete Terminologie „Mutterschaftsurlaub“, „Vaterschaftsurlaub“,<br />
„Elternurlaub“ vermittelt ein falsches Bild. Familienzeit ist Erziehungs-, Betreuungs- und<br />
Beziehungszeit. Familienzeit ist Arbeit. 4 Um dem Anliegen nach mehr Familienzeit gerecht<br />
zu werden, gilt es, die Terminologie anzupassen.<br />
Empfehlung 8: For<strong>der</strong>ung nach einer Vaterschaftszeit<br />
Die Einführung einer zweiwöchigen Vaterschaftszeit 5 ist ein wichtiger und notwendiger<br />
Schritt für die frühe Bindung und für die Unterstützung <strong>der</strong> Mutter in <strong>der</strong> Gestaltung des<br />
Alltags mit dem Kleinkind. Die gesetzliche Einführung einer Vaterschaftszeit, welcher analog<br />
3 Als Wegweisend kann die Studie <strong>der</strong> <strong>Pro</strong>gnos AG, Basel bezeichnet werden. <strong>Pro</strong>gnos AG,<br />
Betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse familienfreundlicher Unternehmenspolitik. Eine Studie<br />
bei ausgewählten <strong>Schweiz</strong>er Unternehmen, Basel 2005<br />
Sh. auch KMU-Handbuch Beruf und Familie, Massnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie in<br />
kleinen und mittleren Unternehmen, SECO, Bern 2007<br />
Sh. Neuere Studien des Forschungszentrums Familienbewusste Personalpolitik (FFP) <strong>der</strong> Universität<br />
Berlin, u.a. die Ergebnisse <strong>der</strong> Studie Familienfreundlichkeit von Unternehmen in den Kantonen Basel-<br />
Stadt und Zürich, <strong>Pro</strong>f. Dr. Irene Gerlach, et al., Münster und Zürich 2009<br />
4<br />
Auch wenn heute von Vaterschaftsurlaub gesprochen wird, gilt es diesen Begriff durch<br />
„Vaterschaftszeit“ zu än<strong>der</strong>n, denn Väter, die die vom Unternehmen gewährte Vaterschaftszeit<br />
beziehen, wissen, dass ihr Einsatz keinem Urlaub gleich kommt.<br />
5 Zit. aus Studie vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut HWWI, 2011 „Eine Vielzahl von Län<strong>der</strong>n<br />
hat … die Ausweitung <strong>der</strong> Dauer des Erziehungsurlaubs mit exklusiv den Vätern zustehenden<br />
Nutzungsoptionen kombiniert. In Dänemark, Italien und Norwegen beispielsweise ist mindestens ein<br />
Monat Erziehungsurlaub exklusiv dem Vater vorbehalten. Österreich bindet die Gewährung von<br />
Erziehungsurlaub an eine mindestens halbjährige Inanspruchnahme durch den Vater vor dem dritten<br />
Geburtstag des Kindes… Schweden hat … die sogenannte „Daddy Month“- Reform eingeführt. Einen<br />
radikalen Weg hat Island beschritten. Drei <strong>der</strong> insgesamt neun Monate Erziehungsurlaub können<br />
lediglich vom Vater des Kindes in Anspruch genommen werden, drei weitere Monate durch die Mutter<br />
und nur die verbleibenden drei Monate sind zwischen den Eltern frei aufteilbar.“
Familienzeit – Empfehlungen für die Fachtagung vom 08.11.2012<br />
7<br />
zur Mutterschaftszeit 6 über die EO finanziert sein sollte, ist auch ein kleiner Schritt für eine<br />
bessere Gleichstellung <strong>der</strong> Geschlechter.<br />
