Alle Roten Pfeile kamen aus Osten – zu Recht? - ETH Zürich
Alle Roten Pfeile kamen aus Osten – zu Recht? - ETH Zürich
Alle Roten Pfeile kamen aus Osten – zu Recht? - ETH Zürich
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
50 <strong>Alle</strong> <strong>Roten</strong> <strong>Pfeile</strong> <strong>kamen</strong> <strong>aus</strong> <strong>Osten</strong> <strong>–</strong> <strong>zu</strong> <strong>Recht</strong>?<br />
Auch die Pläne «SOKOL/FALKE» und «HVESTA/STERN» <strong>aus</strong><br />
dem Jahr 1953 sollen verhindern, dass der Feind tief auf<br />
eigenes Territorium vordringen kann. Mit einer Konzentration<br />
der mobilisierten Kräfte im Raum Prag will man bereit<br />
sein, je nach Entwicklung der Lage <strong>zu</strong> entscheiden, ob<br />
man <strong>zu</strong> einem operativen Gegenangriff starten oder eine<br />
nachhaltige Verteidigung führen will. In all diesen Planungen<br />
sind keine Absichten her<strong>aus</strong><strong>zu</strong>lesen, Westeuropa an<strong>zu</strong>greifen.<br />
In all diesen Planungen sind keine<br />
Absichten her<strong>aus</strong><strong>zu</strong>lesen, Westeuropa<br />
an<strong>zu</strong>greifen.<br />
In allen Studien des Generalstabs der CVA wird deutlich,<br />
dass niemand von den sowjetischen Kriegsplanungen eine<br />
klare Vorstellung hatte. Die sowjetische Hilfe ab dem 5. Tag<br />
des Krieges blieb die einzige planbare Grösse.<br />
Die Ära Chruščevs, die Zeit von 1953 <strong>–</strong> 1964, kann in zwei Perioden<br />
unterteilt werden. In den späteren Fünfzigerjahren, der<br />
Zeit der «Friedlichen Koexistenz» wurde die Kriegsgefahr nicht<br />
als hoch veranschlagt, obwohl der Westen <strong>–</strong> ideologisch bedingt<br />
<strong>–</strong> immer als «aggressiv» wahrgenommen wurde. Nach<br />
östlicher Beurteilung fehlte der NATO trotz der in die Wege<br />
geleiteten Integration der Bundesrepublik die konventionelle<br />
Angriffskraft, um überraschend geführte strategische Atomschläge<br />
terrestrisch <strong>aus</strong><strong>zu</strong>nützen. Umso höher wurde deshalb<br />
die nukleare Bedrohung gewertet. Die Wichtigkeit der ersten<br />
Kriegsstunden und die Vermeidung eines feindlichen nuklearen<br />
Überfalls waren Grundlagen des strategischen Denkens.<br />
Die neue Militärdoktrin manifestierte sich im technischen Fortschritt,<br />
insbesondere in der Raketen- und Nukleartechnik, im<br />
Ausbau des Nachrichtendienstes und in der ständigen Erhöhung<br />
und Perfektionierung der Kriegsbereitschaft der Bereitschaftstruppen.<br />
Exemplarisch für die erste Periode der CVA im Rahmen<br />
des Warschauer Vertrags (WV) ist die Planung «ZASTAVA/<br />
FLAGGE» von 1956, gültig mindestens für die nächsten zwei<br />
Jahre. Der Tschechoslowakische Generalstab studierte zwei<br />
Varianten mit folgenden Annahmen:<br />
1. Ein nuklear vorbereiteter Überraschungsangriff der NATO<br />
löst einen strategischen nuklearen Vergeltungsschlag der<br />
Sowjetunion sowie eine weitgehend autonome Grenzverteidigung<br />
(«Grenzschlacht») der sozialistischen Bruderstaaten<br />
mit den Bereitschaftstruppen <strong>aus</strong>. Diese werden laufend<br />
verstärkt durch eigene mobilisierte Einheiten. Mit dem Eintreffen<br />
sowjetischer Verbände ab dem 4. <strong>–</strong> 5. Tag beginnt<br />
die Gegenoffensive des WV.<br />
2. Die Angriffsvorbereitungen der NATO werden rechzeitig<br />
erkannt und eigene Vorbereitungen getroffen; es erfolgt<br />
ein sofortiger strategischer Nuklearschlag als Antwort auf<br />
die westliche Aggression und die CVA startet in der bayrischen<br />
strategischen Richtung einen Angriff auf der Achse<br />
Pilsen−Nürnberg.<br />
