Gesamtbericht Vietnam, Kambodscha, Laos
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SÜDOSTASIEN aktuell - 240 - Mai 2004<br />
Oskar Weggel<br />
<strong>Gesamtbericht</strong><br />
<strong>Vietnam</strong>, <strong>Kambodscha</strong>, <strong>Laos</strong><br />
Gliederung:<br />
1 <strong>Vietnam</strong><br />
1.1 Innenpolitik<br />
1.1.1 Halbzeit beim IX. ZK: Selbstzufriedenheit und Nachdenklichkeit<br />
1.1.1.1 Wirtschaftliche und soziale Bilanz<br />
1.1.1.2 Standen beim X. Parteitag auch neue ideologische Projekte<br />
ins Haus?<br />
1.1.1.3 Neuausrichtung der KPV: Nägel mit Köpfen?<br />
1.1.1.3.1 Die Radikalkur der Ausweiserneuerung<br />
1.1.1.3.2 Besonders viele Aufnahmen in die KPV, aber auch<br />
Aufsehen erregende Ausschlüsse<br />
1.1.2 Der Bauplatz für das neu zu errichtende Parlamentsgebäude<br />
erweist sich als archäologische Fundgrube<br />
1.1.3 Vogelgrippe gebannt?<br />
1.1.4 Südvietnams einstiger Ministerpräsident Nguyen Cao<br />
Ky besucht nach 30 Jahren Abwesenheit seine alte Heimat<br />
1.2 Wirtschaft<br />
1.2.1 Zwischenergebnis bei der Jahrhundertaufgabe der Umstrukturierung<br />
staatseigener Betriebe<br />
1.2.1.1 Kapitalisierung immer noch im Schneckentempo<br />
1.2.1.2 Die derzeitigen Eigentumsverhältnisse bei den SEB ...<br />
1.2.1.3 ... und die üblichen Gestaltungsvorstellungen: Effizienz<br />
und Wettbewerbsfähigkeit als neue Messlatten<br />
1.2.2 Auslandsvietnamesen und ihr Kapital<br />
1.3 Außenpolitik<br />
1.3.1 <strong>Vietnam</strong>s Außenpolitik im Jahr 2003<br />
1.3.2 Weitere Annäherung an Thailand: Politik der großen<br />
Gesten<br />
1.3.3 Idealpartner Singapur<br />
1.3.4 Symmetrisierungsversuche in der vietnamesischen<br />
Südasien-Politik<br />
1.3.4.1 Jahrzehntelange Sichtverengung auf Indien<br />
1.3.4.2 Gewünschte Erweiterung des Blickfelds<br />
1.3.5 <strong>Vietnam</strong> und die USA<br />
1.3.5.1 Der USA-Besuch des vietnamesischen Verteidigungsministers:<br />
„Verteidigungsdiplomatie“<br />
1.3.5.2 US-amerikanischer Flottenbesuch<br />
1.3.5.3 Im Außenhandel überholen die USA die VR China als<br />
<strong>Vietnam</strong>s Haupthandelspartner<br />
1.3.6 KPV-Chef Nong Duc Manh auf Deutschlandreise<br />
1.3.7 Die heikle Terrorismusfrage<br />
2 <strong>Kambodscha</strong><br />
2.1 Innenpolitik<br />
2.1.1 Elektronische Medien – ein Regierungsmonopol?<br />
2.1.2.1 Sieben Fernseh- und 19 Rundfunkanstalten<br />
2.1.2.1.1 Die Fernsehsender<br />
2.1.2.1.2 Die Rundfunkanstalten<br />
2.1.2.1.3 Die Presselandschaft<br />
2.1.2.2 Zensurmethoden<br />
2.1.3 Politischer Mord als Begleiterscheinung im kambodschanischen<br />
Alltag<br />
2.1.4 25 Jahre Rückblick auf das Zeitalter der Roten Khmer<br />
2.1.4.1 9. November oder 7. Januar?<br />
2.1.4.2 Und das Tribunal?<br />
2.1.4.3 Khieu Samphan bezieht Stellung zur Vergangenheit<br />
2.2 Wirtschaft<br />
2.2.1 Einbruch beim Tourismus<br />
2.3 Außenpolitik<br />
2.3.1 Fortbestehende Ambivalenz gegenüber Thailand<br />
3 <strong>Laos</strong><br />
3.1 Innenpolitik<br />
3.1.1 Die Armee, um die es so still geworden ist<br />
3.1.1.1 55. Geburtstag und Überlegungen zum Selbstverständnis<br />
3.1.1.2 Truppenstärke und Kostenfaktoren<br />
3.1.1.3 Gliederung, Führungsstruktur und Ausrüstung<br />
3.1.1.4 Paramilitärische Einheiten und bewaffnete Volkspolizei<br />
3.1.1.5 Aufgabenbereiche<br />
3.1.1.5.1 Die militärische Rolle der LVA<br />
3.1.1.5.2 Die wirtschaftliche Rolle der LVA<br />
3.1.1.5.3 Die politische Rolle der LVA<br />
3.1.2 Verwirrende Sicherheitslage im Jahr 2003 – ein Rückblick<br />
3.2 Wirtschaft<br />
3.2.1 Die Wirtschaftsentwicklung bleibt hinter dem Erwartungen<br />
zurück<br />
1<br />
VIETNAM<br />
1.1<br />
Innenpolitik<br />
1.1.1<br />
Halbzeit beim IX. ZK: Selbstzufriedenheit und<br />
Nachdenklichkeit<br />
1.1.1.1<br />
Wirtschaftliche und soziale Bilanz<br />
Der IX. Parteitag der KPV hatte im April 2001 stattgefunden,<br />
1 der Nachfolgekongress, also der X. Parteitag,<br />
ist für Herbst 2006 geplant. Das 9. Plenum des IX. ZK<br />
konnte bei seiner Tagung vom 5. bis 11. Januar 2004 also<br />
auf seine erste Halbzeit zurückblicken und Überlegungen<br />
zur Gestaltung der zweiten Hälfte anstellen. 2<br />
Im Großen und Ganzen herrschte Zufriedenheit mit<br />
dem Erreichten, vor allem mit dem wirtschaftlichen<br />
Wachstum, der zunehmenden Demokratisierung und der<br />
angeblich hohen Zustimmung der Bevölkerung zum KPV-<br />
Kurs, doch fielen in den Freudenbecher auch einige bittere<br />
Tropfen: Das Wachstumsziel sei nicht völlig erreicht worden<br />
(7,24% statt 7,5%), es fehle immer noch an Effizienz<br />
und Wettbewerbsfähigkeit, es werde nach wie vor zu wenig<br />
ausländisches Kapital angelockt, die sozialen Probleme<br />
(Arbeitslosigkeit, niedriger Lebensstandard, Armut,<br />
Schieflagen wie Drogen, Prostitution, AIDS-Ausbreitung)<br />
gäben nach wie vor zu Sorgen Anlass und nicht zuletzt sei<br />
die parteiinterne „Bereinigungs- und Rektifizierungskampagne“<br />
bisher ohne allzu großen Erfolg verlaufen. Die klassische<br />
Trias Korruption, Verschwendung und Bürokratismus<br />
bereite nach wie vor Kopfzerbrechen.<br />
Neben den beiden Hauptfragen (Rück- und Ausblick)<br />
diskutierte das 148-köpfige Gremium fundamentale Fragen<br />
zum weiteren Wirtschaftsaufbau und zur Ausrichtung<br />
der Partei. Auch die drei Perspektivpläne (Fünfjahresplan<br />
2001-2005, Zehnjahresplan 2001-2010 und die Aussichten<br />
1 Dazu SOAa, 4/2001, S.396-417.<br />
2 Näheres dazu ND, in BBC, 6.2.04.
SÜDOSTASIEN aktuell - 241 - Mai 2004<br />
bis 2020) kamen zur Sprache.<br />
In der zweiten Halbzeit müssten das wirtschaftliche<br />
Wachstum auf über 8% (in den Jahren 2004/05) angehoben,<br />
die Sozialpolitik (Erziehung, Ausbildung, Gesundheitswesen,<br />
Armutsbekämpfung) weiter verbessert und<br />
die Kampagne zur Parteiausrichtung konsequenter als bisher<br />
fortgesetzt werden.<br />
Im Wirtschaftsbereich seien vor allem die Staatsbetriebe<br />
schneller als bisher in Kapitalgesellschaften umzuwandeln,<br />
die Märkte (vor allem die Aktien-, Kredit-,<br />
Grundstücks-, Arbeits- und Wissenschaftsmärkte) konsequenter<br />
zu entwickeln und Maßnahmen zur Verbesserung<br />
der Effizienz und der Wettbewerbsfähigkeit weiterzubetreiben.<br />
1.1.1.2<br />
Standen beim X. Parteitag auch neue ideologische<br />
Projekte ins Haus?<br />
In der VR China hatte Jiang Zemin beim XI. Parteitag<br />
der KP Chinas i.J. 2002 bekanntlich seine „Theorie der<br />
drei Vertretungen“ durchdrücken können, die nichts weniger<br />
besagt, als dass die KPCh sich fortan nicht mehr<br />
nur als Vertreterin der Arbeiter- und Bauernklasse, sondern<br />
auch des Privatunternehmertums verstehen wolle.<br />
Sind beim X. Parteitag der KPV – einer Partei also,<br />
die ja erwiesenermaßen allzu gerne in die Fußstapfen der<br />
KPCh tritt – ähnliche Entwicklungen zu erwarten?<br />
Eine Annäherung an den chinesischen Diskussionsstand<br />
scheint sich zumindest im äußeren Erscheinungsbild<br />
anzubahnen: So fand z.B. Anfang Oktober 2003 in Beijing<br />
ein „Zwei-Parteien-Seminar“ zu Theoriefragen statt, an<br />
dem vietnamesische Spitzenpolitiker teilnahmen, u.a. das<br />
für Theoriefragen zuständige Politbüro-Mitglied Nguyen<br />
Phu Trong. Bei dieser Veranstaltung wurden Themen wie<br />
„Sozialismus und Marktwirtschaft“ diskutiert und Vorsätze<br />
für eine weitere Zusammenarbeit gefasst. Fragen der<br />
behandelten Art seien, hieß es, nicht nur für die beiden<br />
Parteien, sondern für die sozialistische Diskussion weltweit<br />
von Bedeutung und bedürften daher auch besonderer<br />
Publizität. 3<br />
In einem Interview deutete Generalsekretär Nong Duc<br />
Manh an, dass auch die KPV ihre „Theoriearbeit“ verstärken<br />
und Antworten auf einige immer drängender werdende<br />
Fragen finden wolle. 4 So seien der Theorieausschuss<br />
des ZK und eine Reihe von wissenschaftlichen Forschungsinstituten<br />
mittlerweile damit beauftragt worden, Gutachten<br />
zu folgenden Fragen zu erarbeiten: Wie ist eine an sozialistischen<br />
Prinzipien orientierte Marktwirtschaft aufzubauen?<br />
Wie lässt sich ein Rechtsstaat errichten, der dem<br />
Prinzip „State of the People, State for the People and by<br />
the People“ folgt? Wie können der Parteiaufbau und die<br />
Ausrichtungsarbeit unter den neuen Bedingungen besser<br />
vorangetrieben werden? Wie lassen sich bei den Staatsbetrieben<br />
Erneuerung und höhere Effizienz miteinander<br />
verbinden? Dürfen Parteimitglieder auch als Privatunternehmer<br />
tätig sein?<br />
Das zuletzt erwähnte Projekt weist bereits eindeutig<br />
in die Richtung der Vertretungstheorie, wie sie von der<br />
chinesischen KP vor nunmehr zwei Jahren verabschiedet<br />
3 Xinhua, in BBC, 9.10.03.<br />
4 Tap Chi Cong san, 15. Januar 2004, in BBC, 15.1.04.<br />
worden ist.<br />
Nach wie vor allerdings scheinen auch beim Generalsekretär<br />
noch viele Unklarheiten zu bestehen; vor allem<br />
wird dies dann deutlich, wenn er sich über Grundsatzfragen<br />
zu äußern hat und sich dann in verschiedenen Interviews<br />
selbst widerspricht.<br />
Im oben erwähnten Tap-Chi-Cong-san-Interview deutet<br />
er bspw. an, dass die „zentrale Aufgabe“ der KPV (Parteiaufbau<br />
und Parteiausrichtung) organisatorischer Art<br />
sei – er gibt hier mit anderen Worten eine als solche „korrekte“<br />
leninistische Antwort.<br />
In einem anderen Interview 5 bezeichnet er als Hauptanliegen<br />
der KPV-Arbeit dagegen eine korrekte Ausbildung<br />
des Parteipersonals: Die Arbeit am Personal sei<br />
die „Schlüsselaufgabe“ des Parteiaufbaus. Die Beurteilung<br />
der Arbeit von Parteizellen und -ausschüssen sei an<br />
zwei Hauptmaßstäben zu messen, nämlich an moralischen<br />
Standards und an fachlichem Können, wobei die moralischen<br />
Standards höher anzusetzen seien. Wo nämlich Korruption,<br />
Verschwendung und Bürokratismus (wiederum<br />
diese drei Grundübel) ins Spiel kämen, gerate die Steuerungsfähigkeit<br />
der KPV insgesamt ins Zwielicht.<br />
Theoretisch lassen sich als Hauptkriterien für die Beurteilung<br />
eines Parteiausschusses zwei Maßstäbe anlegen,<br />
nämlich Organisation und Politik oder aber Kadermoral.<br />
Das Erstere wäre die leninistische, das Letztere die konfuzianische<br />
Methode. Manh scheint sich für keine dieser<br />
Optionen eindeutig entscheiden zu können, doch schlägt<br />
bei ihm – allen Lippenbekenntnissen zum Trotz – am Ende<br />
doch immer wieder die konfuzianische Sicht der Dinge<br />
stärker zu Buche: Danach müssen Parteimitglieder in<br />
erster Linie „gute Vorbilder“ für die breite Bevölkerung<br />
sein. 6 Auch die Aufforderung, „negative Erscheinungen“<br />
wie Individualismus, Materialismus oder die Verlockung<br />
zu „friedlicher Evolution“ in einem fort zu kritisieren, ständig<br />
um ein volksfreundliches Parteibild bemüht zu sein<br />
und sich eines achtbaren Lebenswandels zu befleißigen,<br />
stammen eher aus der konfuzianischen Tradition. 7<br />
1.1.1.3<br />
Neuausrichtung der KPV: Nägel mit Köpfen?<br />
1.1.1.3.1<br />
Die Radikalkur der Ausweiserneuerung<br />
Angesichts der Hartnäckigkeit, mit der sich die drei<br />
Übel Korruption, Verschwendung und Bürokratismus<br />
im Kaderverhalten eingenistet haben, beschloss das<br />
ZK – wieder einmal – bei seinem Januar-Plenum, dem<br />
Dauerübel einen Kampf auf Leben und Tod anzusagen.<br />
Wichtiger Meilenstein dabei war ein vom KPV-<br />
Sekretariat im Oktober 2003 gefasster Beschluss, die alten<br />
KPV-Mitgliedsausweise durch neue zu ersetzen und – als<br />
Voraussetzung dafür – eine gründliche Überprüfung der<br />
Parteizellen und vor allem der einzelnen Parteimitglieder<br />
vorzunehmen.<br />
Bezeichnenderweise griff das Sekretariat hierbei auf<br />
eine Richtlinie des IV. ZK vom 26. November 1979 zurück,<br />
der die Disziplinierung mit Hilfe der Neuausgabe<br />
von Mitgliederausweisen bereits zu einem wichtigen He-<br />
5 RH, in BBC, 25.3.04.<br />
6 RH,inBBC,2.2.04.<br />
7 Vgl. dazu das erwähnte Tap-Chi-Cong-san-Interview.
SÜDOSTASIEN aktuell - 242 - Mai 2004<br />
bel der Parteidisziplinierung erhoben hatte. Rückblickend<br />
auf 24 Jahre Erfahrung wolle man die Radikalkur der<br />
Ausweiserneuerung noch einmal zur Wirkung kommen<br />
lassen und den Gesamtprozess diesmal in fünf Phasen<br />
durchführen, die mit dem 114. Geburtstag Ho Chi Minhs<br />
am 19. Mai 2004 beginnen und mit dem 115. Geburtstag<br />
enden sollen. Jedes einzelne Mitglied müsse in dieser<br />
Zeit auf seine fachliche und charakterliche Eignung untersucht<br />
werden. Mitglieder, die Verstöße gegen die Parteidisziplin<br />
begangen hätten, sollten bis zu sechs Monate<br />
Zeit haben, tätige Reue zu üben. Wer sich auch dann<br />
noch als ungeeignet erweise, dürfe keinen neuen Mitgliedsausweis<br />
erhalten. Zuständig für diese Entscheidung seien<br />
die einzelnen Parteiausschüsse. Die Ergebnisse der Entscheidung<br />
müssten dem ZK-Sekretariat (durch die ZK-<br />
Organisationsabteilung) mitgeteilt werden. 8<br />
Hauptmaßstab für die Beurteilung eines Parteimitglieds<br />
sei die Verinnerlichung des „Ho-Chi-Minh-Denkens“<br />
sowie das praktische Verhalten im Zusammenhang mit<br />
der Durchführung der Beschlüsse des IX. Parteitags von<br />
2001. 9<br />
1.1.1.3.2<br />
Besonders viele Aufnahmen in die KPV, aber auch<br />
Aufsehen erregende Ausschlüsse<br />
Bereits im August 2003 hatte auch die Regierung auf Veranlassung<br />
von Ministerpräsident Phan Van Khai beschlossen,<br />
fachlich unqualifizierte und charakterlich ungeeignete<br />
Beamte zu entlassen und mit dieser Aufgabe das „Zentrale<br />
Steuerungskomitee für die Verwaltungsreform“ zu beauftragen.<br />
10 Eine zweite große Maßnahme zur Auffrischung<br />
des Parteiapparats war damals die demonstrative Neuaufnahme<br />
vorbildhafter Persönlichkeiten in die KPV bei<br />
gleichzeitiger Entlassung höherer Kader, die sich an der<br />
Parteidisziplin versündigt hatten:<br />
– Besonders hervorgehoben wurde die Aufnahme von<br />
rund 20.000 Arbeitern und von rund 17.000 Soldaten<br />
im Laufe des Jahres 2003. Die Arbeiter hätten sich vor<br />
allem bei nationalen Arbeitswettbewerben auf disziplinierte<br />
und kreative Weise hervorgetan 11 und auch<br />
die in die KPV neu aufgenommenen Militärvertreter<br />
hätten modellhaftes Verhalten an den Tag gelegt. Bei<br />
den Offizieren und Soldaten sei die höchste Zahl von<br />
Neuaufnahmen seit 1990 erreicht worden. 12<br />
– Es kam aber auch zu spektakulären Ausschlüssen aus<br />
der KPV. So wurden beim 9. Plenum des IX. ZK<br />
bspw. nicht weniger als vier ZK-Mitglieder diszipliniert,<br />
nämlich (1) der Minister für Landwirtschaft und<br />
ländliche Entwicklung, Le Huy Ngo, der nach Meinung<br />
des ZK dafür verantwortlich ist, dass in einer<br />
der ihm unterstellten Organisationen hohe Geldbeträge<br />
veruntreut wurden, wofür im Dezember 2003 der<br />
Direktor der betreffenden Organisation bereits zum<br />
Tode verurteilt wurde. (2) Der Minister für Minderheitenangelegenheiten,<br />
Ksor Phuoc, wurde dafür verantwortlich<br />
gemacht, dass er die massiven Demonstrationen<br />
der Minderheiten im Februar 2001 nicht recht-<br />
8 KPV-Website, Hanoi, in BBC, 27.10.03.<br />
9 VNA, in BBC, 14.1.04.<br />
10 RH, in BBC, 19.8.03.<br />
11 VNA, in BBC, 8.1.04.<br />
12 RH,inBBC,2.2.04.<br />
zeitig in den Griff bekommen habe. (3) Der Vorsitzende<br />
des Volkskomitees der südlichen Provinz Ba Ria-<br />
Vung Tao, Nguyen Tuan Minh, gilt als dafür verantwortlich,<br />
dass er dem schwunghaften Schmuggel von<br />
Autos in seiner Provinz nicht rechtzeitig einen Riegel<br />
hat vorschieben können, und (4) Nguyen Trong<br />
Kimh, der Parteichef der zentral gelegenen Provinz<br />
Quang Tri, trägt nach Meinung des ZK die Schuld<br />
dafür, dass die Fraktionskämpfe in den Führungsreihen<br />
seiner Provinz das Normalmaß weit überschritten<br />
hätten. 13<br />
Zwei Monate nach der ZK-Sitzung stürzte noch ein<br />
weiterer Spitzenkader, nämlich der stellvertretende<br />
Vorsitzende des Komitees für Sport und Körperkultur,<br />
und zwar aufgrund eines – gerade im vietnamesischen<br />
Kontext besonders verwerflichen – Vorwurfs<br />
des Kindesmissbrauchs. Luong Quoc Dong wurde beschuldigt,<br />
er habe sich ein 13-jähriges Mädchen gegen<br />
Bezahlung zuführen lassen, um es sexuell zu missbrauchen.<br />
14<br />
Bei Meldungen dieser Art müssen der KPV in der Tat<br />
manchmal Zweifel an ihrer bisherigen Kaderpolitik kommen.<br />
1.1.2<br />
Der Bauplatz für das neu zu errichtende Parlamentsgebäude<br />
erweist sich als archäologische<br />
Fundgrube<br />
Umgeben von Regierungs- und ZK-Gebäuden liegt am<br />
Hanoier Ba-Dinh-Platz – und zwar direkt gegenüber<br />
dem Ho-Chi-Minh-Mausoleum – jenes vier Hektar große<br />
Grundstück, auf dem das neue Gebäude der Nationalversammlung<br />
errichtet werden soll.<br />
Der Auftrag für den Bau war am 13. August 2003<br />
vom vietnamesischen Staatspräsidenten erteilt worden,<br />
und zwar nach Plänen des Hamburger Architekturbüros<br />
gmp. 15 Bereits kurze Zeit danach hatten die Aushebearbeiten<br />
begonnen, die, weil es sich um ein historisch wichtiges<br />
Areal handelt, unter der Aufsicht von Archäologen<br />
erfolgte. Was bei der Arbeit der rund 1.400 eingesetzten<br />
Kräfte binnen kürzester Zeit ans Tageslicht kam, begann<br />
allgemeines Staunen zu erregen: Ausgegraben wurden u.a.<br />
Teile einer chinesischen Zitadelle und eines Brunnens aus<br />
der Tang-Zeit (618-907), also jener Periode, in der die über<br />
tausendjährige chinesische Direktherrschaft (111 v.Chr.-<br />
938 n.Chr.) zu Ende ging, ferner Abschnitte einer alten<br />
Stadtmauer aus der Ly-Dynastie (1009-1225) von 1037<br />
sowie Drachen- und Königsköpfe und Reste eines Drainagesystems<br />
aus der Tran-Dynastie (1225-1400). Darüber<br />
hinaus fanden die Arbeiter Spuren aus der Ho-Dynastie<br />
(1400-1407), aus der Zeit der Ming-Invasion (1407-1428)<br />
und nicht zuletzt Reste von 13 Gebäuden aus der Späten<br />