Wichtig ist, dass alle Väter vor und/o<strong>der</strong> nach <strong>der</strong> Geburt Zeit nehmen können, um ihren<br />
Familienverpflichtungen nachzukommen. Mit <strong>der</strong> Einführung einer Vaterschaftszeit vor<br />
und/o<strong>der</strong> nach <strong>der</strong> Geburt des Kindes wird dem Vater Zeit für die emotionale Anteilnahme<br />
und für die Mitgestaltung des Alltags mit dem Kind zugestanden. Der Vater kann sowohl bei<br />
Bedarf vor <strong>der</strong> Geburt als auch unmittelbar nach <strong>der</strong> Geburt des Kindes den Familienalltag<br />
organisieren und gestalten. Er übernimmt die Alltagsverantwortung für die älteren Kin<strong>der</strong>,<br />
entlastet die Mutter nach dem Wochenbett.<br />
Die geteilte Elternschaft ist Ausdruck <strong>der</strong> geteilten elterlichen Verantwortung. Durch die<br />
Begleitung und Unterstützung <strong>der</strong> Mutter wird die partnerschaftliche Rollenteilung spürbar,<br />
selbst wenn sich die Nachhaltigkeit dieses Engagements noch nicht messen lässt, darf man<br />
davon ausgehen, dass das gemeinsam Erlebte einen weiteren positiven Beitrag zur<br />
Gleichstellung leistet.<br />
Mit <strong>der</strong> Einführung einer Vaterschaftszeit um den Geburtszeitpunkt trägt man zur<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Mentalitäten in Sachen Gleichstellung bei. Einerseits lernen Frauen, resp.<br />
Mütter, Vertrauen in die Erziehungs- und Betreuungskompetenzen <strong>der</strong> Männer, resp. <strong>der</strong><br />
Väter zu schenken. An<strong>der</strong>erseits werden Frauen sich nicht länger vollumfänglich aus dem<br />
Erwerbsmarkt ziehen können, denn auch <strong>der</strong> Vater des Kindes kann Erziehungs- und<br />
Betreuungsaufgaben übernehmen und eine partnerschaftlichen Lösung einfor<strong>der</strong>n.<br />
Empfehlung 9: Elternzeit - Schaffung <strong>der</strong> Rahmenbedingungen<br />
Die Einführung einer Elternzeit ist für die Entwicklung des Kindes und für die innerfamiliäre<br />
Balance <strong>der</strong> Familie von grosser Bedeutung. Beide Eltern, unabhängig von einan<strong>der</strong>, sollten<br />
Anspruch auf eine Elternzeit haben.<br />
Eine festgelegte Elternzeit 7 , die erst nach <strong>der</strong> Mutterschafts- und Vaterschaftszeit beginnt,<br />
muss unter den Eltern aufgeteilt werden. Der Anspruch erlischt mit <strong>der</strong> Einschulung des<br />
Kindes. Die Elternzeit muss in <strong>der</strong> Regel unter den Eltern verteilt werden, mindestens 1/3 <strong>der</strong><br />
Zeit muss vom Vater bezogen werden, sonst entfallen diese Wochen. Wenn aber aus<br />
gesundheitlichen o<strong>der</strong> aus Abwesenheitsgründen die volle Elternzeit nicht unter den Eltern<br />
aufgeteilt werden kann, sollte dem an<strong>der</strong>en Elternteil ein Anspruch auf die volle Zeit<br />
zugestanden werden.<br />
6 In <strong>der</strong> juristischen Terminologie heisst dies nach wie vor Mutterschaftsurlaub!<br />
7 In Anlehnung an den Vorschlag <strong>der</strong> Eidg. Koordinationskommission für Familienfragen EKFF gehen<br />
wir ebenfalls von 24 Wochen aus.
