Artikel lesen (PDF) - Globetrotter
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SKANDINAVIEN<br />
Seelenberuhigende Abendmagie in Finnlands äusserstem Nordwesten.<br />
Haben viele Finnen deshalb ein Trampolin im<br />
Garten, um damit in den Himmel zu springen,<br />
so wie die Cloudberries in den Mund?<br />
Schwedische BegrüSSung <br />
Bei Pello überschreiten wir die Grenze von<br />
Finnland nach Schweden – grau in grau. Es<br />
regnet. Die Uhr geht eine Stunde zurück. In<br />
einem schäbigen Wettlokal einer Supermarktkette<br />
schlagen wir uns anschlussbedingt die<br />
gewonnene verlorene Stunde um die Ohren.<br />
In Pajala kommen wir uns wie Ungläubige vor,<br />
denn von «Populärmusik aus Vittula» haben<br />
wir bis dahin noch nie gehört. In Gällivare<br />
werden wir mit einem magischen Abend entschädigt.<br />
Die langen Schatten walzen uns zu<br />
strassenplatten Strichmännchen, derweil uns<br />
die Mücken förmlich auffressen. Das «Vandrerhjem»<br />
enttäuscht – einmal mehr. Doch der<br />
Bahnhof mit seiner «Typ Modellbau-Spur-H-<br />
Ausstrahlung» entzückt. Eisenerzzüge, gezogen<br />
von zwei sechsachsigen Lokomotiven,<br />
verraten uns die grosse Bedeutung der lokalen<br />
Bodenschätze.<br />
Stuga am See Am Stora Blåsjön<br />
leisten wir uns eine Stuga – eine schwedische<br />
Hütte – und damit Ruhe. Sie heisst Uggla. Es<br />
hat Platz für acht, doch wir bleiben zu zweit.<br />
Das vermietende Restaurant hat nur von 12<br />
bis 18 Uhr geöffnet, so betreiben wir unser eigenes.<br />
Fisch gibts keinen frischen. Im Angelcamp<br />
finden wir allerdings einen «froisen røding»<br />
– gefrorene Lachsforelle – von «i går» –<br />
gestern. Wir füllen ihn mit Lauchgemüse und<br />
Crème fraîche, würzen mit Knoblauchsalz,<br />
Curry und Pfeffer und betten ihn in einer offenen<br />
Alufolie im Ofen. «Madonnasantamia…<br />
anything else?» – «Nej tak!»<br />
Schweden bekennen gerne Flagge.<br />
Zu Fuss erkundet sichs ohnehin besser.<br />
Stockholm II Im «Hermans» vegetieren<br />
– denn es gibt kein Fleisch – wir uns<br />
fröhlich, und auch die Sicht ist extra, nur das<br />
Wetter nicht. Nachdem meine Begleitung bereits<br />
abgereist ist, verbringe ich den letzten<br />
Tag bei Freunden: Angela und Lollo. Mit deren<br />
Tochter Claudia unterwegs. Wir verständigen<br />
uns halb italienisch, halb englisch. So<br />
schlagen wir uns durch die Stadt. Gemeinsam<br />
ergänzen wir fürs Foto die Flussskulptur – nur<br />
Hand und Kopf – mit Claudias Fuss. Dann<br />
tanzt sie Trampolin, was ihr aber nicht so<br />
glückt. Das richtige Tanzen interessiert sie<br />
mehr. Im Tanzmuseum werden wir fündig.<br />
Aufforderung zum Abschied.<br />
Epilog Abschied von Skandinavien,<br />
12 Uhr mittags. Flug LX 1249 wird mich nach<br />
Zürich bringen. In den Hallen von Stockholm<br />
Arlanda die ersten Brocken Schweizerdeutsch.<br />
Warten vor dem Gate. Mein Blick fällt auf meinen<br />
Boarding Pass: Sitz 14E – weder Fenster<br />
noch Gang, Unbehagen regt sich. Wir werden<br />
in den Flieger geschleust. Was für eine Hitze!<br />
Das mit dem Rollkragenpulli – es sei ja kalt in<br />
der Schweiz – war keine gute Idee. Zum Glück<br />
habe ich ein Shirt im Handgepäck dabei, also<br />
ist Kleiderwechsel angesagt. Ich verschwinde<br />
im Gangway des Flugzeughecks. «Wir schauen<br />
nicht!», rufen mir die Flugbegleiterinnen<br />
nach. Während des sekundenschnellen Kleiderwechsels<br />