Le-Dynastie (1428-1524).<br />
Die Freude über die Funde war gepaart mit Ratlosigkeit.<br />
Was tun? Noch vor wenigen Jahren wären die „alten<br />
Spuren“ kurzerhand beseitigt worden. Im Zeichen der nationalen<br />
Rückbesinnung („vieltausendjähriges <strong>Vietnam</strong>“)<br />
und des Aufblühens der Tourismusindustrie hat sich die<br />
13 XNA, 14.1.04.<br />
14 XNA, 2. und 9.3.04.<br />
15 Nähere Einzelheiten dazu in SOAa, 5/2003, S.436f.
SÜDOSTASIEN aktuell - 243 - Mai 2004<br />
Einstellung jedoch grundlegend gewandelt: Zeigten die<br />
Funde nicht deutlich, wie sehr sich <strong>Vietnam</strong> – bei aller<br />
Anlehnung an das chinesische Vorbild – im Laufe der Zeit<br />
vom einstigen Vorbild habe lösen und eine eigene Identität<br />
annehmen können?<br />
Überdies hatten sich die vietnamesischen Ideologen<br />
noch vor wenigen Jahren fast ausschließlich für Perioden<br />
des anti-chinesischen Abwehrkampfes interessiert (und –<br />
ganz in diesem Sinne – sogar ihre Museen nach Angriffsund<br />
Abwehrperioden neu ausgerichtet). Mittlerweile aber<br />
tritt das Interesse an kulturgeschichtlichen Aspekten immer<br />
stärker in den Vordergrund.<br />
Kein Wunder, dass sich in den höheren Führungsetagen<br />
schon bald eine lebhafte Debatte über das weitere<br />
Vorgehen entfaltete. Drei Vorschläge stehen mittlerweile<br />
ins Haus:<br />
1. Die Bauarbeiten werden nach Plan fortgesetzt. Das<br />
NV-Gebäude habe bis zum Beginn des APEC-Forums<br />
(im Jahre 2006) fertig zu sein.<br />
2. Die Bauarbeiten werden nur dort zugelassen, wo keine<br />
Fundstätten liegen. Die historische Substanz müsse<br />
im Ganzen erhalten bleiben und der Platz in ein Freilichtmuseum<br />
umgewandelt werden. Das Gebäude der<br />
Nationalversammlung könne, wenn dafür noch genügend<br />
Raum bleibe, allenfalls um die Fundstätte herum<br />
gebaut werden. Diese Meinung vertreten das Kulturministerium<br />
und der Generalsekretär der vietnamesischen<br />
Geschichtsvereinigung, Professor Duong Trung<br />
Quoc.<br />
3. Die Bauarbeiten werden gestoppt. Das Gelände solle<br />
vielmehr zum Teil in ein Museum umgewandelt und<br />
der Rest in einen Park umgewidmet werden, der „bei<br />
Gelegenheit von der nächsten Generation auszugraben“<br />
sei.<br />
Den Befürwortern der letztgenannten Lösung wäre es am<br />
liebsten, wenn die UNESCO das Ganze zum „Weltkulturerbe“<br />
erklärte. Allerdings herrscht hierbei auch viel Hilflosigkeit,<br />
da man die Bedeutung der Grabungsfunde nur<br />
schlecht einschätzen kann und da man vor allem keine<br />
Erfahrungen in der Konservierung empfindlicher Relikte<br />
unter schwierigen subtropischen Klimabedingungen hat.<br />
Für eine Erhaltung des historischen Bestands haben<br />
sich inzwischen altgediente hochrangige Funktionäre vom<br />
Range des früheren Ministerpräsidenten Vo Van Kiet, des<br />
früheren KPV-Generalsekretärs Do Muoi und des „Helden<br />
von Dien Bien Phu“, Vo Nguyen Giap, stark gemacht.<br />
Wenn es nach ihren Wünschen ginge, sollte das<br />
NV-Gebäude an einer anderen Stelle errichtet werden. Sie<br />
glauben, dabei ganz im Sinne des Gründungsvaters des<br />
modernen <strong>Vietnam</strong>, Ho Chi Minhs, zu handeln.<br />
1.1.3<br />
Vogelgrippe gebannt?<br />
Wie bereits geschildert 16 gehört(e) <strong>Vietnam</strong> zu jenen zehn<br />
asiatischen Ländern, die seit Januar 2004 von der Vogelgrippe<br />
erfasst worden waren. Am 30. Januar war ein<br />
nationales Steuerungskomitee zur Bekämpfung der Vogelgrippe<br />
eingerichtet und damit ein systematisches Vorgehen<br />
gegen die neuartige Seuche eingeleitet worden. Mitte<br />
16 Dazu SOAa, 2/2004, S.136f.<br />
Februar hatte sich die höchste Alarmstufe eingestellt: 41<br />
der 64 Provinzen und Städte waren bis dahin von der<br />
Seuche erfasst und rund fünf Dutzend Ansteckungsverdächtige<br />
unter nähere ärztliche Beobachtung genommen<br />
worden. Darüber hinaus hatte es bereits 14 Tote gegeben.<br />
17 Bis Anfang März waren der Seuche 38 Millionen<br />
Stück Geflügel, darunter rund 50% Hühner, 30% Enten<br />
und Gänse sowie 20% Wachteln und andere Vögel zum<br />
Opfer gefallen oder aber gekeult worden – ein erheblicher<br />
Schaden für die Volkswirtschaft, die noch Ende 2003 über<br />
eine Geflügelpopulation von 254 Millionen Stück verfügt<br />
hatte. 18<br />
Schon Mitte März allerdings gab es ein Aufatmen: Die<br />
Veterinärbehörden konnten damals feststellen, dass seit<br />
längerer Zeit keine neuen Ausbreitungsphänomene mehr<br />
zu beobachten seien, 19 weshalb Ende März die unmittelbare<br />
Gefahr für weitgehend beendet erklärt wurde. Die<br />
Behörden führten das schnelle Abflauen der Gefahr auf die<br />
Vielzahl entschlossener Gegenmaßnahmen, d.h. auf rechtzeitige<br />
Aufklärung, Versorgung der gefährdeten Bevölkerung<br />
mit dem Gegenmittel Tamiflu und auf die Keulung<br />
gefährdeter Bestände zurück. 20<br />
Auch internationale Organisationen hatten unter Anleitung<br />
der WHO, FAO und nicht zuletzt auch der EU-<br />
Kommission tatkräftig Mithilfe geleistet und überdies das<br />
Versprechen abgegeben, bei der Wiederherstellung der<br />
Geflügelpopulation drei Jahre lang Hilfe zu leisten. 21<br />
Vorübergehend hatte es den Anschein, als würde das<br />
Übel der Vogelgrippe auch noch durch die Maul- und<br />
Klauenseuche (MKS) verschärft, nachdem im Februar in<br />
zwei zentralvietnamesischen Provinzen, nämlich in Quang<br />
Nam und in Phu Yen, rund 1.000 Kühe und etwa 200<br />
Schweine von dieser Krankheit befallen worden waren. 22<br />
Nachdem die Veterinärbehörden aber auch hier schnell<br />
zugegriffen hatten, blieb es bei dem Marginalschaden.<br />
Darüber hinaus konnte man feststellen, dass auch keine<br />
Querverbindung zwischen Vogelgrippe und MKS bestand.<br />
Zwar hatte ein vietnamesischer Veterinär auf vorläufige<br />
Tests verwiesen, denen zufolge drei oder vier Schweine<br />
positiv auf den Vogelvirus getestet worden seien, doch<br />
konnte die FAO diese Aussage aufgrund eigener Untersuchungen<br />
widerlegen. Allerdings gelten Schweine als ideale<br />
Wirte für eine Ansiedlung von Viren, weshalb den vietnamesischen<br />
Behörden empfohlen wurde, weiterhin auf der<br />
Hut zu bleiben. 23<br />
Alles in allem dürfte <strong>Vietnam</strong> im Jahre 2004 durch<br />
Einwirkungen der Vogelgrippe etwa 1% seines BIP verloren<br />
haben. 24<br />
Das Schlimmste war der Bevölkerung aber immerhin<br />
erspart geblieben, nämlich die Übertragung des H5N1-<br />
Virus von Mensch zu Mensch. Die Übertragung war also<br />
auf die Stufen 1 und 2 (von Geflügel zu Geflügel und von<br />
Tier auf Mensch) beschränkt geblieben, wobei die Hauptbetroffenen<br />
vor allem Kinder waren.<br />
17 XNA, 3.3.04.<br />
18 XNA, 2.3.04.<br />
19 VNA, in BBC, 11.3.04.<br />
20 XNA, 23.2.04.<br />
21 RH,inBBC,3.3.04.<br />
22 XNA, 10. und 25.2.04.<br />
23 NZZ, 7. und 8.2.04.<br />
24 XNA, 17.2.04.
SÜDOSTASIEN aktuell - 244 - Mai 2004<br />
Was dem einen Landwirtschaftszweig, nämlich der Geflügelzucht,<br />
geschadet hatte, kam einem anderen Bereich,<br />
nämlich der Fischindustrie, zugute, da weite Teile der Bevölkerung<br />
aus hygienischen Vorbehalten beim Kauf von<br />
Lebensmitteln auf Fischprodukte umstiegen. 25<br />
1.1.4<br />
Südvietnams einstiger Ministerpräsident Nguyen<br />
Cao Ky besucht nach 30 Jahren Abwesenheit seine<br />
alte Heimat<br />
In den 21 Jahren ihrer Existenz (1954-1975) hatte die Republik<br />
(Süd-)<strong>Vietnam</strong> fünf Minister-/Staatspräsidenten,<br />
nämlich Ngo Dinh Diem (1954-1963), General Duong<br />
Van Minh (1963/64), General Nguyen Khanh (1964/65),<br />
„Luft-Marschall“ Nguyen Cao Ky (1965-1967) und – nach<br />
Änderung des Grundgesetzes im Jahre 1967, durch die<br />
die eigentliche politische Gewalt auf den Staatspräsidenten<br />
überging – zwei Staatspräsidenten, nämlich General<br />
Nguyen Van Thieu (1967-1975) und – erneut – „Big Minh“<br />
(Duong Van Minh), diesmal als „Neun-Tages-Präsident“,<br />
der, kurz vor dem Ende Südvietnams, das Präsidentenamt<br />
eigentlich nur noch als eine Art Konkursverwalter, d.h. zu<br />
dem Zweck übernommen hatte, um die Kapitulation des<br />
Südens vor dem Norden zu vollziehen.<br />
Ky war also der dritte unter diesen fünf führenden<br />
Politikern Südvietnams gewesen und hatte überdies, von<br />
1967 bis 1971, das Amt des Vize-Staatspräsidenten wahrgenommen.<br />
Geboren 1930 im nordvietnamesischen Son Tay (rund<br />
40 km von Hanoi entfernt), hatte er nach dem Abschluss<br />
der höheren Schule und nach einer Pilotenausbildung in<br />
Frankreich die Militärkarriere eingeschlagen und sich 1954<br />
in den Dienst Südvietnams gestellt, wobei er, unter Ministerpräsident<br />
Ngo Dinh Diem, zum Oberst der Luftwaffe<br />
avancierte.<br />
Nach der Ermordung Diems und dem Aufstieg General<br />
Duong Van Minhs zum Führer der neuen Militärregierung<br />
Südvietnams (1963/64) schloss sich Ky den „Jungtürken“<br />
an, d.h. einer Gruppe junger Offiziere, die noch von Ministerpräsident<br />
Diem gefördert worden waren und die jetzt<br />
unter der Leitung Nguyen Khanhs dazu übergingen, Minh<br />
im Januar 1964 zu stürzen. Zu den Jungtürken gehörte,<br />
neben Ky, auch der spätere Staatspräsident Nguyen Van<br />
Thieu. Mit US-amerikanischer Hilfe wurde Ky noch im<br />
gleichen Jahr Ministerpräsident und blieb dies bis 1967.<br />
Kys Bild ist den meisten damaligen Zeitgenossen unvergesslich<br />
geblieben: Mit seiner elegant getragenen Uniform,<br />
seinem Schnurbärtchen, seinem lila Halstuch und seinem<br />
lockeren Lebenswandel (Spielen, Trinken, Drogenhandel<br />
(nach Vietminh-Behauptung), drei Ehefrauen, sechs Kinder)<br />
bot er der bunten Presse viele Jahre hindurch nie<br />
enden wollenden Stoff.<br />
Der „Playboy-Premier“ musste sich überdies häufig<br />
Vergleiche mit dem altersweisen „Onkel“ Ho Chi Minh<br />
gefallen lassen und hat dabei fast immer den Kürzeren<br />
gezogen.<br />
Als Nguyen Van Thieu 1967 zum Staatspräsidenten<br />
gewählt wurde und damit eine Position erklomm, die im<br />
Gefolge der Novellierung des Grundgesetzes politisch bedeutsamer<br />
geworden war als das Ministerpräsidentenamt,<br />
25 AWSJ, 5.2.04.<br />
agierte Ky vier Jahre lang, nämlich von 1967 bis 1971, als<br />
stellvertretender Staatspräsident, zog sich dann aber aus<br />
der Politik zurück.<br />
Während des Ho-Chi-Minh-Feldzugs im Jahr 1975 forderte<br />
er, dass Saigon zum „Stalingrad“ der angreifenden<br />
Nordvietnamesen ausgebaut und im Straßenkampf verteidigt<br />
werden sollte. Als ihn mit diesen Plänen niemand<br />
mehr ernst nehmen wollte, floh er im April 1975 vor den<br />
heranmarschierenden nordvietnamesischen Truppen per<br />
Hubschrauber aufs Südchinesische Meer und landete dort<br />
auf einem US-amerikanischen Flugzeugträger, um sich anschließend<br />
nach Südkalifornien abzusetzen und dort eine<br />
neue Karriere als Geschäftsmann und als Verfasser zahlreicher<br />
Bücher über <strong>Vietnam</strong> zu beginnen.<br />
Noch vor wenigen Jahren wäre keine vietnamesische<br />
Regierung auf den Gedanken gekommen, Ky zurück ins<br />
Land reisen zu lassen, doch hat mittlerweile die Bush-<br />
Regierung den Hanoier Politikern empfohlen, im Interesse<br />
einer Besserung der amerikanisch-vietnamesischen Beziehungen<br />
eine Visite Kys in Betracht zu ziehen. Daraufhin<br />
hatte sich der jetzige Außenminister Nguyen Pho Binh<br />
im Frühjahr 2003 mit Ky in San Francisco ins Benehmen<br />
gesetzt. Seitdem befand sich Ky mit der vietnamesischen<br />
Regierung im Gespräch und hat ihr u.a. zwei Ratschläge<br />
erteilt, nämlich zum einen den Kampf gegen die Korruption<br />
zu verstärken und zum anderen darauf zu achten, dass<br />
die Lücke zwischen Reich und Arm nicht noch größer werde.<br />
26 Die Hanoier Regierung hatte sich mittlerweile dazu bereit<br />
erklärt, dem einstigen Premier ein Visum zu erteilen,<br />
das dieser schließlich anlässlich des Tet-Neujahrsfests<br />
(vom 21. bis 27. Januar 2004) wahrnahm, indem der, 29<br />
Jahre nach seiner überstürzten Flucht, in seine Heimat zurückkehrte<br />
und dabei nicht nur Ho-Chi-Minh-Stadt, sondern<br />
auch Son Tay und Hanoi besuchte.<br />
Die Reise wurde ihm von den meisten Auslandsvietnamesen<br />
in den USA verübelt. Wie könne Ky, der einstige<br />
Erzfeind des Kommunismus, heutzutage all seine Grundsätze<br />
von früher über Bord werfen und ein Land besuchen,<br />
das immer noch die Menschenrechte verletze?<br />
Ky widersprach diesen Kritikern und postulierte, dass<br />
die Zeit der Versöhnung gekommen sei. Wenn man jetzt<br />
nicht die Hand ausstrecke, gebe es überhaupt keine Reparaturmöglichkeiten<br />
mehr. Außerdem gelte es, <strong>Vietnam</strong><br />
näher an die USA heranzuführen, um so eine Gegenbalance<br />
zum allzu gefährlichen China zu gewinnen.<br />
Außerdem verstehe er sich als einer jener drei Millionen<br />
Auslandsvietnamesen, die jährlich bis zu US$ 2 Mrd.<br />
zurück in ihre Heimat überwiesen und dadurch dem Land<br />
dazu verhelfen wollten, möglichst schnell wieder auf die<br />
Beine zu kommen. 27<br />
In Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon, wurde<br />
der so viele Jahrzehnte lang abwesende General mit offenen<br />
Armen willkommen geheißen, vor allem von seinen<br />
früheren Mitkämpfern und Bodyguards.<br />
Ky erklärte, eines Tages vielleicht wieder ganz nach<br />
<strong>Vietnam</strong> zurückkehren zu wollen, um seinem Vaterland<br />
dienen zu können.<br />
Seine beiden einstigen politischen Hauptkonkurrenten,<br />
26 So IHT, 24.1.04.<br />
27 SCMP, 15.1.04.
SÜDOSTASIEN aktuell - 245 - Mai 2004<br />
Duong Van Minh und Nguyen Van Thieu, haben bereits<br />
– im August bzw. September 2001 – das Zeitliche gesegnet.<br />
28<br />
1.2<br />
Wirtschaft<br />
1.2.1<br />
Zwischenergebnis bei der Jahrhundertaufgabe<br />
der Umstrukturierung staatseigener Betriebe<br />
1.2.1.1<br />
Kapitalisierung immer noch im Schneckentempo<br />
Mit zu den Hauptinteressen bei der Entwicklung der<br />
vietnamesischen Volkswirtschaft gehören – auch nach<br />
eigenem Eingeständnis – mangelnde Effizienz und<br />
Wettbewerbsfähigkeit vieler Unternehmen, vor allem<br />
der staatseigenen Betriebe (SEB), in der DDR VEB<br />
(volkseigene Betriebe) genannt. Obwohl hier ein hohes<br />
Umwandlungstempo vonnöten wäre, kommt es gerade<br />
bei ihnen immer wieder zu Verschleppungen. Betriebswirtschaftlich<br />
gesehen setzten die großen Umwandlungen<br />
erstaunlicherweise erst 1991 ein, obwohl die politischen<br />
Reformbeschlüsse dafür bereits 1986 gefasst worden waren.<br />
Seitdem hat es sechs mehr oder minder erfolgreiche<br />
Anläufe zur Beschleunigung der SEB-Kapitalisierung<br />
gegeben, nämlich (1) das Gesetz über Privatunternehmen<br />
vom 15. April 1991, (2) den Plan der Regierung vom<br />
1.1.2001 über die beschleunigte Umwandlung von SEB<br />
bis 2005, 29 (3) den Erlass eines Betriebs- und eines Konkursgesetzes<br />
von 1999 bzw. 1993, (4) die Gründung der<br />
ersten Börse im Juli 2000, (5) die Verabschiedung eines<br />
Gesetzes über die Förderung inländischer Investitionen<br />
und (6) den Beschluss des 5. Plenums des IX. ZK über<br />
die weitere Umstrukturierung von SEB vom September<br />
2001. 30<br />
Die Entwicklung im Einzelnen:<br />
– Noch 1991 hatte es 12.300 SEB 31 gegeben, manchmal<br />
war auch von 13.300 32 die Rede gewesen.<br />
– Bis Mitte 2000 war dieser Bestand auf 5.280 SEB (mit<br />
1,68 Millionen Arbeitern und Angestellten) zurückgegangen,<br />
von denen allerdings auch jetzt lediglich 40%<br />
profitabel arbeiteten, während 20% nach wie vor rote<br />
Zahlen schrieben. 33<br />
– Am 1.1.2001, als die Regierung ihren Umstrukturierungsplan<br />
(mit der Perspektive bis 2005) bekannt gab,<br />
lag die Zahl der SEB bei rund 4.600. Nach dem neuen<br />
Plan sollten von diesem Bestand bis 2005 insgesamt<br />
2.622 weitere Unternehmen umstrukturiert werden.<br />
Davon seien 1.319 zu kapitalisieren, 562 zu verkaufen<br />
oder zu verpachten, 251 zusammenzulegen, 368 aufzulösen<br />
oder für bankrott zu erklären und 27 in den<br />
staatlichen Verwaltungsapparat einzugliedern. (Was<br />
mit den restlichen 95 SEB geschehen soll, wurde nicht<br />
näher erläutert.) Insgesamt sollten die Staatsbetriebe<br />
28 Näheres zu ihren Biographien in SOAa, 6/2001, S.543ff.<br />
29 Ebenda.<br />
30 Dazu in Einzelnen SOAa, 6/2002, S.554.<br />
31 Dazu vgl. VER, Nr.9/109 (2003), S.8.<br />
32 Dazu SOAa, 6/2002, S.554 m.N.<br />
33 Dazu SOAa, 6/2001, S.549.<br />
bis Ende 2003 auf rund 3.000, bis 2005 aber auf rund<br />
2.000 abgeschmolzen werden.<br />
Die dann noch fortbestehenden SEB seien, wie unten noch<br />
näher auszuführen ist, neu zu gruppieren.<br />
1.2.1.2<br />
Die derzeitigen Eigentumsverhältnisse bei den<br />
SEB ...<br />
Ende 2002 gab es bei den SEB folgende drei Kategorien<br />
von Eigentümern:<br />
– Haupteigentümer von jeweils mehreren Dutzend von<br />
Betrieben waren vor allem die Ministerien für Handel,<br />
für Bauwesen, für Industrie, für Transport und für<br />
Landwirtschaft. 34<br />
– Hinzu kamen Provinzen und Städte; so besaß die<br />
Stadt Hanoi Mitte 2002 44 SEB, die bis 2005 allerdings<br />
auf 18 reduziert werden sollen. 35<br />
– Eine weitere Eigentümergruppe bildeten die mittlerweile<br />
errichteten staatlichen Konzerne, deren Zahl sich<br />
Ende 2002 auf 86 belief, von denen wiederum lediglich<br />
18 zur „Konzern 91“-Kategorie gehörten (Näheres<br />
dazu unten), während 68 für eine spätere Kapitalisierung<br />
disponibel bleiben sollten. 36 Hauptbeispiele des<br />
Typs „Konzern 91“ waren hierbei die Korporationen<br />
für das Eisenbahnwesen, für den Seetransport, für die<br />
Zivilluftfahrt und für den Chemiebereich. Jeder dieser<br />
Konzerne besaß nach wie vor Dutzende von SEB.<br />
Von den rund 990 SEB, die zwischen Januar 2001 und<br />
September 2002 umstrukturiert worden waren, hatten 167<br />
verschiedenen Ministerien, 751 den Provinzen und Städtensowie72einigenderuntennochzuerläuterndenKonzernen<br />