Familienzeit – Empfehlungen für die Fachtagung vom 08.11.2012<br />
8<br />
Wir verlangen vom Bundesrat die Prüfung verschiedener Modelle eines Elternurlaubes:<br />
• Bezahlte Elternzeit, aufgeteilt zwischen beiden Eltern von 24 Wochen – <strong>der</strong> Bezug<br />
dieser Zeit muss innerhalb <strong>der</strong> ersten 4 Lebensjahren (o<strong>der</strong> als Alternative innerhalb<br />
<strong>der</strong> ersten 8 Lebensjahren) des Kindes genommen werden;<br />
• Formulierung von Ausnahmen für die unbezahlte und bezahlte Elternzeit für Eltern,<br />
die sich aus gesundheitlichen o<strong>der</strong> abwesenheitsgründen, die Elternzeit nicht<br />
aufteilen können;<br />
• Recht auf eine längere flexible Elternzeit (mit einem Recht auf den beruflichen<br />
Wie<strong>der</strong>einstieg) sofern Eltern weiterhin im Erwerbsprozess bleiben und lediglich auf<br />
eine zeitlich begrenzte Vollzeiterwerbstätigkeit verzichten zugunsten einer<br />
Teilzeiterwerbstätigkeit von maximal 60% verzichten.<br />
• Analog zur Elternzeit: Prüfung eines Rechtes auf eine (bezahlte / unbezahlte)<br />
Betreuungszeit für Familien in späteren Lebensphasen mit Pflegeverantwortung<br />
(work-care).<br />
• Recht auf eine unbezahlte Elternzeit, aufgeteilt zwischen beiden Eltern von 24<br />
Wochen – <strong>der</strong> Bezug dieser Zeit muss innerhalb <strong>der</strong> ersten 4 Lebensjahren (o<strong>der</strong> als<br />
Alternative innerhalb <strong>der</strong> ersten 8 Lebensjahren) des Kindes genommen werden;<br />
• Prüfung eines neuartigen, privat finanzierten Modells eines Elternurlaubs inkl.<br />
Abklärung <strong>der</strong> offenen Fragen, die dieses Sparmodells zur Finanzierung von<br />
Elternzeit aufwirft. 8<br />
Empfehlung 10: Überprüfung <strong>der</strong> Versicherungsleistungen<br />
Die Übernahme von Familienverantwortung hat zur Folge, dass die Erwerbstätigkeit <strong>der</strong><br />
Eltern reduziert wird. Die Folge ist ein kleineres Alterskapital. Einerseits führt die Teilzeit oft<br />
zu einer kleineren AHV-Rente, also zu keiner Vollrente, trotz Anrechnung <strong>der</strong><br />
Erziehungsgutschriften. An<strong>der</strong>erseits hin<strong>der</strong>t die Teilzeiterwerbstätigkeit die Bildung eines<br />
angemessenen Alterskapitals in <strong>der</strong> zweiten Säule. Eine Überprüfung <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong><br />
Erziehungs- und Betreuungsgutschriften ist erfor<strong>der</strong>lich, ebenso ist es sinnvoll neue Sparresp.<br />
Einkaufsmöglichkeiten in <strong>der</strong> zweiten und in <strong>der</strong> dritten Säule zu prüfen, damit<br />
Erwachsene, die Familienverantwortung übernehmen nicht a priori im Alter benachteiligt<br />
werden.<br />
8 Sh. Antwort des Bundesrates auf das Postulat Fetz 11.3492 vom 07.09.2011, <strong>der</strong> sich bereit erklärt<br />
hat, diese Fragen zu analysieren.
Familienzeit – Empfehlungen für die Fachtagung vom 08.11.2012<br />
9<br />
Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Arbeitsgruppe<br />
Valérie Borioli Sandoz, Travail.Suisse<br />
Andreas Borter, männer.ch<br />
Viviane Fenter, Formation des Parents<br />
Vanessa Glaessel, pro juventute (neu)<br />
Anna Hausherr-Hurni, SVAMV<br />
Emmanuel Heierle, VeV<br />
Oliver Hunziker, VeV<br />
Maria von Känel Scheibling, Regenbogenfamilien<br />
Markus Lengen, pro juventute (neu)<br />
Bern, 05.11.2012