Die zweite Variante wird als vorläufig unplanbar <strong>zu</strong>rückgestellt.<br />
Nach diesem summarischen Überblick der ersten 15 Jahre<br />
des Kalten Krieges wollen wir nun die 1960-er Jahre<br />
genauer untersuchen, weil sie für die Beurteilung der Gefährdung<br />
der Schweiz in diesem Zeitabschnitt entscheidend sind.<br />
Die präventive Option<br />
Die «Nukleare Revolution» der frühen Sechziger Jahre in<br />
der Sowjetunion ging von der Überzeugung <strong>aus</strong>, dass ein<br />
<strong>zu</strong>künftiger Weltkrieg in den Anfangsstunden entschieden<br />
werde. Chruščev setzte deshalb auf die nukleare Karte. Im<br />
Januar 1960 befahl er eine radikale Reduktion der sowjetischen<br />
konventionellen Streitkräfte und wollte als Gegengewicht<br />
die Abschreckung durch strategische Kernwaffen<br />
<strong>aus</strong>bauen.<br />
Die Operationsplanungen der CVA zeigen schon in einer<br />
Stabsübung von 1959 die Wichtigkeit der ersten Stunden<br />
nach der Kriegseröffnung. Es wurde u.a. auch die Frage diskutiert:<br />
Wenn die ersten Stunden des Krieges entscheidend<br />
sind, warum warten wir den westlichen Angriff ab, bevor<br />
wir <strong>zu</strong>rückschlagen? Warum ergreifen wir nicht das Mittel<br />
der «Prävention»? Das heisst, sobald der Westen <strong>zu</strong> einem<br />
überraschenden Kernschlag entschlossen ist und sich die<br />
Anzeichen für Truppenbereitstellungen mehren, sollen der<br />
eigene nukleare Schlag und der sofortige Gegenangriff erfolgen.<br />
Da die Entscheidungskompetenz <strong>zu</strong>r Auslösung eines<br />
überraschenden Raketenangriffs (Erstschlag) allein bei<br />
der politischen Führung in Moskau lag, blieb diese Frage<br />
offen im Raum.<br />
Der in den Kriegsspielen immer wieder geübte «Normalfall»<br />
war die «Aggression» durch die NATO mit längerer oder kürzerer<br />
Vorwarnzeit und die Auslösung des sofortigen nuklearen<br />
Vergeltungsschlages. In einer ungarischen Übung betrug<br />
die Zeitdifferenz zwischen der Aggression des Westens<br />
und der Vergeltung nur wenige Sekunden. Die Tiefe der anschliessend<br />
<strong>aus</strong>gelösten terrestrischen Operation ins Feindgebiet<br />
betrug für die CVA 150 <strong>–</strong> 200 km. Ein Staffelwechsel<br />
vor dem Rhein war deshalb unabdingbar.<br />
In einer ungarischen Übung betrug<br />
die Zeitdifferenz zwischen der<br />
Aggression des Westens und der<br />
Vergeltung nur wenige Sekunden.<br />
Der vom Westen befürchtete Fall, die «sowjetische Aggression»<br />
möglichst ohne Vorwarnzeit, ist in den Archiven der<br />
Satelliten nicht <strong>zu</strong> finden. Wenn überhaupt jemals <strong>aus</strong>gearbeitet,<br />
müsste er in den bisher un<strong>zu</strong>gänglichen Archiven des<br />
sowjetischen Generalstabs gesucht werden. Hochrangige<br />
Zeitzeugen haben einen «Erstschlag» des WV kategorisch in<br />
Abrede gestellt. Trotzdem kann diese Aussage richtig sein.<br />
Denn die angenommenen Kriegsfälle der CVA zeigen, dass<br />
eine <strong>zu</strong>m nuklearen Schlag oder <strong>zu</strong> einer terrestrischen Aktion<br />
bereite NATO bereits als «Ersteinsatz» definiert wurde.<br />
Eine «präventive» oder nach angelsächsischer Terminologie<br />
«präemptive» Kriegs<strong>aus</strong>lösung unter diesen Bedingungen<br />
wurde somit nicht als «Erstschlag» bezeichnet. Leider zeigt<br />
die Kriegsgeschichte, dass eine solche «Bereitschaft <strong>zu</strong>r Aggression»<br />
auch manipuliert oder einfach «missverstanden»<br />
werden kann. Auf jeden Fall ist sie immer umstritten, abhängig<br />
vom Standpunkt des Urteilenden und in der Regel vom<br />
Erfolg der Operation.<br />
MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee <strong>–</strong> Nr. 2/2012