gehört. 37<br />
Neben den 86 Konzernen, von denen allein 60 dem<br />
Industrie-, Bau- und Kommunikationsbereich und der<br />
Rest dem landwirtschaftlichen sowie dem Tertiärbereich<br />
angehörten (und die alle ihre eigenen Tochterbetriebe besaßen),<br />
gab es Ende 2002 noch 3.600 „unabhängige“ SEB,<br />
die entweder den Ministerien oder aber den Provinzen und<br />
Städten unterstanden.<br />
1.2.1.3<br />
... und die üblichen Gestaltungsvorstellungen: Effizienz<br />
und Wettbewerbsfähigkeit als neue Messlatten<br />
Die neuen Richtlinien laufen auf Entwicklungen hinaus,<br />
die für viele Kader nach wie vor überaus gewöhnungsbedürftig<br />
sind: Nach den Vorstellungen des oben erwähnten<br />
Parteibeschlusses vom September 2001 sollen für die<br />
Organisation von SEB künftig nicht mehr Eigentums-,<br />
sondern ausschließlich Effizienzüberlegungen maßgebend<br />
sein. Früher war Volkseigentum die dem Sozialismus gemäße<br />
Form von Verfügungsmacht, während kollektives<br />
Eigentum eher zweitklassiger Art, privates Eigentum an<br />
Produktionsmitteln aber a priori unzulässig war. Heutzutage<br />
aber sind alle Betriebe grundsätzlich in nichtstaatliche<br />
Unternehmen umzuwandeln, sei es nun in Personalgesellschaften<br />
oder aber in Kapitalgesellschaften vom AG-<br />
34 Dazu VER, Nr.9/109 (2003), S.6.<br />
35 XNA, 14.8.02.<br />
36 Dazu VER, Nr.9/109 (2003), S.3-6.<br />
37 Ebenda, S.8.
SÜDOSTASIEN aktuell - 246 - Mai 2004<br />
oder GmbH-Zuschnitt. Die wenigen nach der großen Umwandlungswelle<br />
noch verbliebenen SEB seien in Konzernen<br />
zusammenzufassen oder nach dem Schema „Mutterkompanien<br />
und Tochterbetriebe“ umzubauen: Der Papierkonzern<br />
bspw. habe seine Tochterbetriebe dann möglichst<br />
um die Holz liefernden Forstgebiete herum aufzubauen,<br />
der Textil- und Bekleidungskonzern seine Spinnereifilialen<br />
in Gebiete mit Baumwollkulturen zu verlegen. Der „Konzern<br />
91“ schließlich solle als Musterbetrieb für all jene Unternehmen<br />
dienen, die zu 100% in staatlichem Eigentum<br />
verbleiben. 38<br />
100%iges Eigentum in diesem Sinne ist – gemäß der<br />
Parteiresolution vom September 2001 – nur noch ausnahmsweise<br />
beizubehalten, z.B. bei der Herstellung von<br />
Rüstungsgütern, bei der Eisenbahn, im Elektrizitätsbereich,<br />
im Getreidegroßhandel, bei „wichtigen Chemikalien“,<br />
im Lufttransport, im internationalen Frachtgeschäft,<br />
im Versicherungswesen und bei „wichtigen Telekommunikationsdiensten“.<br />
39 Nur die strategisch allerwichtigsten<br />
Bereiche sollten also zur „Konzern 91“-Kategorie gehören.<br />
Der Umwandlungsprozess, wie er mittlerweile theoretisch<br />
so schön ausformuliert worden ist, kommt in der bisherigen<br />
Praxis allerdings nur im Schneckentempo voran.<br />
Zwischen 1992 und 1998 bspw. wurden gerade einmal 120<br />
Betriebe in diesem Sinne kapitalisiert, 1999 waren es 220<br />
SEB (ursprünglich geplant: 450) und i.J. 2000 171 (statt<br />
geplanter 337). In der Periode 2001-2003 wurden 1.766<br />
SEB umstrukturiert, davon – erstaunlicherweise erstmals<br />
– 905 kapitalisiert. 40<br />
Warum nur, fragen sich ausländische Beobachter, geht<br />
es mit der Kapitalisierung so schleppend voran, obwohl<br />
kapitalisierte Betriebe doch erfahrungsgemäß wesentlich<br />
bessere Ergebnisse erzielen? Die Gründe dafür liegen erstens<br />
bei den SEB-Managern, die Angst vor dem Verlust<br />
ihrer Privilegien und überhaupt vor unüberschaubaren<br />
Neuerungen haben. Zweitens gibt es aber auch Schwierigkeiten<br />
mit der Umsetzung jener drei Startauflagen, die<br />
jeder Kapitalisierung vorauszugehen haben, nämlich der<br />
Abtragung fauler Schulden, der fairen Bewertung des Betriebsvermögens<br />
und der Ausgabe von Wertpapieren: Wie<br />
aber soll man aus den Schulden herauskommen, und wie<br />
sollen Betriebsvermögensverhältnisse von Kadern bewertet<br />
werden, die häufig nicht einen betriebswirtschaftlichen,<br />
sondern einen politischen Werdegang hinter sich haben<br />
und die deshalb mit Kalkulationen nicht selten auf<br />
Kriegsfuß stehen?<br />
Darüber hinaus sind Abwehrreaktionen gegen neue<br />
Managementformen allgegenwärtig: Künftig sollen die<br />
Spitzenmanager ja nicht mehr, wie bisher, durch das jeweilige<br />
Ministerium „amtlich“ bestellt, sondern als Quereinsteiger<br />
aufgrund wirtschaftlicher Fähigkeiten – und<br />
über koordinative Anstellungsverträge – herangezogen<br />
werden. 41<br />
Obwohl also zahlreiche bisherige SEB durch eine Kapitalisierung<br />
schnell vom roten in den schwarzen Zahlenbereich<br />
kommen könnten (so zumindest nach den Erfahrungen<br />
bereits umstrukturierter Betriebe), bleiben die Bedenkenträger<br />
in der Überzahl, weil sie glauben, persönlich<br />
38 Dazu SOAa, 6/2001, S.550f.<br />
39 Im Einzelnen dazu SOAa, 6/2002, S.554f.<br />
40 XNA, 9.3.04.<br />
41 VER, Nr.9/109 (2003), S.7-10.<br />
mehr zu verlieren, als ihre Betriebe sachlich gewinnen können.<br />
Ungeachtet all dieser Widerstände will die Regierung<br />
bei ihrem harten Kurs bleiben: Am 28. Januar 2003 hatte<br />
der Ministerpräsident bspw. angeordnet, dass allein das<br />
Industrieministerium bis Ende 2004 nicht weniger als 70<br />
seiner Unternehmen – und bis Ende 2005 83 weitere –<br />
kapitalisieren müsse.<br />
Auch eine Reihe von Konzernen hatte bis Ende 2003<br />
Tochterbetriebe für die Kapitalisierung freigeben müssen,<br />
so der Chemiekonzern bspw. zwölf Unternehmen, der Baukonzern<br />
acht, der Textil-/Bekleidungskonzern sieben, der<br />
Mineralienkonzern fünf und der Stahlkonzern sechs. 42 Die<br />
Umwandlungsziele waren zwar auch damit nur teilweise<br />
erfüllt worden; umso stärker aber muss nach Meinung des<br />
Ministerpräsidenten der Druck auf Konzerne und andere<br />
Eigentümer bleiben.<br />
1.2.2<br />
Auslandsvietnamesen und ihr Kapital<br />
Die etwa 2,7 Millionen <strong>Vietnam</strong>esen, die in über 90 Staaten<br />
der Welt verstreut leben (davon 80% in hoch entwickelten<br />
Ländern), haben 2003 ihre Überweisungen abermals<br />
um 20% gegenüber dem Vorjahr gesteigert, und zwar<br />
auf eine Summe von diesmal US$ 2,6 Mrd. 43 2001 waren<br />
es US$ 1,75 Mrd., 2002 US$ 2,4 Mrd. und 2003 US$ 2,5<br />
Mrd. gewesen. 44<br />
Bis Ende 2003 haben sie Investitionen in 74 Projekte<br />
mit einem Gesamtwert von US$ 540 Mio. eingebracht.<br />
Daneben sind sie noch an rund 1.200 kleineren Unternehmenseinheiten<br />
mit einem Gesamtwert von VND 2,2<br />
Billionen beteiligt.<br />
Fast alle oben erwähnten Projekte sind im Tourismus<br />
und im Servicebereich angesiedelt, so das Mitte 2004 in<br />
Hanoi entstehende Handelszentrum. Vor allem aber sind<br />
es zahlreiche Hotels, darunter das Fünf-Sterne-Haus „Vinpearl<br />
Ressort“ auf einer Insel vor der im südlichen Zentralvietnam<br />
gelegenen Provinz Khanh Hoa, in die das Viet-<br />
Khieu-Kapital fließt.<br />
Auslandsvietnamesen haben auch eine Reihe von Technologien<br />
ins Land gebracht, seien es nun Verfahren zur<br />
Herstellung einer Vier-Farben-Tinte für PC-Drucker oder<br />
für die Verarbeitung von Shrimps.<br />
Nicht zuletzt haben sie Stipendien für vietnamesische<br />
Studenten gestiftet und betreiben, gemeinsam mit dem<br />
UNDP, das „Transfer of Knowledge through Expatriate<br />
Nationals“- (TOKTEN-) Projekt.<br />
Im Jahre 2003 sind rund 300.000 Viet Khieu zu einem<br />
Heimatbesuch gekommen, 80.000 weniger als noch 2002 –<br />
eine Folge von SARS. 45<br />
1.3<br />
Außenpolitik<br />
1.3.1<br />
<strong>Vietnam</strong>s Außenpolitik im Jahre 2003<br />
Wie das vietnamesische Außenministerium am 1. Januar<br />
2004 zu verstehen gab, habe die SRV im abgelaufenen<br />
42 VNA, in BBC, 7.2.04.<br />
43 VNA, in BBC, 24.12.03.<br />
44 SOAa, 5/2003, S.443.<br />
45 Ebenda.
SÜDOSTASIEN aktuell - 247 - Mai 2004<br />
Jahr versucht, ihr politisches Umfeld weiter zu stabilisieren.<br />
Vor allem habe man sich in Hanoi bemüht, die „langfristige<br />
Kooperation“ mit wichtigen Partnern noch nachdrücklicher<br />
als bisher zu betreiben, um auf diese Weise vor<br />
allem dem Wachstum und dem gemeinsamen wirtschaftlichen<br />
Vorankommen zu dienen. 46 Diese Politik solle 2004<br />
verstärkt fortgesetzt werden. Als eines von mehreren Beispielen<br />
wurde dafür das nachfolgend näher zu beschreibende<br />
neue Verhältnis zu Thailand hervorgehoben.<br />
<strong>Vietnam</strong> legt neuerdings Wert darauf zu betonen, dass<br />
seine Außenpolitik nicht nur Staaten als Partner betrachte,<br />
sondern auch die meisten der in <strong>Vietnam</strong> aktiven<br />
NGOs. Seit nunmehr über einem Jahrzehnt hätten<br />
514 Nichtregierungsorganisationen aus 26 Ländern rund<br />
16.000 Projekte in <strong>Vietnam</strong> durchgeführt und zu diesem<br />
Zweck rund US$ 700 Mio. aufgebracht. In den „vergangenen<br />
Jahren“ seien der SRV von NGO-Seite pro Jahr Projekte<br />
von im Durchschnitt US$ 80 Mio. zugeführt worden.<br />
Um diese Arbeit ins rechte Licht zu stellen, hatte Mitte<br />
November 2003 eine dreitägige „<strong>Vietnam</strong>-NGO Cooperation<br />
Conference“ in Hanoi stattgefunden. 47<br />
1.3.2<br />
Weitere Annäherung an Thailand: Politik der<br />
großen Gesten<br />
Seit nunmehr fast 30 Jahren (Aufnahme diplomatischer<br />
Beziehungen im Jahre 1976) versuchen die beiden (nur<br />
durch die Korridore <strong>Laos</strong> und <strong>Kambodscha</strong> voneinander<br />
getrennten) Nachbarn einander näher zu kommen, nachdem<br />
sie vorher – d.h. in den Zeiten des Kalten Kriegs und<br />
vor allem der beiden <strong>Vietnam</strong>-Kriege – auf verschiedenen<br />
Seiten gestanden hatten.<br />
Das Blatt hat sich aber erst Mitte der neunziger Jahre<br />
zu wenden begonnen, nachdem <strong>Vietnam</strong> 1995 ASEAN-<br />
Mitglied geworden war und beide Staaten nun plötzlich<br />
in einem gemeinsamen Boot saßen. Hinzu kamen im Laufe<br />
der Jahre noch zwei weitere bindungsvertiefende Erfahrungen,<br />
nämlich die gemeinsame Furcht vor dem immer<br />
mächtiger werdenden China und nicht zuletzt der<br />
<strong>Kambodscha</strong>-Schock, den Bangkok im Gefolge des antithailändischen<br />
Pogroms vom 29. Januar 2003 erlitten hatte<br />
– eine Erfahrung übrigens, das auch den <strong>Vietnam</strong>esen<br />
nicht ganz unbekannt ist. 48 Vor allem das letztgenannte<br />
Ereignis hat bei der thailändischen Führung den festen<br />
Entschluss ausgelöst, nun endlich Nägel mit Köpfen zu<br />
machen und die bereits seit der Jahrhundertwende bestehenden<br />
Möglichkeiten verstärkter Zusammenarbeit entschlossener<br />
zu nutzen, sei es nun in den Bereichen Außenhandel<br />
und Investitionen, Ost-West-Korridor, Kooperation<br />
bei den Exporten (durch Abmachungen zwischen<br />
den beiden als größten Reis-Exporteuren der Welt) sowie<br />
in Fragen der Sicherheit oder sei es durch Kooperation<br />
im Rahmen des Boao-Forums, dessen Zweck es ist, einer<br />
neuen Asienfinanzkrise vorzubeugen. 49<br />
Da Thailand spektaluläre Gesten liebt (noch vor wenigen<br />
Jahren hatte es die Schlagwort trächtige Devise<br />
von der „Umwandlung des Kampfplatzes Südostasien in<br />
einen großen Marktplatz“ ausgegeben), hat es auch dies-<br />
46 XNA, 2.1.04.<br />
47 VNA, in BBC, 19.11.03.<br />
48 Dazu SOAa, 2/2003, S.153ff.<br />
49 Zu diesen fünf Optionen vgl. SOAa, 4/2001, S.376ff.<br />
mal eine eindrucksvolle Kulisse aufgezogen, um seine neue<br />
Entschlossenheit ins rechte Licht zu rücken, nämlich die<br />
Abhaltung gemeinsamer Kabinettssitzungen, die am 20.<br />
und 21. Februar 2004 nacheinander zuerst im vietnamesischen<br />
Danang und, am folgenden Tag, im thailändischen<br />
Nakhon Phanom stattfanden und an denen nicht nur die<br />
beiden Ministerpräsidenten, sondern nicht weniger als 47<br />
Kabinettsmitglieder aus beiden Ländern teilnahmen.<br />
Thailand brachte bei dieser Gelegenheit seine wirtschaftliche<br />
Bedeutung für <strong>Vietnam</strong> in Erinnerung: Nach<br />
dem Stand von 2004 nehme Thailand unter den 64 Investitionspartnern<br />
<strong>Vietnam</strong>s den neunten Platz (mit 118<br />
Projekten und US$ 1,41 Mrd.) ein. Außerdem sei der beiderseitige<br />
Außenhandel von US$ 352 Mio. i.J. 1994 auf<br />
US$ 1,55 Mrd. i.J. 2003 angestiegen. 50<br />
Bei den beiden Kabinettssitzungen versuchten die Beteiligten,<br />
möglichst sämtliche Fragen im beiderseitigen<br />
Verhältnis anzusprechen und bildeten zu diesem Zweck<br />
drei Gruppen für die Bereiche Sicherheit, Wirtschaft und<br />
Kulturelles, wobei die feste Absicht bestand, die Gemeinsamkeiten<br />
möglichst zu betonen, die Differenzen aber zu<br />
minimieren, d.h. sich im typischen ASEAN-Geist zu verhalten.<br />
Im Verlauf der zwei Sitzungen wurden zehn Abkommen<br />
unterzeichnet – ein großes Zeremoniell, das, fein<br />
säuberlich auf jeweils fünf aufgeteilt, am ersten und am<br />
zweiten Tag „abgefeiert“ wurde.<br />
In Danang waren dies (1) die Gemeinsame Erklärung<br />
über das Rahmenwerk der vietnamesisch-thailändischen<br />
Zusammenarbeit in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts,<br />
(2) ein Protokoll zur Befreiung des diplomatischen<br />
Personals von Visa- und Passpflichten, (3) ein Memorandum<br />
über die technische Zusammenarbeit, (4) ein Memorandum<br />
über Ausbildungsfragen und (5) ein Abkommen<br />
über die Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsministerien<br />
beider Länder.<br />
In Nakhon Phanom kamen folgende Dokumente an die<br />
Reihe: (1) ein Abkommen über die Bekämpfung grenzüberschreitender<br />
Verbrechen, (2) ein Rahmenabkommen<br />
über wirtschaftliche Zusammenarbeit, (3) eine Gemeinsame<br />
Erklärung über Erleichterungen beim Straßentransport,<br />
(4) ein Memorandum über Zusammenarbeit in Hygienefragen<br />
und (5) ein Abkommen über die Durchführung<br />
wissenschaftlicher und technischer Kooperationsmaßnahmen<br />
zwischen den zuständigen Ministerien beider<br />
Länder. 51<br />
Am zweiten Tag fanden auch bedeutungsschwere Zeremonien<br />
anlässlich der Eröffnung eines thailändischvietnamesischen<br />
„Freundschaftsdorfs“ in Ban Nachok (in<br />
der Provinz Nakhon Phanom) statt, wo Ho Chi Minh von<br />
1923 bis 1931 lebte. 52<br />
Als weitere Geste gab die thailändische Regierung das<br />
Versprechen ab, 1.000 <strong>Vietnam</strong>esen, die in Thailand leben,<br />
die thailändische Staatsbürgerschaft zu verleihen. 53<br />
Am Rande der beiden Konferenzen wurde auch bekannt<br />
gegeben, dass das gemeinsame Abkommen über die<br />
Zusammenarbeit im Reissektor, das i.J. 2000 unterschrieben<br />
worden war, das dann aber nicht so recht funktioniert<br />
50 XNA, 27.2.04.<br />
51 RH, in BBC, 23.2.04.<br />
52 N, in BBC, 22.2.04.<br />
53 Ebenda.
SÜDOSTASIEN aktuell - 248 - Mai 2004<br />
hatte, nun mit umso größerer Entschlossenheit in die Tat<br />
umgesetzt werden solle. 54<br />
Ob auch über die Auslieferung von vietnamesischen<br />
Widerstandskämpfern verhandelt wurde, die im Jahre<br />
2001 Bomben vor der vietnamesischen Botschaft in Bangkok<br />
platziert hatten, 55 wurde nicht erwähnt. Ein Thema<br />
wie dieses fällt allerdings auch nicht unter die Gemeinsamkeiten,<br />
wie sie bei den Kabinettssitzungen behandelt<br />
werden sollten.<br />
1.3.3<br />
Idealpartner Singapur<br />
Seit der „Türöffnung“ <strong>Vietnam</strong>s, die im Jahre 1986 beschlossen<br />
wurde, haben sich die Beziehungen der SRV zu<br />
Singapur in geradezu idealer Weise entwickelt, und zwar<br />
lange noch vor dem Beitritt <strong>Vietnam</strong>s zur ASEAN (1996).<br />
Vor allem das Jahr 1992 war äußerst fruchtbar gewesen –<br />
mit Besuchen des damaligen Ministerpräsidenten Vo Van<br />
Kiet in der Inselrepublik und umgekehrt des ehemaligen<br />
Ministerpräsidenten Lee Kuan Yew in der SRV. 56 So beeindruckt<br />
waren die <strong>Vietnam</strong>esen von Lee Kuan Yew, dass<br />
sie ihn baten, sich der SRV als Berater zur Verfügung zu<br />
stellen.<br />
Von nicht geringer Symbolik war auch der Auftrag an<br />
eine Singapurer Firma, das ehemalige Hanoier Gefängnis,<br />
das bei den gefangenen GIs als „Hanoi Hilton“ bekannt<br />
gewesen war, in ein Luxushotel umzuwandeln. 57<br />
Bereits 1993 gab es unter den damaligen ASEAN-<br />
Ländern ein geflügeltes Wort, demzufolge „the road to <strong>Vietnam</strong><br />
may pass through Singapore“. Der Stadtstaat war<br />
für <strong>Vietnam</strong> auch deshalb so interessant, weil er, nachdem<br />
er jahrelang zu den schärfsten Kritikern der vietnamesischen<br />
<strong>Kambodscha</strong>-Politik gehört hatte, in den neunziger<br />
Jahren eine Wende um 180 Grad vollzogen und eine<br />
Plattform bereit gestellt hatte, auf der die „Großen“<br />
ihre Südostasien-bezogenen Sicherheitsprobleme diskutieren<br />
konnten. Singapur, das am engagiertesten am Projekt<br />
„Towards One South-East Asia“ gearbeitet hatte, gehörte<br />
auch zu jenen Ländern, die den ASEAN-Beitritt der SRV<br />
von Anfang an systematisch unterstützten. Auch wirtschaftlich<br />
war Singapur schon früh in <strong>Vietnam</strong> engagiert,<br />
vor allem in den Segmenten Kommunikation, Tourismus,<br />
Textilverarbeitung, Möbelherstellung und Getränke. 58<br />
Mittlerweile, d.h. seit 1998, ist Singapur zum Hauptinvestor<br />
in <strong>Vietnam</strong> aufgerückt und unterhält dort nach gegenwärtigem<br />
Stand nahezu 300 Projekte mit einem Gesamtwert<br />
von US$ 7,8 Mrd. Im Jahre 2003 belief sich der<br />
bilaterale Handel überdies auf rund US$ 6 Mrd. – fast<br />
eine Verdoppelung gegenüber 1996. 59<br />
Kein Wunder, dass – parallel zur Wirtschaft – auch<br />
das politische Interesse aneinander wuchs. Um die Beziehungen<br />
hier noch weiter zu intensivieren, hatte Ministerpräsident<br />
Goh Chok Tong im März 2003 die SRV besucht<br />
– eine Visite, die inzwischen von Ministerpräsident Phan<br />
Van Khai erwidert wurde (8.-10.3.2004) . Bei diesem Treffen<br />
kam es zum Abschluss einer Vereinbarung, die trotz<br />
54 Ebenda.<br />
55 Dazu RH, in BBC, 27.6.01.<br />
56 SOAa, 1/1992, S.61 und 4/1992, S.361f.<br />
57 Dazu SOAa, 6/1992, S.553.<br />
58 Dazu SOAa, 1/1994, S.51.<br />
59 ST, 10.3.04.<br />
ihres gravitätischen Titels beste Realisierungschancen besitzt,<br />
nämlich zur „Joint <strong>Vietnam</strong>-Singapore Declaration<br />
on Comprehensive Cooperation Framework in the 21st<br />
Century“, unterzeichnet am 8. März. 60<br />
<strong>Vietnam</strong> möchte, wie Phan Van Khai versicherte, von<br />
der wahrhaft imposanten Infrastruktur des kleinen Stadtstaates<br />
profitieren: Immerhin unterhält Singapur Verbindungen<br />
zu 200 internationalen Flughäfen sowie zu<br />
600 Seehäfen und besitzt überdies ein weit verzweigtes<br />
Finanz-, Telekommunikations- und Transportnetz. 61<br />
1.3.4<br />
Symmetrisierungsversuche in der vietnamesischen<br />
Südasien-Politik<br />
1.3.4.1<br />
Jahrzehntelange Sichtverengung auf Indien<br />
Während <strong>Vietnam</strong> seit Jahren enge Beziehungen zu<br />
Indien unterhält, ja von diesem Land bereits seit dem<br />
<strong>Vietnam</strong>-Krieg unterstützt wurde, blieben die sechs<br />
anderen Länder Südasiens, d.h. Pakistan, Bangladesch,<br />
Sri Lanka, Nepal, Bhutan und die Malediven, weitgehend<br />
im Schatten Delhis, zumindest aus der Sicht der Hanoier<br />
Außenpolitik.<br />
Dies soll sich jetzt ändern. In jüngster Zeit unternimmt<br />
<strong>Vietnam</strong> (als exportorientiertes Land und als neues Mitglied<br />
