Sommer 2011 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Ostpreußen

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Unsere Flucht aus Allenstein, Teil 2 Von Ingeborg Lovis Lieber Winfried, Als wir endlich in Gotenhafen, völlig ausgehungert, vom Schiff gingen, suchten wir im Hafengelände nach einer Gaststätte, um etwas Warmes zu essen und trinken zu bekommen. Wir landeten in einer Hafenkneipe. Es saßen dort nur ein paar finstere Gestalten herum. Bei der Wirtin merkte man, dass sie aus dem Rotlichtmilieu stammte. Alle waren gleich sehr nett und herzlich zu uns. Sie sahen ja, wie erschöpft und abgerissen wir aussahen. In der Kneipe gab es nur Alkohol. Wir besaßen keine Lebensmittelkarten, ohne die man nichts zum Essen erhielt. Die Wirtin sagte uns, wir sollten warten, sie ginge etwas Essbares besorgen. Ich glaube, sie ging für uns betteln. Sie war nach einer langen Zeit erst zurück. Sie brachte für jeden von uns ein Roggenbrötchen mit. Dazu machte sie Gerstenkaffee und wir kauten still vor uns hin. Diese Frau wird mir wegen ihrer Warmherzigkeit unvergesslich bleiben. Wenn Du schreibst, wir Kinder sind vorzeitig gealtert, hast Du genau ins Schwarze getroffen. Wir waren abgestumpft und das Lachen war uns vergangen. Nun mussten wir aber weiter ziehen. Jeder einzelne von uns hatte ein Pappschild mit der Anschrift des entfernten Onkels in Danzig mit einer Schnur um den Hals. Darauf stand: „Richard Nauber, Danzig, Am Schwarzen Meer 4“. Die Wirtin nannte uns die Straßenbahnhaltestelle, von wo aus wir dorthin fahren konnten. Wir mussten sehr lange auf die Straßenbahn warten, die uns zum 14

Zielort brachte. Daran schloss sich noch ein langer Fußweg an. Wegen unseres ungepflegten Äußeren rückten die Fahrgäste von uns ab. Uns war alles egal, wir empfanden nichts mehr dabei. Für meine Oma war es die zweite Flucht nach Danzig. Sie musste im ersten Weltkrieg 1918, mit drei kleinen Kindern, hochschwanger fliehen. Mein Opa brachte sie noch rechtzeitig mit den Kindern zum Zug. Bevor sie nach dem von Deutschland verlorenen Krieg wieder nach Allenstein zurückkehrte, hatte sie in Danzig einen gesunden Sohn zur Welt gebracht. Nachdem sich in Allenstein die Lage wieder normalisierte hatte und die Russen zurückgeschlagen waren, holte mein Opa seine Familie von dort zurück. Endlich standen wir vor der Wohnungstür meines Onkels und klingelten. Das Glück war kaum zu fassen, meine Mutter, mit Klaus-Werner auf dem Arm, öffnete die Tür. Seit der Trennung auf dem Eis hatten wir nichts mehr von den beiden gehört. Meine Tante mit den Kindern stand auch gleich um uns herum. Wir konnten nicht mehr sprechen, wir haben nur noch geweint. Gott sei Dank waren wieder alle vereint. Nachdem wir uns beruhigt hatten, wollten wir wissen, wo denn der Opa sei? Opa war als Oberzugführer bei der Deutschen Reichsbahn in Allenstein tätig. Er hatte am 21.01.45 Dienst. Nach Dienstschluss überlegte er nicht mehr lange, sondern marschierte gleich zu meiner Tante durch den Wald zum Stauwerk. Die Wohnung war leer! Auf dem Tisch lag ein Zettel mit der Datums- und Zeitangabe, wann alle auf die Flucht gegangen waren. Er war vom anstrengenden Dienst sehr müde und legte sich erst einmal schlafen. Vom näherkommenden Kanonendonner wurde er wach. Er suchte sich aus dem Schrank seines 1943 verstorbenen Schwiegersohnes einen Zivilanzug und Sachen heraus. Warm angekleidet, nahm er aus der Speisekammer noch mit, was er fand und trat die Flucht an. Mein Opa war ein erfahrener Afrika- Kämpfer. Er wurde 1881 geboren und war schon in ganz jungen Jahren Vollwaise. Aus diesem Grund hatte er sich bei der Kaiserlichen Schutztruppe, die unsere Deutschen Kolonien in Afrika schützten, freiwillig beworben. Er musste eine einjährige Ausbildung in Berlin für die Tropen absolvieren. Danach wurde er in Hamburg eingeschifft. Er war 20 Jahre alt und kehrte erst nach 4 Jahren nach Deutschland zurück. Seine Flucht nach Danzig verlief wie unsere. Er hatte unterwegs bis zum Haff, so gut es ging, Ortschaften und Hauptstraßen gemieden. Wenn möglich, lief er durch die Wälder. Mein Opa hatte einen sehr guten Orientierungssinn, der mir leider fehlt. Auf die Frage nach unserem Opa erzählte meine Mutter, dass die Tante mit ihren vier Kindern zuerst in Danzig eintraf. Danach meine Mutter mit dem Klaus-Werner und 2-3 Tage später mein Opa. Nur von der Oma, dem Günter und mir war nichts zu erfahren. Als wir endlich eintrafen, war Opa, wie jeden Tag, während unserer Abwesenheit, noch unterwegs. Er hatte sämtliche Auffanglager für Flüchtlinge in Danzig abgesucht. Er fuhr auch nach Gotenhafen, um zu gucken, ob Flüchtlingsschiffe einge- 15

