Sommer 2011 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen

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Die Birke und das Mädchen Von Eva M. Sirowatka Am Rand der Steilküste bei Warnicken, unweit der Wolfsschlucht, stand an der äußersten Kante eines Erdvorsprungs, der die schroffe Steilküste überragte, eine kleine Birke. Seit sie sich dort festgeklammert hatte, musste sie einen ständigen Kampf gegen die Naturgewalten auf sich nehmen. Wieder und wieder hatte der Sturm sie zerzaust. Aber sie hatte sich gegen ihn behauptet. Ihre Wurzeln durchzogen den harten Erdboden und hielten ihn fest. Die kleine Birke neigte sich mit ihren belaubten Zweigen dem Land zu, ihr dünner Stamm war gebeugt. Aber sie hatte einen wunderbaren Blick auf die Ostsee, zu allen Jahreszeiten. Sie hörte das Brausen der Brandung in den Sturmnächten. Sie sah ferne weiße Schiffe am Horizont. Am Abend sah sie die Sonne im Meer versinken. Während der Nacht grüßte das Leuchtfeuer von Brüsterort blinkend zu ihr hinüber. In klaren Nächten spannte sich ein hoher Sternenhimmel über Land und Meer. Das Licht des Mondes ließ die Blätter der kleinen Birke wie flüssiges Silber aufleuchten. Menschen kamen und gingen. Wenn die Dämmerung über die Küste fiel und alle Konturen verschwimmen ließ zwischen Land und Wasser, kamen die Menschen oft zu zweit und sagten sich Worte, die gut klangen und herzlich und manchmal auch töricht. Eines Tages kam Elisabeth an diese Küste. Sie stammte aus Masuren und war gerade siebzehn geworden. Schon als sie Kind war, hatte sie sich danach gesehnt, einmal das Meer zu sehen. Nun hatte eine Freundin der Mutter sie eingeladen, in ihrem Sommerhäuschen in Warnicken, das wochentags leer stand, Ferien zu machen. Es benahm ihr den Atem, als sie zum ersten Mal oben an der Steilküste stand, die jäh zum Strand herab fiel, und die schimmernde, unendliche Wasserfläche vor sich liegen sah. Land und Wasser und Himmel verschmolzen vor ihren Augen zu einer gewaltigen Einheit. Elisabeth warf sich den Wellen in die Arme. Sie spürte die Wärme des Sandes unter ihren bloßen Füßen. Sie wanderte an der Küste entlang, immer auf der Suche nach kleinen Stückchen Bernstein, die von den Wellen an den Strand geworfen worden waren. Sie fühlte sich frei und glücklich wie nie zuvor. In diesen Spätsommertagen war der Himmel fast wolkenlos. Wie ein Schleier lag über der Landschaft ein bläulicher Dunst. Rote Beeren reiften an den Sanddornbüschen, in ihren Zweigen verfingen sich die feinen Fäden des Altweibersommers. An einem der ersten Abende hatte Elisabeth die kleine Birke entdeckt. Es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Sie setzte sich zu Füßen des verkrüppelten Bäumchens nieder und sah hinaus auf die See. Es schien ihr, als verbinde das grüne Band der bewaldeten Steilküste das Land mit dem Wasser. Fühlte man sich darum dem Himmel so nah? Nicht lange danach, an einem Spätnachmittag, hatte sich Elisabeth auf 56

einen der Findlingssteine gesetzt, die mit ihrer dunklen, in Jahrmillionen glatt gescheuerten Oberfläche einen seltsamen Kontrast zu dem weißen Sandstrand abgaben. Ihre langen Haare hatte sie zum Trocknen über die Schultern hängen lassen. Ihre Haut hatte inzwischen den bronzenen Goldton bekommen, den Sonne und Salzluft hervorzaubern. Der junge Mann, der am Strand entlang schlenderte, wandte sich um, kam zurück und sprach sie an. Es dauerte nicht lange, da sah man die beiden überall zusammen, am Strand, beim Schwimmen, in den Dünen, am Abend auf dem Pfad an der Steilküste, der zu der kleinen Birke führte. Werner studierte in Königsberg und hatte sich als Feriengast in Groß Kuhren eingemietet. Er hatte jene sorglose Unbekümmertheit, die sich rasch Sympathien erwirbt. Er war anders, ganz anders als die Freunde, mit denen Elisabeth in dem kleinen masurischen Dorf zur Schule gegangen war. „Bernsteinhexchen“ nannte Werner das Mädchen, das ihn von der ersten Stunde an bezaubert hatte. Manchmal legte er seinen Arm um Elisabeths Schulter. Aber er küsste sie nicht. Zwei Wochen gingen ins Land. Zwei unvergessliche Wochen. Der Spätsommer war so schön mit blauem Himmel und strahlender Sonne und nächtlichem Sternenlicht. Wie oft hatten sie zu Füßen der kleinen Birke gesessen, am Abend, wenn die Dämmerung über Meer und Land fiel. Sie hatten sich aneinander gelehnt wie zwei, die Schutz suchen vor etwas, von dem sie noch nichts wissen. Mit dem Instinkt einer jungen Frau hatte Elisabeth gespürt, dass etwas Neues, Fremdes, Böses auf sie zukam, als Werner auf dem Pfad auftauchte, den sie so oft zusammen gegangen waren. Er schien spröde, schweigsam, wie es sonst nicht seine Art war. Seine Stimme war rau. Der Vater habe ihm geschrieben, er müsse nach Hause. Morgen schon. Elisabeth strich ihm zart über die Schulter. Ja, da sei noch etwas, sagte er. Zu Hause, warte ein Mädchen auf ihn, mit dem er so gut wie verlobt sei. „Ich hatte das alles vergessen“, sagte er. „Ich habe an nichts anderes mehr denken können als an dich.“ Er nahm sie in die Arme und küsste sie – zum ersten und zum letzten Mal. In der Nacht war der erste Herbststurm gekommen. Die See brüllte und warf ihre Wogen auf den Strand. Ein Toben und Bersten erfüllte die Luft. Der Sturm zerrte an der Steilküste, als wolle er sie dem Nichts in den Rachen schleudern. Immer wieder lösten sich Erdschollen vom Abhang und donnerten in die Tiefe. Elisabeth schlug den Kragen ihres Wettermantels hoch, als sie am nächsten Morgen den Pfad entlang tastete, der zu der Birke führte. Abgerissene Äste und Wasserlachen versperrten den Weg. Ob die kleine Birke das Unwetter überstanden hatte, ob sie noch lebte? Ja, sie lebte noch. Sie hatte ein paar dürre Zweige verloren. Aber ihre Blätter, die an den Abenden zuvor wie flüssiges Silber geleuchtet hatten, schienen nun aus purem Gold im Licht der Morgensonne. aus „Ich weiß ein Land“ Ein Ostpreußenbuch 57