der ASEAN) nämlich energische Schritte, um seine<br />
Südasien-Politik aufzuwerten und sie gleichzeitig verstärkt<br />
zu multilateralisieren.<br />
Allerdings ist es nach wie vor Indien, das mit weitem<br />
Abstand in der Gunst der SRV und ihrer Bewohner<br />
steht: Man ist sich bewusst, dass Indien schon seit<br />
Beginn der christlichen Zeitrechnung kulturellen Einfluss<br />
auf <strong>Vietnam</strong> ausgeübt hat, und zwar vor allem bei der<br />
Einführung des Buddhismus sowie bei der Herausbildung<br />
der Dai-Viet-Kultur im 12. und 13. Jahrhundert. Aber<br />
auch in neuerer Zeit gibt es fast nur Positives zu berichten:<br />
Ho Chi Minh und Jawaharlal Nehru bspw. haben sich<br />
bereits 1928 bei einem Treffen der Anti-Imperialistischen<br />
Liga in Brüssel erstmals die Hände gereicht und galten<br />
seither als Freunde, die vor allem in den fünfziger Jahren<br />
häufig zusammentrafen.<br />
Zu diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Staaten<br />
war es allerdings erst im Januar 1972 gekommen –<br />
bezeichnenderweise zu einem Zeitpunkt, als der Nixon-<br />
Besuch in Beijing unmittelbar bevorstand und als sich<br />
<strong>Vietnam</strong> von seinem bisherigen Partner, der VR China,<br />
aufs schlimmste verraten fühlte. Ohne Furcht vor den US-<br />
Amerikanern, die mit ihren Truppen zu dieser Zeit noch<br />
tief im Morast <strong>Vietnam</strong>s steckten, sprang Indien in die<br />
damals entstandene Lücke und gewährte den Nordvietnamesen<br />
sowohl moralische Unterstützung als auch wirtschaftliche<br />
Hilfe.<br />
Während sich China und die USA zu dieser Zeit bereits<br />
eng mit dem im Vorfeld Chinas liegenden Pakistan<br />
verbündet hatten, setzte Indien also auf ein Kontrastprogramm,<br />
indem es dem anderen Vorfeldstaat, <strong>Vietnam</strong>, unter<br />
die Arme zu greifen begann. Vor allem Indira und<br />
Rajiv Gandhi betrieben diese zugleich anti-amerikanische<br />
60 VNA, in BBC, 9.3.04.<br />
61 VNA, in BBC, 11.3.04.
SÜDOSTASIEN aktuell - 249 - Mai 2004<br />
als auch anti-chinesische Politik mit geradliniger Konsequenz,<br />
und zwar nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich,<br />
indem sie bspw. ein Reis-Forschungsinstitut in<br />
<strong>Vietnam</strong> errichteten (mit großem Erfolg, wie die späteren<br />
Anbauerfolge zeigten) und indem sie die Zusammenarbeit<br />
auf dem Eisenbahnsektor, in der Leichtindustrie sowie bei<br />
der Ölsuche und im Bereich der friedlichen Nutzung der<br />
Kernenergie systematisch ausbauten. Aus der Sicht <strong>Vietnam</strong>s<br />
zeigte Indien hier ein geradezu vorbildhaftes Süd-<br />
Süd-Verhalten. 62<br />
Die Dichte der Beziehungen blieb auch über die<br />
Jahrtausendwende hinweg erhalten. Im November 2000<br />
wurde bspw. auf Anregung Indiens die Mekong-Ganga-<br />
Cooperation (MGC) ins Leben gerufen, eine Gruppierung<br />
von sechs Ländern (<strong>Vietnam</strong>, Indien, <strong>Kambodscha</strong>, <strong>Laos</strong>,<br />
Thailand und Myanmar), die sich – der erklärten Absicht<br />
nach – formell zwar vor allem auf ihre gemeinsamen<br />
kulturellen Wurzeln zurückbesinnen sollte, 63 die aber von<br />
Anfang an politisch ausgerichtet war, da sie auf dem gemeinsamen<br />
Misstrauen gegenüber der VR China beruhte.<br />
Anfang Mai 2003 besuchte KPV-Generalsekretär Nong<br />
Duc Manh die Republik Indien und unterzeichnete dort<br />
einen Vertrag über eine umfassende Zusammenarbeit zwischen<br />
beiden Ländern, durch den die seit Jahrzehnten betriebene<br />
Süd-Süd-Kooperation in die weite Zukunft fortgeschrieben<br />
werden sollte. 64 In jeder Hinsicht sollten die<br />
Beziehungen so eng sein, dass nicht einmal ein Blatt dazwischen<br />
passte.<br />
Auch wird seit einigen Jahren der Bau einer Eisenbahnlinie<br />
zwischen Indien und Hanoi diskutiert. 65<br />
Und doch gibt es zwischen beiden Seiten einen dunklen<br />
Punkt, der den <strong>Vietnam</strong>esen Kopfzerbrechen bereitet,<br />
nämlich den gewaltigen Handelsüberschuss Indiens im bilateralen<br />
Austausch. Die Handelsbeziehungen zwischen<br />
beiden Seiten lassen sich in zwei große Phasen einteilen:<br />
Von 1972 bis 1991 bewegte sich der Handelsaustausch auf<br />
niedrigstem Niveau, da beide Seiten zu dieser Zeit ideologisch<br />
noch tief in sozialistischen und autozentristischen<br />
Vorstellungen steckten.<br />
Seit den Reformbeschlüssen <strong>Vietnam</strong>s von 1986 und<br />
Indiens von 1991 jedoch hat sich das Blatt hier grundlegend<br />
gewendet. War der nun einsetzende bilaterale Handel<br />
bis 1995 noch weitgehend ausgeglichen, so begannen<br />
die Exporte Indiens nach <strong>Vietnam</strong> von 1995 an diejenigen<br />
<strong>Vietnam</strong>s nach Indien bei weitem zu überflügeln und<br />
hatten im Zeitraum 2000/2001 ein Verhältnis von 20:1<br />
erreicht (indische Exporte nach <strong>Vietnam</strong>: US$ 220 Mio.,<br />
vietnamesische Exporte nach Indien: US$ 11,5 Mio.). Ein<br />
Handelsbilanzminus von US$ 209,5 Mio. – dies ist für das<br />
wirtschaftsschwache <strong>Vietnam</strong> ein nur schwer zu verdauender<br />
Brocken. 66 Es waren vor allem ölhaltige Pflanzen<br />
und pharmazeutische Produkte, aber auch Chemikalien<br />
für die Landwirtschaft, Plastikwaren und Maschinen, die<br />
den Weg von Indien nach <strong>Vietnam</strong> fanden, während die<br />
SRV-Wirtschaft nicht so recht wusste, welche Produkte sie<br />
im Gegenzug liefern sollte. Überdies wurden beide Länder<br />
mit zwei Warengruppen schon bald zu Konkurrenten auf<br />
62 Ausführlich dazu SOAa, 3/1987, S.258-261.<br />
63 Dazu SOAa, 6/2001, S.558.<br />
64 Press Trust of India, in BBC, 1.5.03; RH, in BBC, 3.4.03.<br />
65 XNA, 24.9.03.<br />
66 Dazu im Einzelnen VER, Nr.3/91 (2002), S.9-12.<br />
dem Weltmarkt, nämlich mit Reis und mit Kaffee.<br />
Nicht zuletzt aus diesem Grunde beginnt sich <strong>Vietnam</strong><br />
verstärkt für die Nachbarländer Indiens zu interessieren,<br />
um dort vielleicht einen Ausgleich zu finden.<br />
1.3.4.2<br />
Gewünschte Erweiterung des Blickfelds<br />
Mit Sri Lanka kam es im Oktober 2003 zum ersten Kooperationstreffen,<br />
das bisher allerdings ohne wesentliche<br />
Folgen und vor allem ohne nennenswerte Exportaufträge<br />
blieb. 67<br />
Vom 22. bis 26. März 2004 unternahm nun Staatspräsident<br />
Tran Duc Luong eine Zwei-Länder-Reise nach<br />
Südasien, die ihn für drei Tage (22.-24.3.) nach Bangladesch<br />
und für weitere drei Tage nach Pakistan führte und<br />
bei der es zu zahlreichen politischen Bekundungen sowie<br />
vor allem zur Unterzeichnung einer Reihe von wirtschaftsbezogenen<br />
Abkommen kam: Mit Bangladesch wurde ein<br />
Abkommen über die Vermeidung von Doppelbesteuerung<br />
und über landwirtschaftliche Zusammenarbeit sowie ein<br />
Protokoll über kulturellen Austausch unterzeichnet. 68 Vor<br />
allem aber war Luong zusammen mit 42 Unternehmern<br />
angereist und hatte schon damit eindeutige Absichten bekundet.<br />
Da der Handel zwischen <strong>Vietnam</strong> und Bangladesch<br />
im Jahre 2003 bei gerade einmal US$ 18 Mio. lag,<br />
ist hier noch vieles ausbaufähig.<br />
In Pakistan vereinbarten beide Seiten die Errichtung<br />
eines „<strong>Vietnam</strong>esisch-Pakistanischen Geschäftsrates“ und<br />
unterzeichneten Abkommen über die Vermeidung von<br />
Doppelbesteuerung, über eine Zusammenarbeit zwischen<br />
den beiden Staatsbanken und ein Memorandum über Kooperation<br />
zwischen den beiden Handelskammern. Darüber<br />
hinaus kam es zur Unterzeichnung eines Abkommens über<br />
die Zusammenarbeit zwischen den beiden Außenministerien<br />
und zu einem Rahmenabkommen über Wissenschaft<br />
und Technologie.<br />
Beide Seiten einigten sich auch darauf, künftig gemeinsam<br />
stärker gegen internationale Verbrechen, Terrorismus,<br />
Schmuggel und Waffenhandel zu kooperieren. 69<br />
Eine engere Zusammenarbeit zwischen der ASEAN und<br />
der South Asian Regional Cooperation (SARC), des Weiteren<br />
bei den Asia-Europe Meetings (ASEM) sowie im<br />
ASEAN Regional Forum (ARF) und nicht zuletzt im Gulf<br />
Cooperation Council (GCC) wird angestrebt. 70<br />
1.3.5<br />
<strong>Vietnam</strong> und die USA<br />
Abgesehen von den drei Dauerbrennern „Catfish-Row“,<br />
Human Rights Reports und Agent-Orange-Entschädigungen<br />
71 standen die bilateralen Beziehungen zwischen <strong>Vietnam</strong><br />
und den USA während der vergangenen Monate<br />
im Zeichen dreier Ereignisse, nämlich des Besuchs des vietnamesischen<br />
Verteidungsministers, der Visite der US-<br />
Fregatte „Vandegrift“ im Hafen von Saigon und des steilen<br />
Anstiegs des bilateralen Handelsvolumens.<br />
67 Dazu RH, in BBC, 27.1.03.<br />
68 XNA, 24.3.04.<br />
69 VNA, in BBC, 27.3.04.<br />
70 News Website, Islamabad, in BBC, 25.3.04.<br />
71 Dazu Näheres in SOAa, 5/2003, S.448f.
SÜDOSTASIEN aktuell - 250 - Mai 2004<br />
1.3.5.1<br />
Der USA-Besuch des vietnamesischen Verteidigungsministers:<br />
„Verteidigungsdiplomatie“<br />
Vom 11. bis 14. November 2003 kam Pham Van Tra, der<br />
vietnamesische Verteidungsminister, zu einem allseits als<br />
historisch angesehenen Besuch in die USA und führte<br />
dort Gespräche mit Verteidigungsminister Rumsfeld, mit<br />
der Sicherheitsberaterin Rice, mit Außenminister Powell<br />
und mit einer Reihe von Abgeordneten, allerdings nicht<br />
mit Präsident Bush.<br />
Offiziell war Tras Erscheinen die Antwort auf den Besuch<br />
des früheren Verteidigungsministers William Cohen<br />
im März 2000, 72 vielleicht aber auch auf die Visite Präsident<br />
Clintons, der im November 2000, d.h. kurz vor Ende<br />
seiner Amtszeit, noch in die SRV gereist war. 73<br />
Der Besuch Tras war der erste eines vietnamesischen<br />
Verteidigungsministers seit dem Ende des Zweiten<br />
Indochina-Kriegs (1973 bzw. 1975), der mit drei Millionen<br />
vietnamesischen und 58.000 US-amerikanischen Toten zu<br />
Buche schlägt. 74 . Die Visite hatte allerdings nicht nur<br />
symbolischen Charakter, sondern diente auch der Besprechung<br />
weltpolitischer Fragen, angefangen vom gemeinsamen<br />
Anti-Terrorismus sowie dem in vielen Teilen Asiens<br />
verbreiteten Unbehagen gegenüber der wachsenden<br />
Macht Chinas als auch der Erörterung bilateraler Themen,<br />
die sich mit den Stichworten „Missing in Action“-<br />
Opfern, Agent Orange und Minenräumung, aber auch<br />
noch mit weiteren Begriffen umreißen lassen. 75<br />
Was dagegen nicht zur Diskussion gestanden zu haben<br />
scheint, waren amerikanische Interessen an einer – zumindest<br />
zeitweiligen – Rückkehr in den von den USA vor nun<br />
fast 50 Jahren ausgebauten Marinehafen von Cam Ranh.<br />
Auch Waffenlieferungen oder die Erörterung gemeinsamer<br />
militärischer Strategien scheinen nicht auf der Themenliste<br />
gestanden zu haben.<br />
– Die MIA-Frage (also die Suche nach den vermissten<br />
amerikanischen Soldaten aus dem Zweiten Indochina-<br />
Krieg) beschäftigt seit Jahren beide Seiten. Bei dem<br />
erst kürzlich stattgefundenen 89. Übergabetreffen –<br />
gerechnet von 1973 ab – haben die <strong>Vietnam</strong>esen die<br />
sterblichen Überreste von weiteren fünf amerikanischen<br />
Gefallenen übergeben und damit die Gesamtzahl<br />
auf 805 erhöht. Seit 1988 hat es übrigens die<br />
ersten gemeinsamen Suchaktionen nach MIA-Opfern<br />
gegeben, also bereits viele Jahre vor der Aufnahme<br />
offizieller diplomatischer Beziehungen im Jahre 1995.<br />
Das MIA-Thema wurde nicht nur bei den Gesprächen<br />
mit Rumsfeld angeschnitten, sondern spielte vielmehr<br />
auch im Defense Department’s TOW/MIA Office eine<br />
ausschlaggebende Rolle. 76<br />
– Das Agent-Orange-Thema ist in den vergangenen<br />
Jahren vor allem von vietnamesischer Seite immer<br />
stärker ins Gespräch gebracht worden, und zwar zusammen<br />
mit der Forderung, die Amerikaner mögen<br />
nun endlich die von dem Entlaubungsmittel betroffenen<br />
Opfer entschädigen. Immerhin hat der Krieg<br />
rund 40.000 Personen mit chemikalischen Vergiftun-<br />
72 Dazu SOAa, 3/2000, S.215.<br />
73 Dazu SOAa, 1/2001, S.71-80.<br />
74 Zu den Zahlen im Einzelnen vgl. SOAa, 3/1995, S.191f.<br />
75 Dazu SOAa, 3/2003, S.242f. und 4/2001, S.373ff.<br />
76 VNA, in BBC, 13.11.03.<br />
gen zurückgelassen. 77 Anfang Februar 2004 wurde<br />
bekannt, dass die „<strong>Vietnam</strong>esische Vereinigung der<br />
Agent-Orange-Opfer“ im Namen dreier Betroffener<br />
am 30. Januar 2004 vor dem US Federal Court in<br />
Brooklyn, NY, eine Klage eingereicht habe, die sich<br />
gegen zehn Firmen richtet, die an der Herstellung des<br />
Giftes beteiligt waren, darunter Dow Chemical und<br />
Monsanto.<br />
Die Opfer haben in den vom Gift übersprühten Arealen<br />
gelebt und leiden unter den Folgen des im Agent<br />
Orange enthaltenen Dioxins, u.a. an Karzinomen.<br />
Da Hanoi bisher, aus welchen Gründen auch immer,<br />
darauf verzichtet hat, formal Schadensersatzansprüche<br />
zu erheben, bleibt den Betroffenen keine andere<br />
Möglichkeit, als die Sache nun endlich selbst in die<br />
Hand zu nehmen.<br />
Zwischen 1962 und 1971 sind rund 21 Millionen Gallonen<br />
von Entlaubungsmitteln, zumeist von Typ „Agent<br />
Orange“, durch US-Flugzeuge über zentralvietnamesischen<br />
und ostlaotischen Waldgebieten versprüht worden.<br />
Krebs, Diabetes und Fötenmissbildungen waren<br />
die Hauptfolgen. Die US-Regierung pflegt auf solche<br />
Anschuldigungen zu erwidern, dass es keine eindeutigen<br />
wissenschaftlichen Beweise eines Zusammenhangs<br />
zwischen den Entlaubungsmitteln und den behaupteten<br />
Erkrankungen gebe. Immerhin aber war es i.J.<br />
2002 zur ersten gemeinsamen wissenschaftlichen Konferenz<br />
über Agent Orange und seine Auswirkungen gekommen.<br />
Dabei wurde festgestellt, dass sich in vielen<br />
Nahrungsmitteln aus Zentralvietnam auch Jahrzehnte<br />
nach den Sprühaktionen immer noch hohe Dioxinmengen<br />
finden ließen. 78 Die vietnamesische Seite geht<br />
davon aus, dass durch Agent Orange rund zwei Millionen<br />
<strong>Vietnam</strong>esen betroffen worden seien, darunter<br />
über eine Million Kinder. 79<br />
– Ein drittes Thema betrifft die Minenräumung. Immer<br />
noch finden sich ja in den abgelegeneren Gegenden in<br />
Zentralvietnam Mengen von nicht explodierter Munition<br />
(UXO), die das Ackern und Pflügen sowie die<br />
Waldarbeit in vielen Gegenden <strong>Vietnam</strong>s noch heute<br />
zu einem lebensgefährlichen Risiko werden lassen, vor<br />
allem in Regionen entlang des früheren Ho-Chi-Minh-<br />
Pfads. 80<br />
Die Amerikaner sehen sich aufgefordert, nicht nur<br />
Film- und sonstiges Informationsmaterial über die<br />
Bombenabwurfstellen zur Verfügung zu stellen, sondern<br />
überdies auch aktiv bei der Minenräumung Hilfe<br />
zu leisten, bei einer Arbeit also, die von zahlreichen<br />
ausländischen – jedoch fast nie US-amerikanischen –<br />
Gruppen geleistet wird.<br />
Im Anschluss an die USA-Visite reiste Tra nach Brasilien<br />
und Belgien weiter. 81<br />
1.3.5.2<br />
US-amerikanischer Flottenbesuch<br />
Erstmals seit dem Ende des <strong>Vietnam</strong>-Kriegs vor fast 30<br />
77 Dazu SOAa, 2/1998, S.108; vgl. ferner SOAa, 5/2003, S.446.<br />
78 AWSJ, 4.2.04.<br />
79 XNA, 5.11.03.<br />
80 Dazu ausführlich SOAa, 1/2003, S.43f., 1/2001, S.35 und<br />
2/2000, S.137.<br />
VNA, in BBC, 11.11.03.
SÜDOSTASIEN aktuell - 251 - Mai 2004<br />
Jahren legte ein Schiff der US-amerikanischen Marine, die<br />
„USS Vandegrift“ wieder in <strong>Vietnam</strong> an, und zwar im<br />
Hafen von Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon, das<br />
während des Kriegs Hauptstadt des mit den USA verbündeten<br />
Südvietnam gewesen war. Beim Einlaufen hisste das<br />
Schiff sowohl die US-amerikanische als auch die vietnamesische<br />
Flagge.<br />
Der als historisch bewertete viertägige Besuch (19.-<br />
22.11.2003) markierte eine neue Phase in den bilateralen<br />
Beziehungen der einstigen Kriegsgegner. Den bereits<br />
bestehenden politischen und wirtschaftlichen Kontakten<br />
folgte jetzt auch eine militärische Annäherung, die langfristig<br />
zu einem regen informellen Militäraustausch führen<br />
dürfte. Die ersten Kontakte militärischer Art waren, wie<br />
bereits erwähnt, von William Cohen und von Pham Van<br />
Tra angebahnt worden. Zwischen der USA-Visite Tras<br />
und dem US-Flottenbesuch in <strong>Vietnam</strong> lag gerade einmal<br />
eine Woche. 82<br />
Die Besatzung der 138 m langen Fregatte bestand aus<br />
186 Matrosen und 15 Marineoffizieren. Das Schiff ist u.a.<br />
mit Hubschraubern und Lenkraketen ausgerüstet.<br />
Hanoi und Washington denken bei Besuchen dieser<br />
Art, denen wohl auch weitere folgen dürften, offensichtlich<br />
vor allem an die chinesische Gefahr, ohne jedoch darüber<br />
auch nur ein einziges Wort zu verlieren.<br />
Die Mannschaft benahm sich überaus artig, legte<br />
einen Kranz am Ho-Chi-Minh-Denkmal nieder, besuchte<br />
das Kommando der 7. Militärregion, traf mit Vertretern<br />
des Stadtkomitees von Ho-Chi-Minh-Stadt sowie mit<br />
dem Oberkommando der Marine zusammen, besuchte das<br />
„Waisenhaus des 15. Mai“ sowie die vor den Toren Saigons<br />
gelegenen Cu-Chi-Tunnelanlagen, die während des Zweiten<br />
Indochina-Kriegs als Hauptunterschlupf des Vietcong<br />
gedient hatten, bewegte sich übrigens auch auf der Tanzdiele<br />
und beteiligte sich außerdem an der Grundsteinlegung<br />
zweier Schulen in Ho-Chi-Minh-Stadt. 83 Von der<br />
Bevölkerung wurden die Besucher freundlich willkommen<br />
geheißen, und zwar offensichtlich vor allem in ihrer Rolle<br />
als Glücks- und Geldbringer. 84<br />
Ein Vierteljahr nach dem Flottenbesuch kam dann<br />
auch noch Admiral Thomas Fargo, der Kommandant des<br />
US-Pacific Command, zu einem Besuch nach <strong>Vietnam</strong><br />
(8.-11.2.04), um, wie er es nannte, die „vietnamesischamerikanische<br />
Verteidigungsbeziehung weiter zu verfestigen“.<br />
85<br />
1.3.5.3<br />
Im Außenhandel überholen die USA die VR China<br />
als <strong>Vietnam</strong>s Haupthandelspartner<br />
Der bilaterale Umsatz zwischen <strong>Vietnam</strong> und den USA<br />
hat in jüngster Zeit laufend zugenommen, und zwar von<br />
US$ 1,5 Mrd. i.J. 2001 auf US$ 3 Mrd. i.J. 2002 und<br />
schließlich auf US$ 4,8 Mrd. i.J. 2003 (= +76%). Der<br />
Handelsüberschuss <strong>Vietnam</strong>s zeigt ebenfalls einen steilen<br />
Anstieg, von US$ 650 Mio. i.J. 2001 auf US$ 1,96 Mrd.<br />
i.J. 2002 und auf rund US$ 3 Mrd. i.J. 2003. 86<br />
82 XNA, 14.11.03.<br />
83 XNA, 19. und 22.11.03.<br />
84 XNA, 22.11.03.<br />
85 XNA, 8.2.04.<br />
86 RH, in BBC, 25.11.03; XNA, 24.11.03; Hochrechnung des Autors.<br />
<strong>Vietnam</strong> verdankt diesen Erfolg hauptsächlich zwei<br />
Umständen, nämlich erstens seiner Leistungsfähigkeit in<br />
den Bereichen Kleidung und Textilien, Aquakultur, Schuhe,<br />
Computerzubehör, Plastikwaren und Möbel, zum anderen<br />
aber vor allem dem am 13. Juli 2000 unterzeichneten<br />
Normal-Trade-Relations- (NTR-) Vertrag, jenem Bilateral<br />
Trade Agreement (BTA) also, an dem die beiden<br />
Parteien sechs Jahre lang laboriert hatten und das von<br />
den <strong>Vietnam</strong>esen längere Zeit mit Misstrauen betrachtet<br />
worden war. Inzwischen ist aber deutlich geworden,<br />
dass das BTA drei Hauptvorteile nach sich zieht, nämlich<br />
eine weitere Renormalisierung des Verhältnisses zum<br />
einstigen Kriegsgegner, einen unkomplizierten (und nicht<br />
mehr mit Zöllen von bis zu 40% belasteten) Zugang der<br />
vietnamesischen Wirtschaft zum US-Markt und, drittens,<br />
die Chance, spätestens bis 2006 in die WTO aufgenommenzuwerden.<br />
87 Allerdings hat es mittlerweile eine Reihe<br />
von Störungen gegeben, nämlich den Streit um den Import<br />
von Welsfisch und die Verhängung von Quoten gegen<br />
vietnamesische Textilimporte, doch sind dies eher Nebensächlichkeiten,<br />
die im Hauptstrom untergehen.<br />
Weniger erfolgreich ist <strong>Vietnam</strong> bei der Anwerbung<br />
US-amerikanischer Investitionen. Immer noch lassen die<br />
USA anderen den Vortritt, u.a. den drei Spitzenreitern<br />
Singapur, Taiwan und Japan. Selbst nehmen sie gerade<br />
einmal den 11. Platz ein und zeigen damit eine Zurückhaltung,<br />
die auf wachsende vietnamesische Kritik stößt.<br />
Angesichts der steigenden Außenwirtschaftsbeziehungen<br />
haben die <strong>Vietnam</strong> Airlines beschlossen, ab 2005 wöchentlich<br />