schmunzle ich über den Flirthumor.<br />
Erleichtert und geduldig – die Maschine<br />
ist ziemlich voll – kämpfe ich mich durch einpuffende<br />
Passagiere bis Reihe 14 rechts, Sitze<br />
DEF, nach vorn. Eine schlanke Frau nimmt<br />
am Fenster Platz, zwischen Jeans und dirndlartigem<br />
Oberteil fällt mir ihr Tattoo am tiefen<br />
Rücken auf. Ich setze mich neben sie, klaube<br />
mein Notizbuch hervor und lege dieses auf<br />
meinen rechten Schenkel. Ich möchte endlich<br />
meine Reiseaufzeichnungen weiterführen.<br />
Links von mir sitzt eine unauffällige Schweizerin,<br />
die Schulungsunterlagen aus dem Bankbereich<br />
studiert. Ja, es geht nach Hause. Ich<br />
schreibe ein paar Gedanken ins Buch, die<br />
Konzentration fällt schwer. Fühle mich gefangen<br />
und elektrisiert zugleich. Die körperliche<br />
Präsenz der Frau am Fenster strahlt bis zu mir.<br />
Mein Kopf gleitet etwas nach rechts, um gleich<br />
wieder mit einem Anflug von Schwindelgefühl<br />
zurückzufahren. Unter ihrer knappen<br />
weissen Bluse wogt aufgestauter<br />
Sommerwind. Eine Baltin oder Russin<br />
auf dem Weg in die Schweiz? Zwei, dreimal<br />
suchen sich unsere Augen, doch die<br />
Distanz ist zu nahe, um zu verweilen.<br />
Endlich rollt die Maschine, ich finde meinen<br />
Faden wieder und skizziere stichwortartig<br />
Ferienerlebnisse aufs Papier.<br />
Wie die Triebwerke aufheulen, geht alles<br />
sehr schnell: Mit ihrer rechten Hand stibitzt<br />
mir die Blonde flugs den Kugelschreiber<br />
und packt gleichzeitig meine so<br />
befreite rechte Hand mit ihrer linken –<br />
und drückt sie fest: «I need this!» Lange<br />
Sekunden vergehen, bis ich mich gefasst habe.<br />
Frau mit Flugangst? Schaue mich herzklopfend<br />
um, doch keiner schaut. Mir ist heiss.<br />
Nachdem die Maschine abgehoben hat, lässt<br />
der Druck in meiner Hand allmählich nach.<br />
Ob sie das wohl immer so macht? Wir kommen<br />
ins Gespräch. Sie spricht makellos englisch,<br />
ist soeben aus Australien zurück, wo sie<br />
sechs Jahre für eine Kosmetikfirma gearbeitet<br />
hat. Heute geht ihr Flug nach München weiter<br />
und dann nach Innsbruck, wo sie vier Tage bei<br />
einem Freund in den Alpen verbringen möchte,<br />
bevor sie am kommenden Montag in Stockholm<br />
ihre neue Stelle antritt. «My name is<br />
Anna, I’m swedish», sagt sie und fokussiert mit<br />
ihren blauen Augen die meinen. Fügt an, ich<br />
würde eine grosse Ruhe ausstrahlen und sie<br />
würde sich wohl fühlen neben mir in der Luft.<br />
Kurz vor der Landung in Zürich verifiziert sie<br />
ihren Anschlussflug auf einem gefalteten<br />
Print-out. Wir drücken unsere Schultern gegeneinander,<br />
stärker, je näher die Maschine<br />
dem Boden zu schwebt. Landung – Welcome<br />
to Zürich. Ich packe Notizbuch und die unge<strong>lesen</strong>e<br />
Lektüre – «Der heisse Norden», erotische<br />
Geschichten skandinavischer Autorinnen<br />
– ins Handgepäck. Gemeinsam verlassen<br />
wir die Maschine. «You have a card?», fragt sie,<br />
wie sich unsere Wege trennen. Ich verneine<br />
und drücke ihr ein Bärner Müntschi auf die<br />
Wange. Immerhin, aber eigentlich plante ich<br />
drei. «Bye Anna, it was exciting to meet you.»<br />
Am Hauptbahnhof angelangt, kaufe ich mir<br />
im Marinello eine Schachtel Erdbeeren.<br />
euroboss@sunrise.ch<br />
© <strong>Globetrotter</strong> Club, Bern<br />
sommer 2012 GLOBETROTTER-MAGAZIN 77