einen der Findlingssteine gesetzt, die<br />

mit ihrer dunklen, in Jahrmillionen<br />

glatt gescheuerten Oberfläche einen<br />

seltsamen Kontrast zu dem weißen<br />

Sandstrand abgaben. Ihre langen<br />

Haare hatte sie zum Trocknen über<br />

die Schultern hängen lassen. Ihre<br />

Haut hatte inzwischen den bronzenen<br />

Goldton bekommen, den Sonne<br />

und Salzluft hervorzaubern.<br />

Der junge Mann, der am Strand entlang<br />

schlenderte, wandte sich um,<br />

kam zurück und sprach sie an.<br />

Es dauerte nicht lange, da sah man<br />

die beiden überall zusammen, am<br />

Strand, beim Schwimmen, in den<br />

Dünen, am Abend auf dem Pfad an<br />

der Steilküste, der zu der kleinen Birke<br />

führte. Werner studierte in Königsberg<br />

und hatte sich als Feriengast<br />

in Groß Kuhren eingemietet. Er<br />

hatte jene sorglose Unbekümmertheit,<br />

die sich rasch Sympathien erwirbt.<br />

Er war anders, ganz anders als<br />

die Freunde, mit denen Elisabeth in<br />

dem kleinen masurischen Dorf zur<br />

Schule gegangen war.<br />

„Bernsteinhexchen“ nannte Werner<br />

das Mädchen, das ihn von der ersten<br />

Stunde an bezaubert hatte. Manchmal<br />

legte er seinen Arm um Elisabeths<br />

Schulter. Aber er küsste sie nicht.<br />

Zwei Wochen gingen ins Land. Zwei<br />

unvergessliche Wochen. Der Spätsommer<br />

war so schön mit blauem<br />

Himmel und strahlender Sonne und<br />

nächtlichem Sternenlicht.<br />

Wie oft hatten sie zu Füßen der kleinen<br />

Birke gesessen, am Abend, wenn<br />

die Dämmerung über Meer und Land<br />

fiel. Sie hatten sich aneinander gelehnt<br />

wie zwei, die Schutz suchen vor etwas,<br />

von dem sie noch nichts wissen.<br />

Mit dem Instinkt einer jungen Frau<br />

hatte Elisabeth gespürt, dass etwas<br />

Neues, Fremdes, Böses auf sie zukam,<br />

als Werner auf dem Pfad auftauchte,<br />

den sie so oft zusammen<br />

gegangen waren. Er schien spröde,<br />

schweigsam, wie es sonst nicht seine<br />

Art war. Seine Stimme war rau. Der<br />

Vater habe ihm geschrieben, er müsse<br />

nach Hause. Morgen schon. Elisabeth<br />

strich ihm zart über die Schulter.<br />

Ja, da sei noch etwas, sagte er. Zu<br />

Hause, warte ein Mädchen auf ihn,<br />

mit dem er so gut wie verlobt sei.<br />

„Ich hatte das alles vergessen“, sagte<br />

er. „Ich habe an nichts anderes mehr<br />

denken können als an dich.“<br />

Er nahm sie in die Arme und küsste<br />

sie – zum ersten und zum letzten Mal.<br />

In der Nacht war der erste Herbststurm<br />

gekommen. Die See brüllte<br />

und warf ihre Wogen auf den Strand.<br />

Ein Toben und Bersten erfüllte die<br />

Luft. Der Sturm zerrte an der Steilküste,<br />

als wolle er sie dem Nichts in<br />

den Rachen schleudern. Immer wieder<br />

lösten sich Erdschollen vom Abhang<br />

und donnerten in die Tiefe.<br />

Elisabeth schlug den Kragen ihres<br />

Wettermantels hoch, als sie am<br />

nächsten Morgen den Pfad entlang<br />

tastete, der zu der Birke führte. Abgerissene<br />

Äste und Wasserlachen<br />

versperrten den Weg.<br />

Ob die kleine Birke das Unwetter<br />

überstanden hatte, ob sie noch lebte?<br />

Ja, sie lebte noch. Sie hatte ein<br />

paar dürre Zweige verloren. Aber ihre<br />

Blätter, die an den Abenden zuvor<br />

wie flüssiges Silber geleuchtet hatten,<br />

schienen nun aus purem Gold im<br />

Licht der Morgensonne.<br />

aus „Ich weiß ein Land“<br />

Ein <strong>Ostpreußen</strong>buch<br />

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