sieben Direktflüge von Hanoi in die USA anzubieten.<br />
Bisher müssen die meisten amerikanischen Reisenden<br />
den Umweg über Taibei wählen. Im Jahr 2002 kamen<br />
280.000 Besucher aus den USA nach <strong>Vietnam</strong>, darunter<br />
75% Überseevietnamesen. 88<br />
1.3.6<br />
KPV-Chef Nong Duc Manh auf Deutschlandreise<br />
Nach dem Deutschlandbesuch von Ministerpräsident<br />
Phan Van Khai im Oktober 2002 und dem Gegenbesuch<br />
Bundeskanzler Schröders im Mai 2003 89 ist mittlerweile,<br />
im März 2004, der Generalsekretär der KPV, Nong<br />
Duc Manh, nach Deutschland gekommen, um in Berlin<br />
am 5. Deutsch-<strong>Vietnam</strong>esischen Dialogforum der Wirtschaft<br />
teilzunehmen und um sich mit Repräsentanten aus<br />
Politik und Wirtschaft ins Benehmen zu setzen.<br />
Manh wollte damit u.a. der Tatsache Rechnung tragen,<br />
dass Deutschland seit Aufnahme der diplomatischen<br />
Beziehungen am 23. September 1975 zum wichtigsten<br />
Handelspartner <strong>Vietnam</strong>s in der EU geworden ist und<br />
rund 30% des vietnamesischen-EU-Handels auf sich vereinigt.<br />
Im Jahr 2003 lag das beiderseitige Handelsvolumen<br />
bei US$ 1,3 Mrd. – mit einem Exportanteil <strong>Vietnam</strong>s<br />
von rund US$ 700 Mio. Zwischen beiden Seiten ist<br />
es außerdem zur Unterzeichnung einer Reihe von Abkommen,<br />
z.B. über Investitionsschutz, über Vermeidung von<br />
Doppelbesteuerung sowie über See- und Lufttransport,<br />
gekommen. Überdies besteht weitgehende Übereinstimmung<br />
in internationalen Fragen, sei es nun hinsichtlich<br />
des Anti-Terrorismus, der Irak-Frage, der Stärkung des<br />
87 Näheres dazu SOAa, 1/2002, S.53f.<br />
88 XNA, 11.12.03.<br />
89 Näheres dazu SOAa, 4/2003, S.348f.
SÜDOSTASIEN aktuell - 252 - Mai 2004<br />
UNO-Beitrags und der Entstehung einer multipolaren (also<br />
keineswegs unilateralen) Weltordnung. Außerdem befürwortet<br />
Deutschland den möglichst schnellen Beitritt<br />
<strong>Vietnam</strong>s zur WTO sowie eine Ausdehnung der Beziehungen<br />
zur EU, während <strong>Vietnam</strong> umgekehrt für die Aufwertung<br />
Deutschlands zum Ständigen Mitglied des Weltsicherheitsrats<br />
plädiert.<br />
Negative Schlagzeilen gerieten angesichts dieses positiven<br />
Bestands fast in Vergessenheit, sei es nun das Verhalten<br />
<strong>Vietnam</strong>s in Menschenrechtsfragen oder sei es auf der<br />
anderen Seite die immer noch überaus bescheidene Beteiligung<br />
Deutschlands an Investitionen in <strong>Vietnam</strong>. Bis<br />
zum Manh-Besuch unterhielt die deutsche Wirtschaft in<br />
<strong>Vietnam</strong> gerade einmal 41 Projekte mit einer Gesamtsumme<br />
von US$ 360 Mio. Damit konnte sich der europäische<br />
Haupthandelspartner nicht einmal im Entferntesten mit<br />
den Hauptinvestoren Singapur, Taiwan und Japan messen<br />
– ein Tatbestand, der von vietnamesischer Seite durch die<br />
Bemerkung unterstrichen wurde, dass Deutschland „weit<br />
unter seinen Möglichkeiten“ bleibe. 90<br />
Auch Deutschlands ODA-Beitrag ist bescheiden geblieben<br />
und betrug in den Jahren zwischen 1990 und 2003<br />
gerade einmal US$ 513 Mio. Hier gibt es aus vietnamesischer<br />
Sicht also noch viel zu tun.<br />
Während seines viertägigen Aufenthalts wurde Manh<br />
von Bundespräsident Rau, von Kanzler Schröder und von<br />
der Vizepräsidentin des Bundestags, Susanne Kastner,<br />
empfangen. 91<br />
Neben den Regierungs- spielten aber auch die Parteibeziehungen<br />
eine erhebliche Rolle, nämlich zwischen KPV<br />
und SPD. In diesem Zusammenhang wurde Manh vom<br />
SPD-Vorsitzenden Müntefering und von der Generalsekretärin<br />
der Friedrich-Ebert-Stiftung, Anke Fuchs, empfangen.<br />
92<br />
Am 3. März nahm er, zusammen mit anderen SRV-<br />
Repräsentanten, u.a. mit Handelsminister Vu Khoan, am<br />
5. Deutsch-vietnamesischen Wirtschaftsforum in Berlin<br />
teil. Im Verlauf des Treffens kam es zur Unterzeichnung<br />
eines Umschuldungsabkommens, wobei die zur Debatte<br />
stehenden EUR 4 Mio. für Verschönerungsarbeiten in der<br />
Umgebung des neu zu erstellenden Nationalen Konferenzzentrums<br />
in My Dinh (Hanoi) verwendet werden sollten. 93<br />
1.3.7<br />
Die heikle Terrorismusfrage<br />
<strong>Vietnam</strong>s grundlegende Einstellung zum Terrorismus ist<br />
eindeutig und liegt ganz auf der Linie der konfuzianischen<br />
Stabilitätsversessenheit: Der Terrorismus wird deshalb<br />
aus innerster Überzeugung abgelehnt.<br />
Im praktischen Erklärungsverhalten tauchen gleichwohl<br />
Widersprüche auf. Da sind einerseits eindeutige Stellungsnahmen<br />
gegen den Terrorismus: „Mit extremer Empörung“<br />
wurde z.B. der Bombenanschlag auf drei Vorortzüge<br />
in Madrid am 11. März 2004 verurteilt. 94<br />
Mit offenen Armen wurde auch Libyen wegen seiner<br />
Rückkehr in die anti-terroristische Gemeinschaft willkommen<br />
geheißen. Fast zur gleichen Zeit – im März 2004<br />
90 RH,inBBC,3.3.04.<br />
91 VNA, in BBC, 3.3.04.<br />
92 Ebenda.<br />
93 Ebenda.<br />
94 VNA, in BBC, 12.3.04.<br />
– reiste eine vietnamesische Wirtschaftsdelegation dorthin.<br />
95<br />
Andererseits scheint die „Empörung“ aber auch<br />
durch opportunistische Erwägungen gedämpft zu werden:<br />
Weitaus weniger energisch als im Fall Madrid fiel nämlich<br />
z.B. die Verdammung des Mordanschlags auf Scheich Achmad<br />
Yasin durch einen israelischen Raketenhubschrauber<br />
vom 23. März 2004 aus, 96 galt es hier doch, auf die guten<br />
Beziehungen Hanois zu Israel Rücksicht zu nehmen.<br />
Was schließlich die Vorgänge im Irak anbelangt, so<br />
kämpfen – ebenso wie im israelisch-palästinensischen Fall<br />
– erneut zwei Seelen in der Brust der Hanoier Außenpolitiker:<br />
Auf der einen Seite gehört der Irak mit zu den<br />
ältesten nahöstlichen Wirtschaftspartnern <strong>Vietnam</strong>s, auf<br />
der anderen Seite ist zu vermeiden, den neuen Haupthandelspartner<br />
USA nicht durch allzu scharfe Proteste vor<br />
den Kopf zu stoßen; gleichzeitig ist aber auch der Tatsache<br />
Rechnung zu tragen, dass auch von irakischer Seite<br />
zahlreiche terroristische Aktionen ausgehen. Entsprechend<br />
mäandrisch fällt die Stellungnahme <strong>Vietnam</strong>s zu<br />
den Vorgängen im Irak aus.<br />
2<br />
KAMBODSCHA<br />
2.1<br />
Innenpolitik<br />
2.1.1<br />
Der Stillstand bei der Regierungsbildung dauert<br />
an<br />
Seit den Wahlen vom 27. Juli 2003, also seit nunmehr<br />
fast neun Monaten, scheint sich in <strong>Kambodscha</strong> auf<br />
Regierungs- und Parlamentsebene kaum noch etwas zu<br />
bewegen. Eine Regierungsbildung scheitert daran, dass<br />
die bei den Wahlen siegreiche KVP zwar 73 der insgesamt<br />
123 NV-Sitze hat erringen können, dass ihr aber genau<br />
neun Sitze zu jener Zweidrittel-Mehrheit fehlen, die für<br />
die Aufstellung einer neuen Regierung erforderlich wären.<br />
Die beiden anderen in Frage kommenden Parteien, nämlich<br />
die FUNCINPEC (26 Sitze) und die SRP (24) aber<br />
haben sich gegen eine Zusammenarbeit mit der KVP ausgesprochen,<br />
solange deren Führungsmitglied, Hun Sen,<br />
das Ministerpräsidentenamt anstrebt; zu diesem Zweck<br />
haben sie sich sogar zu einer „Allianz der Demokraten“<br />
zusammengeschlossen.<br />
Nach dem gegenwärtigen Stand sind – zumindest<br />
theoretisch – vier Optionen denkbar, nämlich eine Drei-<br />
Parteien-Regierung, eine Zwei-Parteien-Regierung (mit<br />
KVP und FUNCINPEC), eine „Zweieinhalb“-Regierung<br />
(mit KVP und einer FUNCINPEC, die aus ihrem Kabinettspostenanteil<br />
das eine oder andere Ressort an die SRP<br />
weiterverteilt) oder aber Neuwahlen.<br />
Die letztere Option wird mittlerweile von König Sihanouk<br />
favorisiert, 97 hat aber aus zwei Gründen keine Aussichten,<br />
weil sie erstens von der KVP, die sich ja als überlegene<br />
Siegerin vom 27. Juli sieht, abgelehnt wird und weil<br />
darüber hinaus die Geldmittel für die Abhaltung einer er-<br />
95 RH, in BBC, 15. und 24.3.04.<br />
96 RH, in BBC, 23.3.04.<br />
97 Dazu Kingdom of Cambodia, Website, in BBC, 12.1.04.
SÜDOSTASIEN aktuell - 253 - Mai 2004<br />
neuten Wahl schlicht fehlen. Angesichts solcher finanzieller<br />
Engpässe hatte sich der König ja bereits gezwungen<br />
gesehen, die Funktionsdauer des Senats ohne Bestätigung<br />
durch den Wähler um ein weiteres Jahr zu verlängern,<br />
weil, wie es ausdrücklich hieß, für die Senatswahlen kein<br />
Geld mehr aufzutreiben sei. 98<br />
Aber auch die anderen drei Optionen haben im Augenblick<br />
wenig Verwirklichungschancen, nachdem zwei Konsultationen<br />
mit Hun Sen gescheitert sind, nämlich am 5.<br />
November 2003 (Vereinbarung einer Dreierkoalition, die<br />
aber schon kurze Zeit später wieder abgelehnt wurde) 99<br />
und ein neuerliches Treffen am 15. März 2004, an dem<br />
nur Hun Sen und Norodom Ranariddh beteiligt und bei<br />
dem Modalitäten einer „Zweieinhalb“-Regierung besprochen<br />
worden waren.<br />
Da die „Allianz der Demokraten“ einzig und allein zu<br />
dem Zweck gegründet worden ist, eine weitere Amtszeit<br />
des Ministerpräsidenten Hun Sen zu verhindern, sind Einigungschancen<br />
– trotz solcher Kontaktaufnahmen – erneut<br />
in weite Ferne gerückt.<br />
Je mehr Zeit allerdings vergeht, umso enger wird es für<br />
Phnom Penh: Zum einen nämlich können keine neuen Gesetze<br />
verabschiedet werden, zum anderen aber sieht sich<br />
das Königreich aufgefordert, seine Mitgliedschaft bei der<br />
WTO zu ratifizieren. Angesichts des der WTO wohlbekannten<br />
Stillstands in <strong>Kambodscha</strong> gab die Organisation<br />
am 11. Februar 2004 bekannt, dass sie den Schlusstermin<br />
für die Ratifizierungserklärung vom 31. März auf den<br />
30. September 2004 verschieben wolle. Die Ratifizierung<br />
ist eine fundamental entscheidende Voraussetzung für die<br />
Mitgliedschaft <strong>Kambodscha</strong>s in der Welthandelsorganisation.<br />
Der Beitrittsantrag, den <strong>Kambodscha</strong> gestellt hatte,<br />
war im September 2003 von der WTO in Cancun angenommen<br />
worden, und zwar unter der Bedingung, dass<br />
der Beitritt bis spätestens 31. März 2004 ratifiziert werde.<br />
Nach WTO-Regeln wird die WTO-Mitgliedschaft 30<br />
Tage nach der Ratifizierung gültig. 100<br />
Alles bleibt also weiter in Wartestellung – und damit<br />
höchst ungewiss.<br />
Immerhin haben sich KVP und FUNCINPEC Anfang<br />
Februar darauf geeinigt, sich über ihre Medien nicht mehr<br />
gegenseitig zu verleumden. Allerdings besteht hier beträchtliche<br />
Ungleichheit, weil die FUNCINPEC (und die<br />
SRP) gerade einmal vier Radiostationen kontrollieren, die<br />
KVP aber den gesamten Rest. 101 Ob sich beide Seiten<br />
überdies an die Abmachung vom 11. Februar halten, mag<br />
ebenfalls zweifelhaft sein, zumal die zwischenzeitlich bekannt<br />
gewordenen politischen Morde 102 eine neue Stimmungslage<br />
geschaffen haben.<br />
2.1.2<br />
Elektronische Medien – ein Regierungsmonopol?<br />
2.1.2.1<br />
Sieben Fernseh- und 19 Rundfunkstationen<br />
Die Fernseh- und Rundfunklandschaft <strong>Kambodscha</strong>s<br />
scheint auf den ersten Blick breit angelegt und ist doch<br />
98 TV Phnom Penh, in BBC, 12.11.04.<br />
99 Dazu SOAa, 2/2004, S.147.<br />
100 XNA, 12.2.04.<br />
101 XNA, 11.2.04; Näheres dazu unten unter 2.1.2.1.<br />
102 Dazu unten unter 2.1.3.<br />
wiederum überaus schmal, da sie – technisch gesehen –<br />
mit ihren Ausstrahlungen nicht besonders weit reicht und<br />
da sie – aus politischer Perspektive – überaus einseitig,<br />
nämlich allzu regierungsfromm, ist.<br />
Nach Mitteilungen des Informationsministeriums gab<br />
es Ende 2003 sieben Fernseh- und 19 Radiostationen. Dies<br />
ist für ein Land mit nicht einmal 13 Millionen Einwohnern<br />
prima facie ein üppig ausgestatteter Apparat. 103<br />
2.1.2.1.1<br />
Die Fernsehsender<br />
Die meisten Sender besitzen jedoch, wie bereits erwähnt,<br />
nur eine geringe Reichweite, gelangen also häufig nicht<br />
weit über den Stadtrand von Phnom Penh hinaus, wo allerdings<br />
die einflussreichsten Bevölkerungsschichten <strong>Kambodscha</strong>s<br />
leben und wo auch die meisten Empfangsgeräte<br />
vorhanden sind. Noch 1993 hatten überdies lediglich 22%<br />
der Haushalte (meist städtischer Provenienz) ein Fernsehgerät<br />
und 31% ein Radiogerät besessen; bereits Mitte 2003<br />
allerdings waren 82% der urbanen und 46% der ländlichen<br />
Haushalte mit einem Fernsehgerät sowie 80% der urbanen<br />
und 46% der ländlichen Haushalte mit einem Radio<br />
ausgerüstet. In diesen zehn Jahren hatten die Reichweiten<br />
zugenommen und war überdies der Radio-, vor allem aber<br />
der Fernsehkonsum sprunghaft angestiegen.<br />
Damit kommt es zu einem zweiten Engpass, nämlich<br />
der Dominanz von regierungsfreundlicher Berichterstattung.<br />
Weil nur 6% der Bevölkerung nach Ermittlungen<br />
des Informationsministeriums Zeitung lesen, hat sich<br />
das Fernsehen, gefolgt vom Radio, im Handumdrehen zu<br />
der in <strong>Kambodscha</strong> mit Abstand wichtigsten medialen<br />
Informationsquelle entwickelt. 104 Während <strong>Kambodscha</strong>s<br />
Printmedien, allen Reibungen und Einflussnahmen zum<br />
Trotz, verhältnismäßig unabhängig arbeiten können (und<br />
hierbei auch eine Rückdeckung durch Verfassung und<br />
Pressegesetz erhalten), unterstehen Fernsehen und Radio<br />
der fast ausschließlichen Kontrolle des Ministeriums für<br />
Information. Bezeichnenderweise gibt es für diese neuen –<br />
elektronischen – Medien auch keine eigene Gesetzgebung,<br />
wie sie für die Druckmedien vorhanden ist.<br />
Mit Hilfe des Informationsministeriums wiederum ist<br />
die Regierung in der Lage, politische Konkurrenten kurz<br />
zu halten. Dazu gibt es drei Hauptmittel: (1) Erwerb<br />
von Eigentum an privaten Sendestationen bei gleichzeitig<br />
strenger Lizensierung konkurrierender Sender, (2) strenge<br />
Überwachung des Personals bei staatlichen Anstalten und<br />
(3) Ausschaltung von bereits bestehenden Konkurrenzunternehmen<br />
durch Verfügungen des Informationsministeriums,<br />
das sich zu diesem Zweck einleuchtend klingender<br />
Argumente zu bedienen pflegt.<br />
Was zunächst die erste Option anbelangt, wo befinden<br />
sich zumindest sechs der sieben TV-Anstalten des<br />
Landes im Eigentum von KVP-Mitgliedern oder KVP-<br />
Anhängern. Zwei Fernsehstationen stehen sogar ganz im<br />
Eigentum der KVP, ja sogar einzelner Mitglieder. Das<br />
Bayon TV bspw. gehört zu 100% dem stellvertretenden<br />
Vorsitzenden der KVP und Ministerpräsidenten Hun Sen.<br />
Apsara TV gehört ebenfalls einem ranghohen Mitglied des<br />
ZK der KVP. Zwei weitere Privatsender (CTN und CTV<br />
103 Phnom Penh Post, 7.-20.11.03.<br />
104 FAZ, 26.7.03.
SÜDOSTASIEN aktuell - 254 - Mai 2004<br />
9) stehen jeweils zur Hälfte im Eigentum Hun Sens und eines<br />
prominenten KVP-Anhängers. TV 3 gehört zur Hälfte<br />
der Stadt Phnom Penh, dessen Bürgermeister wiederum<br />
KVP-Mitglied ist, und TV 5 dem Verteidungsministerium.<br />
Der Kanal CTV 9 war einst ein Sender gewesen, der<br />
von der KVP nicht allein kontrolliert wurde, sondern auf<br />
den auch die FUNCINPEC Einfluss hatte. Im Zuge des<br />
Staatsstreichs Hun Sens vom Juli 1997 jedoch waren die<br />
Verbindungen der Anstalt zur FUNCINPEC zerschnitten<br />
worden.<br />
Das Staatsfernsehen TVK schließlich wird von Personal<br />
geleitet, das ebenfalls KVP-nah und dessen Direktor<br />
überdies KVP-Mitglied ist. Außerdem hat es ohnehin den<br />
Anweisungen des Informationsministeriums Folge zu leisten.<br />
Im März 2003 ist allerdings ein achter TV-Kanal eröffnet<br />
worden – CTN (Cambodian Television Network),<br />
der – als Gemeinschaftsunternehmen der schwedischen<br />
Modern Time Group und der kambodschanischen Royal<br />
Group of Companies – auf den ersten Blick selbständig<br />
ist und der seine Sendungen zunächst ebenfalls nur innerhalb<br />
eines Radius von 60 km rund um die Hauptstadt<br />
ausstrahlt, also ungefähr zwei Millionen Zuschauer<br />
erreicht. 105 Möglicherweise hat die KVP auch auf diesen<br />
Sender längst Einfluss zu nehmen versucht.<br />
Die zweite Option besteht darin, angestellten Journalisten<br />
staatlicher und parteigebundener Medienanstalten<br />
enge Fesseln anzulegen. Selbst Sendungen des staatlichen<br />
Fernsehens werden bisweilen nicht intern, sondern in aller<br />
Öffentlichkeit gemaßregelt, so z.B. am 4. April 2000 durch<br />
Hun Sen, der dem TVK mit Repressionen drohte, falls sich<br />
die dort vor der Kamera agierenden Personen nicht dezenter<br />
verhielten. Vor allem verstoße das Auftreten „junger<br />
Sängerinnen mit äußerst kurzen Röcken“ gegen die traditionellen<br />
kambodschanischen Sitten. 106<br />
Die dritte Option, nämlich der Lizenzentzug, ist im<br />
Zusammenhang mit den Rundfunkanstalten, wo er sein<br />
praktisches Bewährungsfeld hat, näher zu erläutern.<br />
2.1.2.1.2<br />
Die Rundfunkanstalten<br />
Bei den 19 Rundfunkanstalten sind die Rechte zwar weniger<br />
einseitig verteilt als beim Fernsehen, doch gehören die<br />
regierungsunabhängigen oder -kritischen Anstalten auch<br />
hier zu den raren Ausnahmen.<br />
Es gibt allenfalls drei Sender, die der FUNCINPEC<br />
nahestehen, und eine Station, die von der SRP kontrolliert<br />
wird.<br />
Die FUNCINPEC steuert den Sender Ta Prom, der<br />
über mehrere Frequenzen funkt und der daher unter seinen<br />
eher technischen Bezeichnungen „Radio FM 90 MHz“,<br />
„Radio 107 MHz“ und neuerdings „FM 90,5 MHz“ bekannt<br />
geworden ist. Die beiden erstgenannten Institutionen<br />
scheinen inzwischen so unterhöhlt zu sein, dass sie<br />
den Interessen der FUNCINPEC-Parteipolitik nicht länger<br />
dienen konnten. Aus diesem Grund hatte sich die Partei<br />
genötigt gesehen, den neuen „Radio FM 90,5 MHz“<br />
zu eröffnen und mit seiner Hilfe zu versuchten, während<br />
105 SOAa, 3/2003, S.248f.<br />
106 Vgl. dazu SOAa, 4/2000, S.308f.<br />
des Wahlkampfs 2003 etwas von jenem Gewicht zurückzugewinnen,<br />
das nach dem Kommunalwahlkampf von 2002<br />
verloren gegangen war.<br />
Viele Beobachter zeigten sich darüber erstaunt, dass<br />
die FUNCINPEC für den neuen Sender überhaupt eine<br />
Erlaubnis bekommen konnte, lehnte die Regierung (in diesem<br />
Fall das Informationsministerium) doch sonst jeden<br />
Antrag auf eine neue Sendestation, die nicht vollkommen<br />
der KVP-Kontrolle unterliegt, mit den fadenscheinigsten<br />
Begründungen ab. Im Falle des neuen FUNCINPEC-<br />
Senders aber habe sie sich merkwürdig großzügig gezeigt.<br />
Habe die KVP mit ihrer „Liberalität“ etwa ein Zeichen setzen<br />
und die FUNCINPEC erneut – wie schon im Vorfeld<br />
des Wahlkampfs – auf ihre Seite herüberziehen wollen? 107<br />
Jedenfalls ging der neue FUNCINPEC-Sender am 25.<br />
Januar 2003 unter der Bezeichnung „Radio Ta Prom“ auf<br />
Sendung und ließ die Hörer sogleich wissen, dass die Station<br />
Nachrichtenprogramme bringen wolle, die sich u.a. auf<br />
RFA- (Radio-Free-Asia-) und VOA- (Voice-of-America-)<br />
Quellen stützten. 108<br />
Hier war ein Thema angesprochen worden, das im<br />
Einklang mit dem Sendeauftrag der einzigen SRP-<br />
Radiostation, nämlich „Radio Beehive 105 FM“, stand.<br />
„Radio Beehive“ („Radio Bienenkorb“) war bereits<br />
1998 durch das Informationsministerium geschlossen, allerdings<br />
drei Monate später wieder lizensiert worden, ohne<br />
dass sich sein Herr und Meister, Sam Rainsy, durch versteckte<br />
Botschaften dieser Art allerdings den Mund hätte<br />
verbieten lassen. Beehive brachte nämlich nach wie vor<br />
ausführliche Berichte über Regierungskorruption und zu<br />
Arbeiterunruhen, schlug also Themen an, die von den regierungsoffiziellen<br />
Medien wohlweislich verschwiegen wurden.<br />
Mehr noch: Seit September 2002 hatte Beehive Sendeinhalte<br />
von RFA sowie von VOA übernommen und sei<br />
damit, wie es von Regierungsseite schon bald anklagend<br />
hieß, zum Sprachrohr der US-Propaganda geworden. Dieser<br />
Kontext dürfe allerdings nicht weiter verwundern, da<br />
sich Sam Rainsy ohnehin als Hätschelkind der Amerikaner<br />
erwiesen habe.<br />
Kaum hatte Radio Beehive mit der Ausstrahlung von<br />
RFA- und VOA-Nachrichten begonnen, flatterte ihm erneut<br />
eine Verbotsanordnung des Informationsministeriums<br />
ins Haus. Informationsminister Khieu Kannarith<br />
wies darauf hin, dass die Rundfunkstation mit ihren Sendungen<br />
gegen das Gesetz verstoße. Wenn sich der Sender<br />
weiterhin ordnungswidrig verhalte, würden ernsthafte<br />
Maßnahmen gegen ihn erwogen. 109<br />
Als es im Januar 2003 zu den anti-thailändischen Pogromen<br />
kam, hatte das Informationsministerium schnell<br />
den eigentlichen Schuldigen gefunden. Hauptinitiator für<br />
die Aufheizung der damaligen Stimmung sei Radio Beehive<br />
mit seinen Falschberichten gewesen. Vor allem Chefredakteur<br />
Mam Sonando wurde beschuldigt, einer bekannten<br />
thailändischen Sängerin ungeprüft jene Worte in<br />
den Mund gelegt zu haben, die die Empörung bei den<br />
kambodschanischen Demonstranten auf den Siedepunkt<br />
gebracht hatten, dass nämlich Angkor den Thais gehöre.<br />
110<br />
107 Phnom Penh Samleng Yoveakchon, in FBIS/EAS, 13.1.03.<br />
108 BBC, 21.1.03.<br />
109 AFP, in FBIS/EAS, 24.10.02.<br />
110 Dazu SOAa, 2/2003, S153ff.
SÜDOSTASIEN aktuell - 255 - Mai 2004<br />
Dass Antipathien gegen Thailand schon vorher in der<br />
Bevölkerung verbreitet und dass an dieser Atmosphäre<br />
auch die KVP-kontrollierten Medien nicht ganz unschuldig<br />
waren, blieb von Seiten des Informationsministeriums<br />
unerwähnt.<br />
Jedenfalls gab es jetzt einen triftigen Grund, um auf<br />
den Sender Druck auszuüben.<br />
Der Chefredakteur wurde inhaftiert und – auf Betreiben<br />
der Journalistengewerkschaft, vor allem aber vermutlichauchderUS-Botschaft–nachzweiWochenwieder<br />