Unsere Flucht aus Allenstein, Teil 2<br />

Von Ingeborg Lovis<br />

Lieber Winfried,<br />

Als wir endlich in Gotenhafen, völlig<br />

ausgehungert, vom Schiff gingen,<br />

suchten wir im Hafengelände nach<br />

einer Gaststätte, um etwas Warmes<br />

zu essen und trinken zu bekommen.<br />

Wir landeten in einer Hafenkneipe. Es<br />

saßen dort nur ein paar finstere Gestalten<br />

herum. Bei der Wirtin merkte<br />

man, dass sie aus dem Rotlichtmilieu<br />

stammte. Alle waren gleich sehr nett<br />

und herzlich zu uns. Sie sahen ja, wie<br />

erschöpft und abgerissen wir aussahen.<br />

In der Kneipe gab es nur Alkohol.<br />

Wir besaßen keine Lebensmittelkarten,<br />

ohne die man nichts zum<br />

Essen erhielt. Die Wirtin sagte uns,<br />

wir sollten warten, sie ginge etwas<br />

Essbares besorgen. Ich glaube, sie<br />

ging für uns betteln. Sie war nach einer<br />

langen Zeit erst zurück. Sie<br />

brachte für jeden von uns ein Roggenbrötchen<br />

mit. Dazu machte sie<br />

Gerstenkaffee und wir kauten still vor<br />

uns hin. Diese Frau wird mir wegen<br />

ihrer Warmherzigkeit unvergesslich<br />

bleiben.<br />

Wenn Du schreibst, wir Kinder sind<br />

vorzeitig gealtert, hast Du genau ins<br />

Schwarze getroffen. Wir waren abgestumpft<br />

und das Lachen war uns<br />

vergangen. Nun mussten wir aber<br />

weiter ziehen. Jeder einzelne von uns<br />

hatte ein Pappschild mit der Anschrift<br />

des entfernten Onkels in Danzig mit<br />

einer Schnur um den Hals. Darauf<br />

stand: „Richard Nauber, Danzig, Am<br />

Schwarzen Meer 4“. Die Wirtin nannte<br />

uns die Straßenbahnhaltestelle,<br />

von wo aus wir dorthin fahren konnten.<br />

Wir mussten sehr lange auf die<br />

Straßenbahn warten, die uns zum<br />

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