auf freien Fuß gesetzt. 111<br />
Einzelaktionen, die jetzt noch folgten, wurden von<br />
US-amerikanischer Seite aufmerksam registriert und auch<br />
noch beim Besuch Colin Powells im Juni 2003 kritisch<br />
zur Sprache gebracht. 112 Radio Beehive ist zwar auf Sendung<br />
geblieben, steht aber nach wie vor unter scharfer<br />
Überwachung und muss sich hüten, Unvorsichtigkeiten zu<br />
begehen, die erneut den Vorwand zu weiterem Durchgreifen<br />
gegen die Anstalt liefern könnten. Die durch die USA<br />
erzwungene regierungsamtliche Toleranz ist also sehr begrenzt.<br />
Selbst im Rundfunkbereich kommt der Opposition also<br />
höchstens eine Statistenrolle zu. Journalisten, die es<br />
z.B. während des Wahlkampfs 2003 wagten, die Toleranzgrenze<br />
zu überschreiten und Fragezeichen hinter die offiziell<br />
hoch gepriesene KVP-Politik zu setzen, lebten gefährlich<br />
und hatten ihre Zivilcourage manchmal, wie der<br />
FUNCINPEC-Journalist Chou Chetharith (am 18. Oktober<br />
2003), sogar mit dem Leben zu bezahlen.<br />
Gerade im Vorfeld von Wahlkämpfen pflegt die Repression<br />
ja besonders zuzunehmen, und zwar nicht nur im Jahre<br />
2003, sondern bereits 1997/98. Besonders schmerzlich<br />
hatte dies damals die „Stimme der Khmer-Jugend“, eine<br />
regierungskritische Zeitung, erfahren müssen, indem sie<br />
nämlich innerhalb kurzer Zeit gleich drei Chefredakteure<br />
verlor: Der erste resignierte im Gefolge dauernder Todesdrohungen,<br />
der zweite wurde neben dem Wat Phnom,<br />
d.h. mitten im Herzen der Stadt, erschossen und der dritte<br />
wegen angeblicher Verleumdungen verurteilt. Aber auch<br />
der vierte Chefredakteur sah sich schon bald nach seiner<br />
Amtsübernahme zahlreichen Todesdrohungen ausgesetzt.<br />
113 Waren damals noch eher Pressevertreter ins Visier<br />
geraten, so sind es heute die Repräsentanten von<br />
Rundfunk und Fernsehen, die besonders Acht zu geben.<br />
Während der oppositionelle Rundfunk auf diese Weise<br />
immer wieder zur Räson gebracht wird, bleibt die KVP<br />
eifrig am Ball und versucht, auch in diesem Bereich ihre<br />
Macht Stück für Stück zu erweitern. Dies wurde in letzter<br />
Zeit durch zwei Ereignisse deutlich:<br />
– Im August 2003 bspw. kaufte Ministerpräsident Hun<br />
Sen die Station „88 FM“ für US$ 40.000 kurzerhand<br />
auf und ließ sie dann am 11. November 2003 wieder<br />
auf Sendung gehen. 88 FM hatte früher dem<br />
Chef der Buddhistischen Liberaldemokratischen Partei<br />
(BLDP), Ieng Mouly, gehört, der die Station 1994<br />
aufgebaut hatte, ohne allerdings Einfluss auf die Hörer<br />
zu gewinnen: Bereits bei den Wahlen von 1998 war<br />
111 Zum Protest gegen die Verhaftung s. Human Rights Watch<br />
Press Release, New York, 11.2.03, in BBC, 11.2.03.<br />
112 FT, 20.6.03.<br />
113 AWSJ, 18./19.4.97.<br />
die BLDP sang- und klanglos untergegangen, hatte<br />
sich dann in zwei Teile gespalten und schließlich das<br />
politische Rennen aufgegeben.<br />
88 FM steht mittlerweile unter Leitung von Kham<br />
Phuon, dem persönlichen Dolmetscher Hun Sens, dem<br />
auch bereits die Sender TV 3 und 103 FM gehören. 114<br />
– Im Januar 2003, also bereits im Vorfeld der Juli-<br />
Wahlen, war in der nordöstlichen Preah Vihear eine<br />
neue Radiostation auf Sendung gegangen, die vier dortige<br />
Provinzen, nämlich Ratanakiri, Mondulkiri, Kratie<br />
und Stung Treng mit Nachrichten versorgen sollte.<br />
Diese vier abgelegenen Provinzen waren bis dahin lediglich<br />
von <strong>Vietnam</strong> aus medial versorgt worden.<br />
Als Initiator der neuen Filiale gab sich nach anfänglichem<br />
Rätselraten „FM Radio Phnom Penh Stadt“<br />
zu erkennen, und es war dann auch kein Geringerer<br />
als KVP-Mitglied Chea Sophara, der Gouverneur von<br />
Phnom Penh, der am 31. Dezember 2002 den Start<br />
der neuen Sendestation bekannt gab. 115<br />
2.1.2.1.3<br />
Die Presselandschaft<br />
Jahrelang hatte die Hun-Sen-Regierung ihren Kampf auch<br />
mit den gegnerischen Druckmedien geführt und dabei nur<br />
selten Toleranz walten lassen. 116 Doch ist hier mittlerweile<br />
eher Ruhe an der Front eingetreten. Diese „liberaler“<br />
gewordene Haltung gegenüber den Printmedien hängt<br />
vor allem damit zusammen, dass nur etwa 35% der Bevölkerung<br />
(über 15 Jahre) Lese- und Schreibfähigkeit besitzen<br />
und dass von diesem Personenkreis wiederum nur<br />
ein Bruchteil zu den Zeitungslesern gehört. Umso strikter<br />
wendet sich die Aufmerksamkeit der KVP, die ja vor<br />
allem die breite Bevölkerung gewinnen will, den Audiound<br />
Video-Medien zu. Welche überragende Bedeutung<br />
den elektronischen Medien zukommt, wurde zuletzt wieder<br />
im Zusammenhang mit den dritten Nationalwahlen<br />
deutlich, in deren Vorfeld die KVP ihre ganze Medienmacht<br />
ausspielen konnte. Die Forderung der konkurrierenden<br />
Parteien nach gleicher medialer Behandlung blieb<br />
nahezu ungehört. 117 Zumindest im Fernsehen waren die<br />
beiden Konkurrenzparteien FUNCINPEC und SRP für<br />
die Öffentlichkeit kaum präsent.<br />
2.1.2.2<br />
Zensurmethoden<br />
Wie kritische Medien samt ihren Mitarbeitern in Schach<br />
gehalten werden, ist oben – anhand der drei Hauptmittel<br />
(unter 2.1.2.1.1) – bereits erläutert worden. Daneben gibt<br />
es noch zusätzliche Repressalien.<br />
Ein beliebtes Mittel des Informationsministeriums,<br />
kritische Journalisten zum Schweigen zu bringen, besteht<br />
z.B. auch darin, dass man ihnen vorwirft, sie hätten die<br />
Personen, über die sie berichteten, erpresst. Beamte und<br />
Politiker, die „Lösegeld“ zahlten, blieben in der Regel von<br />
Angriffen verschont; wer nicht zahle, gerate dagegen sofort<br />
unter Feuer. Auf diese Weise würden Beamte und Politiker<br />
zu regelrechten Geiseln der schreibenden Zunft. 118<br />
114 Phnom Penh Post, 7.-20.11.03.<br />
115 RK,inBBC,3.1.03.<br />
116 Vgl. z.B. SOAa, 2/1998, S.126f. und 4/2000, S.308.<br />
117 Agence Kampuchea Presse, in BBC, 13.1.03.<br />
118 RK, in FBIS/EAS, 16.2.01.
SÜDOSTASIEN aktuell - 256 - Mai 2004<br />
Korruption dürfe nicht allein den Beamten angelastet werden,<br />
sondern auch Journalisten, unter denen zahlreiche<br />
korrupte Elemente seien, die ihre Angriffe und Beleidigungen<br />
je nach Kassenlage dosierten.<br />
Häufig wird gegnerischen Journalisten auch vorgeworfen,<br />
sie verbreiteten Nachrichten, die ungenügend recherchiert<br />
seien und sie bedienten sich vor allem einer zügellosen<br />
Rhetorik. Auch ausländische Korrespondenten, die<br />
des <strong>Kambodscha</strong>nischen gar nicht mächtig sind, übernehmen<br />
solche Vorwürfe.<br />
Offensichtlich ist es jedoch empfehlenswert, kritisch<br />
mit solchen Vorwürfen umzugehen, da sie dem Informationsministerium<br />
nicht selten als Vorwand für geharnischtes<br />
Vorgehen gegen Oppositionelle dienen. Außerdem ist zu<br />
bedenken, dass den in die Enge getriebenen Kritikern oft<br />
gar nicht anderes übrig bleibt, als zugespitzt zu formulieren,<br />
um überhaupt Gehör zu finden.<br />
Regierungskritische Journalisten sind weitgehend sich<br />
selbst überlassen und finden nur bei wenigen Stellen etwas<br />
Rückhalt:<br />
– Da ist erstens eine gewisse Absicherung durch Menschenrechtsorganisationen,<br />
die dafür sorgen, dass allzu<br />
krasse Verstöße gegen die Medienfreiheit international<br />
publik werden und die damit die Gefahr heraufbeschwören,<br />
dass internationale Geldgeber ihre Hilfsmittel<br />
streichen oder zumindest vermindern könnten.<br />
– Einen zweiten Rückhalt bildet der Cambodian Journalists<br />
Club (CJC), der – als eine Art Journalistengewerkschaft<br />
– bei vermeintlichen Verstößen des Informationsministeriums<br />
Proteste zu erheben pflegt. 119<br />
Die Chance allerdings, gehört zu werden, ist verhältnismäßig<br />
gering, weshalb es durchaus vorkommen<br />
kann, dass das Informationsministerium an einem einzigen<br />
Tag, wie z.B. dem 7. Juni 2002, auf einen Schlag<br />
54 Publikationen verbietet, darunter 29 Zeitungen,<br />
sieben Nachrichtenbulletins und 18 Magazine. 120<br />
– Eine dritte Absicherung, nämlich durch den Foreign<br />
Correspondents Club (FCC), findet dagegen nicht<br />
oder zumindest nur am Rande statt, auch wenn die<br />
Bezeichnung dieser Institution auf den ersten Blick<br />
mehr zu versprechen scheint. Das Gebäude des FCC<br />
ist im Herzen von Phnom Penh angesiedelt – am<br />
Tonle-Sap-Fluss mit Blick auf das Nationalmuseum.<br />
Der seit 1992 bestehende Club ist eher eine Nachrichtenbörse,<br />
wo hauptsächlich Ausländer mit Mitgliedsausweis<br />
verkehren und wo der Alkohol reichlich<br />
fließt. 121 Durch den Club können Meldungen über Medienverstöße<br />
zwar lanciert und in die Welt hinausgetragen<br />
werden, doch findet man in ihm keinen Verbündeten,<br />
der sich für die Rechte der kambodschanischen<br />
Kollegen direkt – und qua officio – einsetzte.<br />
2.1.3<br />
Politischer Mord als Begleiterscheinung im kambodschanischen<br />
Alltag<br />
Am 22. Januar 2004 wurde der 40-jährige Gewerkschaftsführer<br />
Chea Vichea in Phnom Penh auf offener Straße aus<br />
119 RK, in FBIS/EAS, 7.8.02.<br />
120 Aufgezählt in TV Kampuchea, in BBC, 11.6.02.<br />
121 SCMP, 21.5.00.<br />
kürzester Distanz erschossen, als er vor einem Zeitungskiosk<br />
gerade die Tagespresse durchging. Der Mörder sprang<br />
sogleich nach der Tat auf ein von einem anderen Jugendlichen<br />
fahrbereit gehaltenes Motorrad und verschwand unerkannt<br />
im Straßengewühl. Chea Vichea war der Vorsitzende<br />
der <strong>Kambodscha</strong>nischen Freien Gewerkschaftsunion<br />
und hatte seit Jahren eng mit der Oppositionspartei<br />
Sam Rainsys zusammengearbeitet. 122<br />
Dieser Mord war der letzte in einer ganzen Kette von<br />
ähnlichen Vorfällen, die durchweg Gegner der KVP betroffen<br />
hatte, nämlich Anhänger der SRP oder der FUN-<br />
CINPEC:<br />
– Gerade einmal eine Woche vorher, am 16. Januar, waren<br />
zwei weitere SRP-Aktivisten, der 39-jährige Chhin<br />
La und der 46-jährige Keo Chan, in ihrer Wohnung in<br />
Banteay Mean Chey von vier Angreifern erschossen<br />
worden, als sie gerade Nachrichten im Radio hörten.<br />
– Erst drei Monate vorher waren kurz hintereinander<br />
drei FUNCINPEC-Mitglieder – bezeichnenderweise<br />
wieder einmal von Motorrad-Tätern – niedergeschossen<br />
worden, nämlich die 24-jährige Touch Sreynich,<br />
die mittlerweile gelähmt in einem Krankenhaus in<br />
Bangkok liegt, des Weiteren ein Phnom Penher Richter,<br />
der für die FUNCINPEC beratend tätig gewesen<br />
war, und der 40-jährige Meach Youen, der für die<br />
FUNCINPEC bei den Lokalwahlen von 2002 kandidiert<br />
hatte. 123<br />
– Wenige Tage vor diesen drei Anschlägen auf die<br />
FUNCINPEC-Sympathisanten war ein SRP-Aktivist<br />
ermordet worden, und zwar am 13. Oktober im Dorf<br />
Andong Dai (Provinz Kompong Cham), rund 80 km<br />
östlich von Phnom Penh. Diesmal hatte der Angreifer<br />
eine Granate in das Haus des Opfers geworfen und<br />
dann sogleich das Weite gesucht.<br />
Im Zusammenhang mit der Ermordung Chea Vicheas<br />
konnten Anfang März zwar zwei verdächtige Männer im<br />
Alter von 23 und 36 Jahren festgenommen werden, von denen<br />
angeblich einer sogar eine Mitbeteiligung – und zwar<br />
gegen eine Entlohnung von US$ 1.500 – zugegeben habe,<br />
doch wurden die beiden dann vom Gericht sogleich wieder<br />
freigelassen – mit der Begründung, man habe ihnen<br />
die Tat nicht nachweisen können. 124<br />
Der Mord an Chea Vichea hat die Textilindustrie<br />
<strong>Kambodscha</strong>s erneut in ein düsteres Licht gerückt: Die<br />
Industrie beschäftigt in ihren rund 200 meist ausländischen<br />
Betrieben etwa 210.000 Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen,<br />
die unter „Sweatshop“-Bedingungen beschäftigt<br />
sind, weshalb die Gewerkschaften nicht müde werden,<br />
Protest zu erheben. Einige der Firmen wie Nike, Adidas<br />
oder Gap sehen sich seit einiger Zeit gezwungen, darüber<br />
nachzudenken, ob sie im Interesse ihres guten Rufes<br />
nicht überhaupt aus <strong>Kambodscha</strong> abziehen sollten. Gäben<br />
sie solchen Impulsen nach, verlöre die Industrie <strong>Kambodscha</strong>s<br />
ihr wichtigstes Zugpferd: Immerhin bestreitet die<br />
Textilindustrie zz. 36% des BIP. Dies wäre nicht gerade<br />
im Interesse <strong>Kambodscha</strong>s und ganz gewiss nicht seiner<br />
Regierung.<br />
122 AWSJ, 21.1.04.<br />
123 SCMP, 27.1.04.<br />
124 AWSJ, 22.3.04.
SÜDOSTASIEN aktuell - 257 - Mai 2004<br />
Allen oben erwähnten Opfern war gemeinsam, dass<br />
sie sich vorher engagiert gegen Hun Sen und seine Politik<br />
gewandt hatten. Kein Wunder, dass Sam Rainsy bei<br />
mehreren Gelegenheiten den Verdacht auf Hun Sen lenkte,<br />
zumal er vor wenigen Jahren selbst nur knapp einem<br />
Mordanschlag entgangen war, und zwar bei einer<br />
Anti-Korruptions-Veranstaltung außerhalb der Nationalversammlung<br />
im März 1997. Dabei waren 16 Personen<br />
ums Leben gekommen und mehr als 100 verletzt worden.<br />
125<br />
Auf die Hinweise der SRP, dass in den „letzten Jahren<br />
Dutzende von SRP-Aktivisten getötet“ worden seien, dass<br />
merkwürdigerweise aber kein einziger der Mörder habe<br />
überführt werden können, 126 erwiderte ein Sprecher der<br />
Polizei, die ja als allgemein Hun-Sen-loyal gilt, dass keine<br />
politischen Motive hätten ausfindig gemacht werden können;<br />
vermutlich sei es immer nur um private Zwistigkeiten<br />
und um persönliche Racheakte gegangen. 127<br />
Ausnahmsweise kam es Ende Oktober 2003 dann doch<br />
einmal zur Identifizierung und zur Aburteilung zweier Täter,<br />
die am 18. Februar 2003 einen der wichtigsten Berater<br />
des FUNCINPEC-Vorsitzenden Norodom Ranariddh, Om<br />
Radsady, ermordet hatten. Das Stadtgericht von Phnom<br />
Penh verurteilte einen 26-jährigen und einen 29-jährigen<br />
Täter wegen „Mord, Raub und illegalem Waffenbesitz“ zu<br />
20 Jahren Freiheitsstrafe.<br />
Wer die Hintermänner und Auftraggeber für den Mord<br />
waren, blieb allerdings auch diesmal ungeklärt.<br />
Gleichzeitig kündigte die Regierung ein verschärftes<br />
Vorgehen gegen illegalen Waffenbesitz an. 128<br />
Versprechungen dieser Art pflegen jedoch in aller Regel<br />
ungehört zu verhallen. Offensichtlich glaubt jedermann,<br />
ihren wahren Aussagegehalt zu kennen und auch zu wissen,<br />
dass alles in gewohnter Weise weitergeht. Die Abläufe<br />
sind bekannt: Man denke an den 18. Oktober 2003, als ein<br />
der FUNCINPEC nahe stehender 37-jähriger Journalist,<br />
Chou Chetharith, auf offener Straße vor dem Gebäude des<br />
der FUNCINPEC nahe stehenden Radiosenders Ta Prom<br />
erschossen wurde (und zwar vom Soziussitz eines vorbeifahrenden<br />
Mopeds aus). 129 Der Ermordete war bekannt<br />
für seine kritische Berichterstattung und erst einen Tag<br />
vor seiner Tötung von Hun Sen persönlich in der englischsprachigen<br />
Cambodian Times kritisiert worden.<br />
Die Ermordung geschah drei Tage vor einem zwischen<br />
den drei Parteien anberaumten Koalitionsgespräch, das<br />
von der FUNCINPEC sofort nach Bekanntwerden des<br />
Vorfalls abgesagt wurde.<br />
Auch diesmal blieben die Hintermänner unbekannt:<br />
Offensichtlich sollte die Tat als Warnung an „vorlaute“<br />
Journalisten dienen, die es wagen, die Regierung und ihre<br />
Politik unter Beschuss zu nehmen. 130<br />
Man denke auch an den schon drei Tage später erfolgten<br />
– oben bereits erwähnten – Zwischenfall, als vier<br />
– bisher ebenfalls unentdeckt gebliebene – Schützen der<br />
24-jährigen Sängerin Touch Sreynich zweimal ins Gesicht<br />
125 SOAa, 6/1997, S.499ff.<br />
126 SCMP, 27.1.04.<br />
127 AWSJ, 14.10.03.<br />
128 XNA, 27.10.03.<br />
129 XNA, 18.10.03.<br />
130 Committee to Protect Journalists, Press Release, New York,<br />
20.10.03, in BBC, 20.10.03.<br />
geschossen und gleichzeitig ihre 62-jährige Mutter getötet<br />
hatten. Sreynich stand, wie allgemein bekannt, der FUN-<br />
CINPEC nahe, hatte mehrere Male für sie Werbeveranstaltungen<br />
durchgeführt und war im Übrigen populär wegen<br />
ihres Einsatzes für klassische Khmer-Musik sowie für<br />
moderne Popsongs. 131<br />
Hun Sen, auf den FUNCINPEC-Sprecher ihren Verdacht<br />
lenkten, zeigte sich in der Öffentlichkeit von dem<br />
Vorgang betroffen und gab – wieder einmal – an Polizei<br />
und Militär den Befehl aus, in Zukunft für mehr Sicherheit<br />
im Land zu sorgen. 132<br />
Nicht unerwähnt in diesem Zusammenhang soll noch<br />
die Tatsache bleiben, dass im Vorfeld des Urnengangs vom<br />
27. Juli 2003 nicht weniger als 31 politische Morde verübt<br />
wurden, von denen durchweg KVP-Gegner betroffen waren.<br />
133<br />
2.1.4<br />
25 Jahre Rückblick auf das Zeitalter der Roten<br />
Khmer<br />
2.1.4.1<br />
9. November oder 7. Januar?<br />
Die Royalisten (FUNCINPEC-Anhänger), die jahrelang<br />
an der Seite der Khmer Rouge gegen das von <strong>Vietnam</strong> bis<br />
1989 beherrschte Phnom Penh und gegen die damalige<br />
Volksrepublik Kampuchea gekämpft hatten, favorisieren<br />
seit der Neugründung des Königreichs im Jahre 1993 den<br />
9. November als Nationalfeiertag – zur Erinnerung an den<br />
9. November 1953, als sich <strong>Kambodscha</strong> unter Führung<br />
Sihanouks von der französischen Kolonialherrschaft<br />
lossagte und sich als eigener Staat etablierte. 134<br />
Die Anhänger der KVP andererseits, die sich spätestens<br />
1978 auf die Seite <strong>Vietnam</strong>s geschlagen hatten und<br />
dann, im Gefolge der vietnamesischen Truppen, am 7. Januar<br />
1979 in Phnom Penh einmarschiert waren, sehen im<br />
7. Januar den Inbegriff des neu befreiten <strong>Kambodscha</strong> und<br />
haben dieses Datum deshalb vor allem im Jahr 2004 zum<br />
Anlass genommen, sich und ihre Politik anlässlich des 25.<br />
Jahrestags des Siegs über die Roten Khmer zu feiern.<br />
Aus der Jubiläumsrede, die vom KVP-Vorsitzenden<br />
und Senatspräsidenten Chea Sim gehalten wurde, sei wenigstens<br />
ein Absatz in Gänze zitiert: „Wir alle erinnern uns<br />
daran, dass das Regime des Demokratischen Kampuchea<br />
(DK) drei Jahre, acht Monate und 20 Tage angedauert<br />
und dass damals die schrecklichste Genozid-Politik betrieben<br />
wurde, die in einer massiven und unsagbaren Zerstörung<br />
endete. Pol Pots Angkar (’Organisation’) verwandelte<br />
ganz <strong>Kambodscha</strong> in ein einziges ’killing field’, voll von<br />
Blut und von den Tränen Unschuldiger. Die Nation wurde<br />
total zerstört, die Gesellschaft von einer schrecklichen<br />
Diktatur überzogen und die Bevölkerung von Unwahrheit<br />
sowie von Rechtlosigkeit erdrückt. Das Leben unter der<br />
Regierung Pol Pots war eine einzige Tortur, war Horror<br />
und Hoffnungslosigkeit. Es kann kein Zweifel daran bestehen,<br />
dass unser Heimatland jeden Boden unter den Füßen<br />
verloren hätte, wäre nicht in allerletzter Stunde doch noch<br />
Rettung gekommen.“<br />
131 XNA, 22.10.03.<br />
132 XNA, 23.10.03.<br />
133 Dazu SOAa, 5/2003, S.449.<br />
134 Dazu SOAa, 1/2004, S.41ff.
SÜDOSTASIEN aktuell - 258 - Mai 2004<br />
Anschließend kommt Chea Sim auf die Befreiungstat<br />
der vietnamesischen Verbündeten und auf die Eigenleistung<br />
des kambodschanischen Volkes zu sprechen, dessen<br />
Vorkämpfer damals noch unter dem Namen „<strong>Kambodscha</strong>nische<br />
Front zur nationalen Rettung und Solidarität“<br />
auftraten, einer Vereinigung, die heute den Namen<br />
„<strong>Kambodscha</strong>nische Volkspartei“ (KVP) führt. Damals sei<br />
ein neues Kapitel aufgeschlagen worden. 14 Jahre lang<br />
habe sich der neue Staat „Volksrepublik Kampuchea“ genannt<br />
und habe dann seinen Namen in „Staat <strong>Kambodscha</strong>“<br />
geändert, um schließlich – nach dem Pariser Friedensvertrag<br />
von 1991 – wieder zum „Königreich <strong>Kambodscha</strong>“<br />
zu werden, und zwar im Anschluss an die ersten<br />
allgemeinen Wahlen von 1993.<br />
Bei allen Unvollkommenheiten habe sich der neue<br />
Staat doch überaus erfolgreich entwickelt und zwischen<br />
1999 und 2001 ein jährliches BIP-Wachstum von 7% erreichen<br />
können, das in den nachfolgenden Jahren 2002 und<br />
2003 allerdings – im Gefolge von Dürren, Überschwemmungen<br />
und SARS – wieder auf 5% zurückgefallen sei.<br />
Für den Zeitraum von 2004 bis 2006 strebe man allerdings<br />
eine erneute Steigerung auf 6-7% an.<br />
Nach diesen eher grundlegenden historischen Bemerkungen<br />
kam Chea Sim sogleich auf den gegenwärtigen<br />
Stillstand bei der Bildung des neuen Parlaments zu sprechen<br />
und pries den „Geist des 5. November“ 135 als Ausgangspunkt<br />
für eine Dreierkoalition mit Hun Sen als Ministerpräsidenten.<br />
136<br />
Bereits vor den Feierlichkeiten hatte es eine Reihe von<br />
Abgeordneten gegeben, die gegen das Zeremoniell protestierten,<br />
weil mit ihm zugleich auch die Invasion der <strong>Vietnam</strong>esen<br />
und eine vieljährige Okkupation (bis 1989) gutgeheißen<br />
werde. 137 Chea Sim nannte die Leute, die hier<br />
aktiv wurden, schlicht „verrückt“. 138<br />
2.1.4.2<br />
Und das Tribunal?<br />
Obwohl seit dem Ende des Demokratischen Kampuchea<br />
nun schon 25 Jahre vergangen sind, ist noch keiner der damaligen<br />
Repräsentanten wegen des Völkermords (an rund<br />
1,7 Millionen Menschen) vor Gericht zitiert worden.<br />
Am 17. März 2003 war es allerdings – in einem zweiten<br />
Anlauf – zwischen der UNO und der kambodschanischen<br />
Regierung zu einem Abkommen über die Modalitäten<br />
des nun endlich abzuhaltenden Khmer-Rouge-<br />
Tribunals gekommen. Dieses Abkommen war dann fast<br />
zwei Monate später, nämlich am 13. Mai 2003, von der<br />
UN-Generalversammlung angenommen worden. Was nun<br />
noch fehlte, war der entscheidende dritte Schritt, nämlich<br />
die Ratifizierung des Abkommens durch die Nationalversammlung<br />
in Phnom Penh. Diese aber ist seit den Wahlen<br />
vom 27. Juli 2003 paralysiert und kann diesen Ratifizierungsschritt<br />
nicht vornehmen. 139<br />
WegendiesesHemmnisseshattebereitsAnfangFebruar<br />
ein Sonderbeschluss über die Verlängerung der Haft für<br />
die beiden Hauptangeklagten des künftigen Prozesses gefasst<br />
werden müssen. Hierbei handelt es sich um den „Ein-<br />
135 Dazu ebenda.<br />
136 Agence Kampuchea Presse, in BBC, 8.1.04.<br />
137 AWSJ, 7.1.04.<br />
138 TV Phnom Penh, in BBC, 7.1.04.<br />
139 Zu den Vorgängen im Einzelnen vgl. SOAa, 4/2003, S.351f.<br />
beinigen Schlächter“ Ta Mok und den ehemaligen „S-21“-<br />
(Tuol-Sleng-) Gefängnisdirektor Kaing Kek Iev, genannt<br />
Duch. Beide wurden unabhängig voneinander gefangen<br />
genommen und befinden sich seitdem in einem Militärgefängnis.<br />
Die Vorbereitungen für den Prozess sind so gut wie<br />
abgeschlossen. U.a. wurden inzwischen zehn Schädel besonders<br />
untersucht, an deren Frakturen und Verformungen<br />
man mit Sicherheit auf die Todesart schließen kann,<br />
sei es, dass sich an ihnen eindeutig Macheten-Schläge ins<br />
Gesicht und Schüsse in den Kopf oder sonstige Verstümmelungen<br />
genau identifizieren lassen. Man hat auch feststellen<br />
können, dass einigen Gefangenen die Fußsehnen<br />
durchschnitten worden waren, um sie an einer Flucht zu<br />
hindern. 140<br />
Bereits im Dezember 2003 hatte UNO-Generalsekretär<br />
Annan die kambodschanische Regierung aufgefordert,<br />
dass Tribunal nicht länger hinauszuzögern, sondern die<br />
Angelegenheit mit Priorität zu behandeln. 141 Eine Reihe<br />
von Staaten, darunter Japan 142 und Australien, boten<br />
in diesem Zusammenhang juristische und finanzielle<br />
Hilfe an. Auch die UNO stellte finanzielle Unterstützung<br />
in Aussicht, ohne allerdings ganz auf die US$-40-Mio.-<br />
Forderung der Phnom Penher Regierung einzugehen. 143<br />
2.1.4.3<br />
Khieu Samphan bezieht Stellung zur Vergangenheit<br />
Khieu Samphan, der zur Zeit des DK (1975-1978) offiziell<br />
Staatschef gewesen war, räumte im Dezember 2003<br />
erstmals ein, dass sein Regime sich des Völkermords schuldig<br />
gemacht habe. Nachdem er einen Film über das „S-<br />
21“-Gefängnis (Tuol Sleng) gesehen hatte, habe ihn tiefe<br />
Betroffenheit befallen. Er selbst habe von alldem nichts<br />
gewusst und auch niemals selbst Tötungen angeordnet.<br />
Gleichwohl wolle er sich vor einem Tribunal der UNO<br />
der Verantwortung stellen, sagte der 72-Jährige. 144<br />
Nach dieser Selbstoffenbarung sah sich auch der andere,<br />
ebenfalls in Pailin lebende einstige Spitzenführer,<br />
Nuon Chea („Bruder Nr. 2“), gezwungen, zu den Ereignissen<br />
von einst Stellung zu nehmen. „Ich gebe zu, dass<br />
damals Fehler gemacht worden sind. Aber ich habe nur<br />
gehandelt, um mein Land zu befreien. Ich wollte, dass<br />
es den Leuten gut geht“, sagte er in einem AP-Interview<br />
in Pailin. 145 Im Übrigen leugne er, dass unter dem damaligen<br />
Regime über eine Million Menschen ums Leben<br />
gekommen sei. Seine Interviewpartner beobachteten, dass<br />
der 77-Jährige, der Brillengläser der Marke „Gucci“, ein<br />
schwarzes Hemd, kurze Hosen und ein blau-weißes Tuch<br />
nationalen Machart (krama) trug, keinerlei Reue zeigte,<br />
von einem Schuldeingeständnis ganz zu schweigen. Es seien<br />
viele Menschen ums Leben gekommen, doch habe es<br />
für ihren Tod die verschiedensten Ursachen gegeben. Von<br />
Genozid könne ganz gewiss keine Rede sein.<br />
Nuon Chea war, ebenso wie Pol Pot, aus einer wohlhabenden<br />
sino-kambodschanischen Familie hervorgegangen<br />
140 AWSJ, 19.2.04.<br />
141 AWSJ, 9.12.03.<br />
142 Kyodo, in BBC, 10.2.03.<br />
143 AWSJ, 11.11.03.<br />
144 AWSJ, 30.12.03.<br />
145 AWSJ, 18.1.04.
SÜDOSTASIEN aktuell - 259 - Mai 2004<br />
und in Thailand ausgebildet worden. Schon während der<br />
fünfziger Jahre hatten sich beide über die künftige Revolution<br />
in <strong>Kambodscha</strong> Gedanken gemacht, und Nuon<br />
Chea war schließlich zum „Bruder Nr. 2“ – in der Rangfolge<br />
gleich hinter Pol Pot – aufgestiegen. Dass er von den<br />
zahllosen Morden nichts gewusst haben soll, ist schier unvorstellbar.<br />
Am 5. März 2004 kam auf dem kambodschanischen<br />
Buchmarkt ein 192-seitiger Bericht Khieu Samphans heraus,<br />
der den Titel „Die neuere Geschichte <strong>Kambodscha</strong>s<br />
und meine Einstellung dazu“ trägt und in dem die Ereignisse<br />
von 1960 bis ins Jahr 2004 aus der Sicht des<br />
Autors geschildert werden. Es handelt sich hier um<br />
den ersten Bericht, den eines der sieben Khmer-Rouge-<br />
Spitzenmitglieder verfasste. Der 73-jährige Samphan war<br />
nicht nur zwischen 1976 und 1979 Staatspräsident, sondern<br />
darüber hinaus, im Dezember 1979, auch zum Ministerpräsidenten<br />
aufgestiegen, in einer Zeit also, die vom<br />
vietnamesischen Blitzfeldzug gegen das DK bestimmt war<br />
und an dessen Ende von der einstigen DK-Staatsmacht<br />
nur noch eine Kampffront im Westen <strong>Kambodscha</strong>s übrig<br />
blieb, die allerdings noch jahrelang durch Guerilla-<br />
Aktionen sowie durch die Verlegung von Anti-Personen-<br />
Minen Angst und Schrecken zu verbreiten wusste.<br />
Dass ein Politiker in zwei Spitzenpositionen, wie sie<br />
Samphan sukzessive bekleidet hatte, von all den Ungeheuerlichkeiten,<br />
wie sie vor allem zwischen 1976 und 1978<br />
an der Tagesordnung gewesen waren, nichts gewusst haben<br />
soll, dürfte, ebenso wie im Falle Cheas, wohl kaum<br />
ein Gericht für glaubhaft halten.<br />
Eine makabre Nebenfolge all der vielen Berichte, die<br />
über die Ereignisse vor 25 Jahren veröffentlicht wurden,<br />
war eine Neubelebung des nationalen Filmwesens, das<br />
vor allem durch zahllose „Blutbad-Movies“ charakterisiert<br />
wird: Noch in den sechziger Jahren war der kambodschanische<br />
Film in ganz Asien vorbildhaft gewesen, dann aber<br />
von den Roten Khmer mit Stumpf und Stiel ausgerottet<br />
worden. Nach über zwei Jahrzehnten Stillstand hat sich<br />
fast alles verändert, nicht zuletzt das Sujet: Nicht mehr<br />
Liebesfilme oder Ritterspiele stehen auf dem Programm<br />
der neu eröffneten Kinos, sondern Horror- und „Blutbad“-<br />
Stories. 146 Psychologen rätseln, ob es sich hier um eine<br />
Sonderform der Vergangenheitsbewältigung handelt.<br />
2.2<br />
Wirtschaft<br />
2.2.1<br />
Einbruch beim Tourismus<br />
Die Zahl der Touristen ist i.J. 2003 um gleich 11% gegenüber<br />
dem Vorjahr zurückgegangen. Das „Visit-Cambodia-<br />
Year 2003“ ist mit anderen Worten zu einem Schlag ins<br />
Wasser geworden.<br />
Noch 2002 hatten 786.524 Touristen das Land besucht,<br />
2003 dagegen waren es lediglich 701.014.<br />
Gründe für den Rückgang waren die noch zu Beginn<br />
des Jahres akute SARS-Gefahr, des Weiteren der Irak-<br />
Krieg, die anti-thailändischen Unruhen vom Januar 2003,<br />
die Unsicherheiten im Zusammenhang mit den Wahlen<br />
vom 27. Juli und gestiegene Kosten der Rundreisetouren.<br />
147<br />
146 FT, 15.2.04.<br />
147 XNA, 14.1. und 6.2.04.<br />
Vor allem die Zahl der Besucher aus Nahost und Afrika<br />
fiel um gleich 85%, die der Europäer und Amerikaner um<br />
16%. Andererseits kamen aus den ASEAN-Ländern um<br />
40% mehr Besucher als noch im Vorjahr.<br />
Die Einnahmen aus dem Tourismus-Sektor beliefen<br />
sich auf rund US$ 300 Mio. und bescherten der kambodschanischen<br />
Volkswirtschaft damit den zweithöchsten<br />
Beitrag – hinter dem Sektor Nr. 1, der Textilindustrie,<br />
die 2003 mit US$ 1,5 Mrd. zu Buche schlug. 148 Noch im<br />
Vorjahr hatte der Tourismus-Sektor die Summe von US$<br />
560 Mio. verzeichnen können. 149<br />
2.3<br />
Außenpolitik<br />
2.3.1<br />
Fortbestehende Ambivalenz gegenüber Thailand<br />
Die Beziehungen <strong>Kambodscha</strong>s zu Thailand nehmen sich<br />
ein Jahr nach den anti-thailändischen Pogromen vom Januar<br />
2003 immer noch etwas zwiespältig aus, obwohl sich<br />
beide Seiten alle Mühe geben, möglichst nur das Gemeinsame<br />
zu betonen und die Schattenseiten soweit wie möglich<br />
im Verborgenen zu halten.<br />
Ganz auf dieser Linie ist es in den vergangenen Monaten<br />
zu zahlreichen wechselseitigen Zugeständnissen gekommen.<br />
Da sind zunächst Abkommen der vielfältigsten<br />
Art, die sich im gemeinsamen ASEAN- und im Mekong-<br />
Gemeinschaftsrahmen bewegen, darüber hinaus aber auch<br />
vierseitige, dreiseitige und zweiseitige Abmachungen:<br />
– Anfang August und Ende Oktober bspw. fanden gemeinsame<br />
Treffen der vier Außenminister von <strong>Kambodscha</strong>,<br />
<strong>Laos</strong>, Myanmar und Thailand in Bangkok<br />
statt, bei denen Rahmenrichtlinien für eine vierseitige<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit abgesprochen<br />
wurden. Im Rahmen dieser „Economic Cooperations<br />
Strategy“ (ECS) 150 will Thailand die Zahl der Importgüter,<br />
die zu ermäßigten Tarifen aus den drei Nachbarländern<br />
eingeführt werden, in nächster Zeit verfünffachen.<br />
Ferner sollen die Importquoten für Güter<br />
aus diesen Ländern erhöht, die wechselseitigen privaten<br />
Investitionen vermehrt und überdies die infrastrukturellen<br />
Verbindungen zwischen den vier Nachbarstaaten<br />
verdichtet werden. 151<br />
– Daneben gibt es neue trilaterale Abmachungen zwischen<br />
<strong>Kambodscha</strong>, <strong>Laos</strong> und Thailand im Tourismus-<br />
Bereich. Das hier von Thailand vorgeschlagene „Emerald<br />
Triangle Project“ soll im Laufe von zwölf Jahren<br />
umgesetzt und damit die Gesamtregion zu einem einheitlichen<br />
Tourismusgebiet ausgebaut werden. 152<br />
– Was schließlich die bilateralen thailändisch-kambodschanischen<br />
Abmachungen anbelangt, so sind beide<br />
Seiten am 11. November 2003 darin überein gekommen,<br />
drei weitere internationale Grenzübergangspunkte<br />
zwischen beiden Staaten zu eröffnen, darüber<br />
hinaus im Energiebereich stärker zusammenzuarbeiten<br />
und nicht zuletzt eine gemeinsame Wirtschafts-<br />
148 XNA, 6.2.04.<br />
149 XNA, 2.1.04.<br />
150 XNA, 27.10.03.<br />
151 XNA, 28.10.03.<br />
152 XNA, 3.8.03.
SÜDOSTASIEN aktuell - 260 - Mai 2004<br />
sonderzone in der kambodschanischen Provinz Koh<br />
Kong zu errichten. 153<br />
Die rund 280 km südwestlich von Phnom Penh gelegene<br />
Gebirgsprovinz Koh Kong eignet sich nicht<br />
nur für die Anlage eines hydroelektrischen Gemeinschaftsprojekts,<br />
sondern – wegen ihrer nachbarschaftlichen<br />
Lage zu Thailand – auch zu einer gemeinsamen<br />
Wirtschaftsentwicklungszone. 154 Das E-Werk soll auf<br />
400 MW ausgelegt, von einem chinesisch-thailändisch-<br />
US-amerikanischen Joint Venture gebaut und später<br />
mit der Aufgabe betraut werden, Elektrizität sowohl<br />
an die kambodschanische Électricité du Cambodge<br />
(EDC) als auch an die thailändische Electricity Generating<br />
Authority of Thailand (EGAT) zu liefern.<br />
Anfang November kamen beide Seiten auch darin<br />
überein, dass in der Gegend von Pailin ein Grenzübergang<br />
geöffnet werden sollte. Pailin, rund 370<br />
km nordwestlich von Phnom Penh, liegt direkt an<br />
der thailändischen Grenze und war lange Zeit eine<br />
Guerilla-Festung der Roten Khmer. Mittlerweile hat<br />
sich diese kriegerische Hochburg in ein Paradies für<br />
Kasino-Besucher und für Edelsteinhändler verwandelt.<br />
155 Pailin ist nicht nur ein Mittelpunkt des Handels,<br />
sondern auch des Edelstein-Schmuggels, weshalb<br />
es beiderseits der Grenzen auch immer wieder zu Verhaftungen<br />
kommt. In Zukunft soll auch hier – im Handel<br />
und bei der Strafverfolgung – mehr Kooperation<br />
stattfinden. 156<br />
Ein weiteres Renormalisierungszugeständnis war die<br />
Verurteilung einiger Personen, die beschuldigt wurden,<br />
in <strong>Kambodscha</strong> Straftaten begangen zu haben.<br />
157<br />
In diesem Zusammenhang wurde am 29. November<br />
vom thailändischen Appellationsgericht auch das Urteil<br />
eines Gerichts unterer Instanz bestätigt, demzufolge<br />
Sok Yuen, ein führendes Mitglied der kambodschanischen<br />
Opposition, an <strong>Kambodscha</strong> ausgeliefert<br />
werden solle. Sok Yuen hatte nach Überzeugung des<br />
Gerichts am 2. September 1998 versucht, Hun Sen zu<br />
ermorden. Zu diesem Zweck hatte er vier Raketen auf<br />
den Autokorso Hun Sens in Siem Reap abgefeuert, die<br />
allerdings ihr Ziel verfehlt und stattdessen ein Kind<br />
getötet hatten. 158<br />
Ein ermutigendes Signal für die Renormalisierung war<br />
schließlich auch die Wiedereröffnung der am 29. Januar<br />
2003 von kambodschanischen Demonstranten niedergebrannten<br />
thailändischen Botschaft am 9. Februar<br />
2004. 159 Das Botschaftsgebäude war mit Mitteln<br />
in Höhe von US$ 5,9 Mio. wieder aufgebaut worden,<br />
die der kambodschanische Staat schon bald nach dem<br />
Vorfall als Schadensersatz überwiesen hatte.<br />
Einige der betroffenen thailändischen Firmen sind allerdings<br />
bis auf den heutigen Tag noch nicht vollständig<br />
entschädigt worden.<br />
153 Außenministerium Phnom Penh, in BBC, 12.11.03.<br />
154 XNA, 21.11.03.<br />
155 XNA, 12.11.03.<br />
156 XNA, 8.12.03.<br />
157 Dazu SOAa, 6/2003, S.546f.<br />
158 XNA, 29.11.03.<br />
159 Zum anti-thailändischen Pogrom vgl. SOAa, 2/2003, S.153-156<br />
und 4/2003, S.359.<br />
Diesen positiven Entwicklungen stehen jedoch nach wie<br />
vor auch dunkle Punkten gegenüber.<br />
Da sind einmal die fortdauernden „Clean-Up“-Operationen<br />
der thailändischen Behörden, in deren Umsetzung<br />
immer wieder auch illegale <strong>Kambodscha</strong>ner repatriiert<br />
werden. 160 Darüber hinaus wurden am 15. März 2004 236<br />
<strong>Kambodscha</strong>ner, die versucht hatten, illegal auf thailändisches<br />
Territorium zu gelangen, wieder zurückgeschickt,<br />
d.h. bei der Grenzstadt Aranya Prathet den kambodschanischen<br />
Behörden überstellt. 161<br />
Im Rahmen ihrer „Säuberungskampagne“ hat Thailand<br />
bis Mitte März rund 9.500 illegale Immigranten abgeschoben,<br />
darunter 4.200 <strong>Kambodscha</strong>ner, 3.740 Birmanen<br />
und rund 1.500 Laoten.<br />
Nicht zuletzt aber ist es Ende Dezember 2003 zu einem<br />
weiteren Zwischenfall gekommen, der nicht wenige<br />
kambodschanische Nationalisten erneut bis zur Weißglut<br />
gereizt hat: Anfang Januar 2004 nämlich hatte<br />
der thailändische Rechtsprofessor Prassit Ekabot nach<br />
Zeitungsmeldungen gefordert, dass der im thailändischkambodschanischen<br />
Grenzbereich gelegene und seit Jahrzehnten<br />
umstrittene Preah-Vihear-Tempelkomplex als eine<br />
Art Entschädigungsleistung für das von <strong>Kambodscha</strong>nern<br />
am 29. Januar 2003 in Phnom Penh begangene Unrecht<br />
definitiv in die Souveränität Thailands übergehen<br />
müsse. Diese Meldung fachte auf der Stelle neue Emotionen<br />
an und veranlasste das offizielle Thailand, beim<br />
kambodschanischen Informationsministerium mit der Bitte<br />
einzukommen, auf die Presse mäßigend einzuwirken.<br />
Es handele sich hier ausschließlich um eine private Meinung,<br />
hinter der weder die thailändische Regierung noch<br />
das thailändische Volk stehe. 162<br />
Beide Seiten haben es in der Tat nicht leicht miteinander.<br />
3<br />
LAOS<br />
3.1<br />
Innenpolitik<br />
3.1.1<br />
Die Armee, um die es so still geworden ist<br />
3.1.1.1<br />
55. Geburtstag und Überlegungen zum Selbstverständnis<br />
Am 20. Januar 2004 feierte die LVA (Laotische Volksarmee)<br />
ihren 55. Gründungstag.<br />
Theoretisch hätten viele andere Tage für diesen Anlass<br />
ausgewählt werden können. Für die politische Praxis<br />
einigte man sich auf den 20.1.1949, womit gleich zwei<br />
Selbstverständniselementen der LRVP Rechnung getragen<br />
wurde, nämlich einerseits der Gründungstat des früheren<br />
KP-Vorsitzenden Kaysone Phomvihan, andererseits<br />
aber der Mithilfe <strong>Vietnam</strong>s. Der offizielle Hergang, wie er<br />
im Vorfeld des 20. Januar jedes Jahr rezitiert zu werden<br />
pflegt, lautet demnach: „Die laotische revolutionäre Volks-<br />
160 Dazu SOAa, 6/2003, S.547.<br />
161 XNA, 15.3.04.<br />
162 AWSJ, 2.1.04.
SÜDOSTASIEN aktuell - 261 - Mai 2004<br />
armee, die ursprünglich unter der Bezeichnung Khong<br />
Latsavong (benannt nach einem laotischen Nationalhelden)<br />
bekannt geworden ist, wurde am 20. Januar 1949 im<br />
Distrikt Xieng Kho, Provinz Houaphan, der abgelegenen<br />
nördlichen Festung der Revolution, gegründet. Die Einheit<br />
bestand ursprünglich aus lediglich 25 Soldaten, zu<br />
denen auch der verstorbene Präsident und Nationalheld<br />
Kaysone Phomvihan gehörte.“ 163<br />
Diese Truppe, die sich aus „allen ethnischen Gruppen<br />
des laotischen Volkes“ zusammensetzte, habe später zahllose<br />
Schlachten siegreich bestanden, bis ihre Nachfolger<br />
i.J. 1975 das ganze Land befreien konnten. Die Armee sei<br />
die Hauptkraft „beim Abstreifen jener kolonialen Fesseln“<br />
gewesen, die dem laotischen Volk von Franzosen und Amerikanern<br />
angelegt wurden, und sie habe mit dieser Befreiungstat<br />
eine Schlüsselrolle bei der Errichtung der LDVR<br />
gespielt. 164<br />
Trotz unzureichender und veralteter Bewaffnung habe<br />
die Armee „wieder und wieder ausländische Aggressionen<br />
abwehren“ und damit einen entscheidenden Beitrag<br />
zu innerem Frieden und politischer Stabilität sowie<br />
zur „Aufrechterhaltung der Errungenschaften der Revolution“<br />
leisten können. Für diese Verdienste habe sie bisher<br />
dreimal den höchsten Orden der LDVR, die Issara-<br />
Freiheitsmedaille, erhalten, und zwar 1979, 1988 und<br />
1994. 59 Soldaten seien außerdem zu „Nationalen Helden“<br />
ernannt worden – ebenso übrigens wie 14 Batallione und<br />
49 Kompanien.<br />
Diese Tradition der Vorbildlichkeit werde aufrechterhalten:<br />
Auch im Vorfeld des 55. Gründungstags habe die<br />
Armee, wie schon früher, in verschiedenen Ministerien, vor<br />
allem im Verteidigungs-, im Bildungs-, im Transport-, im<br />
Arbeits- und im Informations- sowie im Kulturministerium<br />
Vorlesungen veranstaltet. 165<br />
Im Laufe der Jahre hat die Armee mehrere Male ihren<br />
Namen geändert: Ursprünglich hieß sie, wie erwähnt,<br />
Khong Latsavong, 1965 wurde sie in „Befreiungsarmee des<br />
laotischen Volkes“ umgetauft, und seit 1976 heißt sie „Laotische<br />
Volksarmee“ (LVA). 166<br />
3.1.1.2<br />
Truppenstärke und Kostenfaktoren<br />
Die Armeestärke ist seit Dezember 1975, also seit der<br />
Machtergreifung stark verändert worden: Damals bestand<br />
sie aus rund 60.000 Mann, darunter 35.000 Pathet-Lao-<br />
Soldaten, und aus Überläufern der Armee des damals gerade<br />
untergegangenen Königreichs. 1976 wurde sie nach<br />
nordvietnamesischen Prinzipien neu geordnet und umfasste<br />
nun nur noch 42.500 Mann, die in 65 Infanterie-<br />
Bataillone gegliedert und auf insgesamt vier Militärregionen<br />
verteilt wurden.<br />
1979 halfen diese Verbände den rund 50.000 vietnamesischen<br />
Soldaten bei der Niederschlagung militärischer<br />
Widerstandseinheiten des früheren Regimes.<br />
In den frühen achtziger Jahren wurden die LVA-<br />
Einheiten mit sowjetischer Hilfe neu ausgerüstet und erhielten<br />
jetzt auch eine Luftwaffe, die sich im Wesentlichen<br />
aus MIG-Jagdflugzeugen zusammensetzte. Allerdings en-<br />
163 VT, 17.-20.1.03.<br />
164 Ebenda.<br />
165 Ebenda.<br />
166 S.a. SOAa, 2/1996, S.146f. und 1/1997, S.56f.<br />
dete die Unterstützung von vietnamesischer und sowjetischer<br />
Seite bereits Ende der achtziger Jahre, nachdem<br />
es in <strong>Vietnam</strong> zu Reformen und in Osteuropa zur großen<br />
Krise der dortigen sozialistischen Länder gekommen war.<br />
Die vietnamesischen Truppen waren 1988 im Wesentlichen<br />
abgezogen. Was weiter Bestand hatte, war lediglich<br />
das beiderseitige Freundschaftsabkommen vom Juli 1977,<br />
in dem sich die SRV eine Rückkehr ihrer Verbände nach<br />
<strong>Laos</strong> vorbehalten hatte.<br />
Mitte der neunziger Jahre belief sich die Truppenstärke<br />
der LVA auf rund 33.000 Soldaten, die nach wie vor in<br />
vier Militärregionen aufgeteilt waren.<br />
Die Militärregion 1 hat ihr Hauptquartier in Luang<br />
Prabang, die Militärzone 2 in Muong Phonsavan (in der<br />
Provinz Xieng Khouang auf der Ebene der Tonkrüge),<br />
die Militärregion 3 in Xeno (Provinz Savannakhet) und<br />
die Militärregion 4 in Pakse (Provinz Champassak).<br />
Dieser Zustand ist bis heute im Wesentlichen erhalten<br />
geblieben. 167<br />
Die Aufwendungen für das Militär können – mangels<br />
selbst eines Minimums an Daten – nur geschätzt werden.<br />
Der CIA 168 geht von Gesamtausgaben in Höhe von 4,2%<br />
des BIP des Jahres 1996 aus und unterstellt für das Jahr<br />
1998 US$ 55 Mio. (Vergleich: Thailand US$ 1,8 Mrd., VR<br />
China US$ 45 Mrd., BR Deutschland US$ 38 Mrd., USA<br />
US$ 276 Mrd.). Pro Kopf würden demnach rund US$ 10<br />
ausgegeben.<br />
3.1.1.3<br />
Gliederung, Führungsstruktur und Ausrüstung<br />
Bei der LVA handelt es sich um eine Wehrpflichtarmee<br />
mit 18-monatigem Dienst. Sie besteht, wie erwähnt,<br />
aus 33.000 Mann, ist in vier Militärregionen aufgegliedert<br />
und umfasst fünf Infanterie-Divisionen, sieben<br />
unabhängige Infanterie-Regimenter, fünf Artillerie-<br />
Bataillone, drei Pionier-Regimenter, 65 unabhängige<br />
Infanterie-Kompanien und einige Artillerie-Einheiten.<br />
Die fünf Infanterie-Divisionen, also die Kernelemente,<br />
sind an den strategisch besonders wichtigen Standorten<br />
stationiert, nämlich die 1. Division in der Region Vientiane,<br />
die 2. Division entlang der thailändischen Grenze, die<br />
3. Division entlang der Grenze zur VR China sowie die 4.<br />
und die 5. Division in Südlaos.<br />
Neben den regulären Einheiten unter zentralem Kommando<br />
gibt es regionale Einheiten und Milizen in Dörfern<br />
sowie in Stadtdistrikten.<br />
An der Spitze der Armee, deren Führung insgesamt<br />
vom Politbüro aus gesteuert wird, stehen ein Generalstab<br />
und eine Allgemeine Politische Abteilung, die vor allem<br />
für den ideologischen Gleichschritt verantwortlich ist. 169<br />
Der Führungsnachwuchs wird in einer Militärakademie<br />
ausgebildet, die – über das ganze Land verteilt – eine<br />
Reihe von Außenstellen unterhält. 170<br />
Zu den Schwachstellen der LVA gehören nach wie<br />
vor drei Defizite, nämlich die unzureichende Koordination<br />
zwischen den Regionaleinheiten und dem Generalstab,<br />
ferner Mängel bei der Ausbildung sowie der Ausrüstung<br />
167 Weitere grundlegende Ausführungen zur LVA in SOAa, 6/1983,<br />
S.527-554.<br />
168 The World Fact Book 2002, www.cia.gov.<br />
169 Dazu VT, 21.-23.10.03.<br />
170 Ebenda.
SÜDOSTASIEN aktuell - 262 - Mai 2004<br />
und nicht zuletzt mangelnde ideologische Schulung. 171<br />
Eine weitere Schwäche, nämlich das Gegeneinander<br />
von Politoffizieren und Militärkommandanten in der jeweiligen<br />
Einheit, ist durch die Einführung des „Ein-Mann-<br />
Kommandosystems“ i.J. 1992 teilweise korrigiert worden.<br />
172<br />
Die Ausrüstung der Verbände ist, eigenem Eingeständnis<br />
zufolge, nach wie vor dürftig und besteht aus rund 30<br />
Kampfpanzern sowjetischer T-Typen, 25 leichten Tanks<br />
und rund fünf Dutzend gepanzerten Transportfahrzeugen.<br />
Zur LVA gehören seit 1975 auch Marine- und<br />
Luftwaffen-Einheiten. Die Marine spielt in einem Land<br />
wie <strong>Laos</strong>, das vom Meer abgeschlossen ist, naturgemäß<br />
nur eine untergeordnete Rolle und hat mit ihren 16 Booten<br />
vor allem Patrouillen auf dem Mekong – mit ständigem<br />
Blick auf Thailand – durchzuführen. 173<br />
Die Luftwaffe besteht aus etwa 3.500 Mann und verfügt<br />
über ein Jagdflug-Regiment mit rund zwei Dutzend<br />
MIG21-Flugzeugen, mit einem Dutzend Transportflugzeugen<br />
und mit mehreren Helikoptern.<br />
3.1.1.4<br />
Paramilitärische Einheiten und bewaffnete Volkspolizei<br />
Im paramilitärischen Bereich stehen auf dem Lande rund<br />
100.000 Milizionäre sowie Selbstverteidigungskräfte in<br />
den Industriebetrieben zur Verfügung.<br />
Da Gefahren heutzutage weniger von außen als vielmehr<br />
von innen kommen, nimmt die Zusammenarbeit des<br />
Militärs mit der Polizei laufend zu 174 – mit der Folge, dass<br />
z.B. die Sicherheitskräfte, die in besonders kritischen Situationen<br />
eingesetzt werden, eine Art fließendes Kontinuum<br />
zwischen Militär und Polizei bilden.<br />
Militärisch ausgerüstet und offensichtlich der Führung<br />
des Armee-Kommandos unterstellt, versuchen die<br />
so genannten Sicherheitseinheiten seit 1975, „Schulter an<br />
Schulter mit der LVA und der Bevölkerung“ für politische<br />
Stabilität im Lande zu sorgen. Seit den frühesten Anfängen<br />
der LDVR hatten Mitglieder der Sicherheitskräfte<br />
Führungsposten in Gemeindeverwaltungen, Gemeindemilizen<br />
und in lokalen Parteisekretariaten übernommen<br />
und auch in den Provinzverwaltungen stets Leitfunktionen<br />
bekleidet, vor allem wenn es darum ging, den Kampf<br />
gegen Schwerkriminalität aufzunehmen, z.B. im Korruptionsfall<br />
der Lao-Ölgesellschaft, aber auch bei der Untersuchung<br />
der Betrügereien in der Außenhandelsbank, in<br />
deren Verlauf US$ 12 Mio. versickert waren, und nicht zuletzt<br />
beim US$-2-Mio.-Raub am Wattay-Flughafen sowie<br />
bei der Entwendung von Buddhafiguren aus dem Nationalmuseum<br />
durch thailändische Diebe. Auch das Drogenlaboratorium<br />
im Distrikt Ton Pheong sei durch Sicherheitskräfte<br />
ausgehoben worden.<br />
48% der KP-Zellen innerhalb der Sicherheitskräfte<br />
sind bisher als vorbildlich ausgezeichnet worden. In der<br />
Gesellschaft genössen die laotischen Sicherheitskräfte, wie<br />
es heißt, allerhöchstes Ansehen und unterhielten mittlerweile<br />
auch eigene Bürogebäude, elf Ausbildungszentren,<br />
171 Ausführlich dazu, SOAa, 4/1994, S.322f.<br />
172 Dazu SOAa, 1/1992, S.74.<br />
173 Zur Bewachung der Grenzen zu Thailand und Myanmar vgl.<br />
SOAa, 4/1990, S.338-340.<br />
174 Vgl. u.a. SOAa, 2/1996, S.146f.<br />
Warenhäuser und eigene Wohnquartiere. Auch innerhalb<br />
der ASEAN hätten sich die Kräfte wegen ihres engagierten<br />
Kampfes gegen die Drogenkriminalität Ansehen erworben.<br />
175<br />
Überhaupt scheint sich die LVA heutzutage überwiegend<br />
als Wächterin innerer Stabilität, als Kämpferin<br />
gegen Dissidententum und als Grenzpatrouille entlang<br />
„zweifelhafter Gebiete“ (an der thailändischen Grenze) zu<br />
sehen.<br />
Sogar gegen den Drogenschmuggel wird die Armee eingesetzt,<br />
doch gibt es andererseits auch Gerüchte, denen<br />
zufolge die Armee mit zu den Hauptgewinnern des illegalen<br />
Drogenhandels gehört. 176<br />
Nicht zuletzt aber bleibt die Armee ein innenpolitisches<br />
Instrument, das benutzen zu können jede politische<br />
Fraktion in <strong>Laos</strong> bemüht sein muss, vor allem wenn es um<br />
den Kampf gegen Regimegegner geht.<br />
3.1.1.5<br />
Aufgabenbereiche<br />
Was die Aufgaben der LVA anbelangt, so sind sie militärischer,<br />
wirtschaftlicher und politischer Art.<br />
3.1.1.5.1<br />
Die militärische Rolle der LVA<br />
Es waren vor allem die Anforderungen im „geheimen<br />
Krieg“ (1992-1973), die zum eigentlichen Bewährungsfeld<br />
der LVA geworden sind. 1962 war in Genf zwischen 14<br />
Nationen (darunter auch Nordvietnam und die USA) die<br />
„Erklärung über die Neutralität von <strong>Laos</strong>“ unterzeichnet<br />
worden, doch weder <strong>Vietnam</strong> noch die USA hatten sich an<br />
diese Abmachungen gehalten; vielmehr waren rund 10.000<br />
nordvietnamesische Soldaten in <strong>Laos</strong> verblieben, weshalb<br />
auch die USA nicht davor zurückschreckten, ihren laotischen<br />
Verbündeten, nämlich das damalige Königreich,<br />
militärisch weiter aufzurüsten und seine Truppen im täglichen<br />
Kampf zu unterstützen. Die USA traten hierbei<br />
nicht offiziell auf, sondern bedienten sich der CIA, deren<br />
Hauptquartier im thailändischen Udon Thani stationiert<br />
war, von wo aus rund 30.000 bis 35.000 irreguläre Kämpfer,<br />
darunter hauptsächlich Hmong-Guerillas, sowie eine<br />
immer größer werdende Luftwaffe (darunter Einheiten der<br />
Air America) dirigiert wurden. Die Irregulären, die unter<br />
Leitung des zum General ernannten Hmong-Führers Vang<br />
Pao standen, kämpften Seite an Seite mit der königlichen<br />
Armee, vor allem im Abschnitt der 2. Militärregion, und<br />
retteten nebenbei zahlreiche bei Lufteinsätzen abgeschossene<br />
amerikanische Piloten.<br />
Was die Luftangriffe der Air America und anderer<br />
Krypto-Einheiten anbelangt, so setzten sie vor allem im<br />
Oktober 1964 ein, als Pathet-Lao- und nordvietnamesische<br />
Truppen die königlichen Verbände aus der Ebene der<br />
Tonkrüge verdrängt hatten und der vietnamesische Nachschub<br />
immer mehr über Teile dieser Ebene (den Westausläufern<br />
des Ho-Chi-Minh-Pfads also) zu verlaufen begann.<br />
Auch in Südlaos wurden die US-Lufteinsätze verstärkt,<br />
nachdem Pathet-Lao- und nordvietnamesische Truppen<br />
dorthin ebenfalls Teile des Ho-Chi-Minh-Pfads verlegt<br />
hatten.<br />
175 VT, 29.9.-2.10.00.<br />
176 World Desk Reference – <strong>Laos</strong>, in www.dk.com.
SÜDOSTASIEN aktuell - 263 - Mai 2004<br />
Trotz aller Gegenmaßnahmen der königlichen Armee<br />
sowie der Vang-Pao-Einheiten und trotz massiver Luftunterstützung<br />
durch die Air America bestanden die Pathet-<br />
Lao-Einheiten ihre Feuertaufe und waren nach sechs Jahren<br />
Krieg, d.h. bis 1970, bereits auf 48.000 Mann angewachsen.<br />
Ihre neu gewonnene Stärke zeigte sich vor allem<br />
bei den Kämpfen um das in Südlaos gelegene Bolovens-<br />
Plateau, die von Dezember 1971 bis April 1972 dauerten<br />
und an denen neben Pathet-Lao-Einheiten auch noch<br />
20 nordvietnamesische Bataillone teilnahmen. Bei diesen<br />
Kämpfen gelang es den Verbänden, die Hauptbasis<br />
Vang Paos und seiner irregulären Hmong-Einheiten auf<br />
dem Bolovens-Plateau zu erobern und anschließend sogar<br />
Thakhek (am Mekong) und Vientiane einzukreisen.<br />
Mit dem am 22.2.1973 abgeschlossenen Waffenstillstandsvertrag<br />
hatte der Pathet Lao einen großen Sieg errungen,<br />
insofern nämlich die USA nun ihren Luftkrieg einstellen<br />
mussten und die königlichen Truppen gleichzeitig<br />
von Gegenoffensiven abgehalten wurden. Diese Atempause<br />
gab den Pathet-Lao-Einheiten Gelegenheit, sich neu<br />
aufzustellen und sich mit Hilfe <strong>Vietnam</strong>s neu aufzurüsten.<br />
Schon kurze Zeit später wurde auch zwischen den laotischen<br />
Gegnern eine neue Koalitionsregierung (es war die<br />
dritte ihrer Art) vereinbart.<br />
An dieser Stelle begann die militärische Aufgabe in<br />
eine politische überzugehen.<br />
Im Vorfeld der 3. Koalitionsregierung war Prinz Souphanou<br />
Vong (in seiner Eigenschaft als Präsident der Neo<br />
Lao Hak Sat, d.h. der „Laotischen Patriotischen Front“)<br />
am 3. April 1974 in Vientiane angekommen und hatte<br />
am 5. April die Führung des „Nationalpolitischen Kabinetts<br />
der Koalitionsregierung“ übernommen sowie am 25.<br />
April 1974 die „18 Prinzipien“ verkündet, die das politische<br />
Programm für den Übergang – und letztlich auch<br />
für die Machtergreifung des Pathet Lao – bilden sollten.<br />
Vor allem die Pathet-Lao-Truppen, die kurz vorher in die<br />
zwei neutralisierten Städte Vientiane und Luang Prabang<br />
entsandt worden waren, sorgten dafür, dass diese 18 Prinzipien<br />
stets im Sinne der Revolutionäre interpretiert wurden.<br />
177<br />
Die entscheidende Auseinandersetzung ließ allerdings<br />
immer noch auf sich warten und erfolgte erst im Jahr<br />
1975. Damals gab Kaysone Phomvihan (unter seinem Geheimnamen<br />
Vieng Xay) am 15. Mai 1975 den Befehl aus,<br />
„drei strategische Schläge“ durchzuführen und dadurch<br />
<strong>Laos</strong> endgültig zu „befreien“. Danach sollten (1) die alte<br />
Verwaltung abgeschafft und durch neue Institutionen ersetzt,<br />
sollten (2) die königlichen Truppen entwaffnet und<br />
neue „Volksstreitkräfte“ aufgestellt und sollte (3) die nationale<br />
Koalitionsregierung durch einen neuen „Staatsmechanismus“,<br />
nämlich eine „Volksregierung“ ausgetauscht<br />
werden, durch ein Gebilde also, wie es nach dem Sieg in<br />
Form der heutigen LDVR Wirklichkeit wurde. 178<br />
Bereits am 31. Mai 1975 waren die zum Frontenwechsel<br />
bereiten Soldaten der königlichen Armee aus 45 verschiedenen<br />
Kasernen erfasst und in Pathet-Lao-Einheiten<br />
umgruppiert worden. Nach ähnlichem Schema schwenkten<br />
am 28. August 1975 die Verwaltungen von 15 Provinzen,<br />
vier großen Städten (Vientiane, Luang Prabang, Savan-<br />
177 VT, 24.-27.10.03.<br />
178 VT, 11.-13.11.03.<br />
nakhet und Pakse) sowie von 67 Distrikten staatsstreichartig<br />
auf die Pathet-Lao-Seite über. Das Militär- und Polizeisystem<br />
wurde daraufhin abgeschafft und sämtliche Einrichtungen<br />
sowie Fahrzeuge „der Kontrolle patriotischer<br />
Truppen“ unterstellt. 179 Höhere Beamte und Minister des<br />
alten Regimes hatten sich in „Seminaren“ in den „befreiten<br />
Zonen“ einzufinden, um sich dort einer Umschulung<br />
zu unterziehen. 180 Bereits Ende Juli 1975 waren außerdem<br />
sämtliche bis dahin noch unter königlichem Oberbefehl<br />
verbliebenen militärischen Einheiten zur Kapitulation<br />
gezwungen worden.<br />
Am 23. August 1975 fand in Vientiane – stets unter<br />
Mitwirkung der LVA – eine große „Siegesparade des Volkes“<br />
statt, die heute noch als ein „Meilenstein auf dem<br />
Weg zum endgültigen Sieg“ verstanden wird. Wenige Tage<br />
später, am 4. September 1975, wurden 31 Repräsentanten<br />
des alten Regimes von einem Volksgerichtshof verurteilt.<br />
Am 18. September 1975 begann eine Propagandakampagne,<br />
deren Aufgabe es sein sollte, die Bevölkerung des<br />
Königreichs von der Notwendigkeit des Siegs der Pathet-<br />
Lao-Streitkräfte zu überzeugen, und im Dezember 1975<br />
erfolgte dann die endgültige Machtübernahme, indem die<br />
bis dahin 600 Jahre alte Monarchie abgeschafft und durch<br />
einen neuen Staat, die LDVR, ersetzt wurde.<br />
Auch nach Gründung der LDVR hatte die LVA noch<br />
zahlreiche Aufgaben zu erledigen: Da waren erstens i.J.<br />
1984 die militärischen Auseinandersetzungen mit Thailand<br />
um drei am Mekong gelegene Grenzdörfer 181 und<br />
um drei Grenzhügel im Jahre 1988. 182 Zweitens gab es<br />
zahlreiche Auseinandersetzungen mit „reaktionären Truppen“,<br />
d.h. vor allem königstreu gebliebene Einheiten der<br />
alten Armee. 1977 kam es in diesem Zusammenhang bspw.<br />
zu Kämpfen um die Mekong-Insel Sing Sou (nordöstlich<br />
von Vientiane), die nach mehrtägigen Kämpfen von LVA-<br />
Einheiten zurückerobert wurde. 183<br />
Kämpfe dieser Art flammten aber selbst im Jahr 2000<br />
noch auf, und zwar wieder einmal in der Provinz Xieng<br />
Khouang, also auf der Ebene der Tonkrüge. Die militärischen<br />
Auseinandersetzungen mit einer Reihe von Hmong-<br />
Einheiten entwickelten sich dabei mit solcher Intensität,<br />
dass vietnamesische Einheiten zu Hilfe kommen mussten<br />
und damit eine Tradition fortsetzten, die vor allem in den<br />
siebziger Jahren an der Tagesordnung gewesen war, nämlich<br />
die gemeinsam betriebene Ausschaltung von Widerstandsnestern,<br />
die durch kontinuierlichen Waffenzufluss<br />
von außen damals immer wieder neu belebt worden waren.<br />
184<br />
Wie diese Entwicklung zeigt, kommt der Feind heute<br />
immer seltener von außen, dafür aber umso häufiger<br />
von innen. Kein Wunder, dass Hand in Hand damit die<br />
Berichterstattung immer kleinlauter – und geheimniskrämerischer<br />
– zu werden beginnt.<br />
179 Ebenda.<br />
180 Zu Umerziehungslagern vgl. SOAa, 1/1992, S.76 und zur Freilassung<br />
ehemaliger royalistischer Offiziere und Beamten aus Umerziehungslagern<br />
der LVA vgl. SOAa, 1/1992, S.75f.<br />
181 Dazu SOAa, 5/1984, S.426.<br />
182 Dazu SOAa, 1/1988, S.57ff. sowie 2/1988, S.140f.<br />
183 VT, 2.-4.12.03.<br />
184 Central-Europe, in www.iyp.org/archives, Meldungen vom<br />
3.6.00.
SÜDOSTASIEN aktuell - 264 - Mai 2004<br />
3.1.1.5.3<br />
Die wirtschaftliche Rolle der LVA<br />
Aber auch wirtschaftlich nimmt die LVA eine nach wie<br />
vor bedeutsame Rolle ein: Vor dem landwirtschaftlichen<br />
Hintergrund, dem die meisten Soldaten entstammen, ist<br />
es kein Wunder, dass die Streitkräfte immer schon auf<br />
landwirtschaftliche Selbst- oder zumindest Teilselbstversorgung<br />
eingestellt waren und dass sie auch heute noch<br />
Felder bebauen und Viehzucht betreiben. 185 Aus dem<br />
landwirtschaftlichen Humus wuchsen nach und nach auch<br />
immer größere industrielle und infrastrukturelle Projekte<br />
hervor, für die sich die Armee schon deshalb zuständig<br />
fühlte, weil sie als einzige Kraft im Lande imstande ist,<br />
auch die nötigen Produktions- und Verbindungsmittel<br />
(Lkw etc.) zur Verfügung zu stellen.<br />
Mittlerweile hat sie sich als Grundstücksentwicklerin,<br />
als Hotelbetreiberin und als Initiatorin für ein Großkühlhaus<br />
in Szene gesetzt, auch wenn sie dabei stets unter dem<br />
Siegel der Geheimhaltung vorzugehen versuchte. 186<br />
Außerdem ist sie längst zur Pionierin bei den Vorbereitungsarbeiten<br />
für das größte Bauprojekt der laotischen<br />
Geschichte, nämlich für den Staudamm Nam Theun II,<br />
geworden. 187<br />
Darüber hinaus steht sie als das eigentliche unternehmerische<br />
Element hinter der Mountaineer’s Areas Develpoment<br />
Corporation (MADC), die als solche nicht nur mit<br />
Staudamm-Projekten im Gebirgsgelände, sondern auch<br />
mit Forstmaßnahmen zu tun hat, angefangen von der<br />
Erschließung touristischer Areale bis hin zum Abholzen<br />
und zum Abtransport eingeschlagener Stämme, für die<br />
zumeist militärische Transportkapazitäten zur Verfügung<br />
stehen. Neben der MADC soll es noch mehrere ähnliche<br />
militärisch betriebene Entwicklungsgesellschaften geben.<br />
Sie alle entstanden in einer Zeit, als sich – Mitte der achtziger<br />
Jahre – die vietnamesischen und die sowjetischen<br />
Helfer nacheinander zurückzogen und das Militär überlegen<br />
musste, wie es sich fortan möglichst Gewinn bringend<br />
auf eigene Füße stellen könnte. Im Zuge solcher Überlegungen<br />
wurde damals nicht nur die Anzahl der Soldaten<br />
reduziert, sondern gleichzeitig unternehmerisches Denken<br />
entfaltet, zumal in diesen Jahren Reformbeschlüsse ergingen,<br />
denen zufolge die bisherige Planwirtschaft durch<br />
marktwirtschaftliche Elemente abgelöst werden sollte. 188<br />
Rohstofferschließung, Import von Autos und vor allem<br />
das Gewinn bringende Einschlagen wertvoller Hölzer entwickelten<br />
sich von da an zu neuen Betätigungsfeldern der<br />
LVA, die in einigen dieser Bereiche schließlich sogar eine<br />
Art Monopolstellung erlangen konnte.<br />
Da es vielfach, trotz der zur Verfügung stehenden militärischen<br />
Geräte, immer noch an technischen Kenntnissen<br />
fehlte, ging die MADC im Laufe der Jahre zahlreiche<br />
Joint Ventures mit Firmen aus Taiwan, Hongkong, Japan,<br />
China, Russland, <strong>Vietnam</strong> und den USA ein.<br />
Nur in Ausnahmefällen – und meist auch nur dann,<br />
wenn es darum geht, multilaterale Geldgeber zu beruhigen<br />
– tritt das Militär an die Öffentlichkeit und versucht,<br />
seine Forstpolitik zu rechtfertigen und ins rechte<br />
Licht zu rücken: Die MADC fälle nicht nur Bäume, son-<br />
185 Dazu VT, 17.-20.1.03.<br />
186 Dazu SOAa, 1/1997, S.57.<br />
187 Einzelheiten dazu ebenda.<br />
188 Zur MADC vgl. auch bereits SOAa, 1/1992, S.75.<br />
dern sorge auch für Neuanpflanzungen. In Zukunft würden<br />
überhaupt nur noch neue Bäume einschlagen. Was<br />
durch Abholzungen in der Nam-Theun-II-Gegend verloren<br />
gehe, werde an anderer Stelle kompensiert. Vorwürfen<br />
des IMF, dass nur Teile der Erlöse aus der Holzwirtschaft<br />
in die Staatskasse flössen, pflegt die MADC mit Abwiegelungsversuchen<br />
zu begegnen. 189<br />
3.1.1.5.3<br />
Die politische Rolle der LVA<br />
Da die Armee das beständigste Element und – genau genommen<br />
– auch die Hebamme der 1975 entstandenen LD-<br />
VR ist, braucht es nicht zu verwundern, dass politische<br />
und militärische Spitzenpositionen ursprünglich fast ganz<br />
miteinander verquickt waren und dass sie es zum Teil auch<br />
heute noch sind.<br />
Beim VI. Parteitag vom März 1996 bspw. waren nicht<br />
weniger als sechs Militärvertreter ins neunköpfige Politbüro<br />
gewählt worden, und zwar in der Reihenfolge 2, 3,<br />
4, 6, 8 und 9.<br />
Beim VII. Parteitag vom März 2001 bekleideten acht<br />
der insgesamt elf Politbüro-Mitglieder militärische Ränge<br />
oder hatten sie zumindest jahrzehntelang eingenommen.<br />
Allenfalls die Mitglieder 4, 9 und 11 lassen sich als Zivilisten<br />
bezeichnen.<br />
Die Führung des Landes liegt mit anderen Worten immer<br />
noch fest in den Händen der alten Bürgerkriegsgeneralität.<br />
190<br />
Dass die Armee unter diesen Umständen zu den<br />
Hauptträgern des politischen Prozesses in <strong>Laos</strong> gehört,<br />
bedarf nach alldem keiner weiteren Begründung.<br />
In der Tat vermag das Militär auf die übrige Gesellschaft<br />
beträchtlichen Druck auszuüben. Dies geht nicht<br />
zuletzt daraus hervor, dass die vormilitärische Ausbildung<br />
in sämtlichen Schulen nach wie vor zwingend ist. Ein Student<br />
betont dies mit folgenden Worten: „Jede Sekundarschule<br />
unterrichtet Militärkunde. Wenn wir da nicht mitmachen<br />
und (einschlägige Prüfungen) bestehen, erhalten<br />
wir kein Abschlusszeugnis... Wir wissen, wie man mit dem<br />
Gewehr umgeht und wie sich Soldaten (im Gelände) zu<br />
bewegen haben.“ 191 Ein anderer stellt sogar die Forderung<br />
auf, dass „jeder Jugendliche, der 18 Jahre alt wird,<br />
eine Zeitlang militärisch ausgebildet werden sollte“. 192<br />
Obwohl die Bevölkerung bereit ist, der LVA den Lorbeer<br />
der „Befreiung vom Kolonialismus“ zu überlassen,<br />
scheint das Militär insgesamt nicht in besonders hohem<br />
Ansehen zu stehen. Ein Offizier beklagt sich darüber, dass<br />
„die meisten Jugendlichen nicht der Armee oder der Polizei<br />
beitreten wollen“. 193 Oft hängt diese Aversion damit<br />
zusammen, dass man als Mitglied der LVA in die abgelegensten<br />
Gegenden geschickt wird und dies womöglich<br />
über viele Jahre. Ein 35-jähriger Arzt weist darauf hin,<br />
dass er eine Militärschule besucht habe und anschließend<br />
dem Krankenhaus Nr. 103 zugewiesen worden sei – weit<br />
weg von den Städten am Mekong. Viele Jugendliche wollten<br />
aus diesem Grund nicht Soldaten werden, müssten<br />
189 Bericht der NRO „One World“ in www.oneworld.org/ips2/Dezember<br />
1998/05.<br />
190 Ausführlich dazu SOAa, 3/2001, S.305f.<br />
191 VT, 17.-20.1.03.<br />
192 Ebenda.<br />
193 Ebenda.
SÜDOSTASIEN aktuell - 265 - Mai 2004<br />
aber verstehen, dass um die Pflicht, dem Vaterland als<br />
Soldat zu dienen, eigentlich kein Weg herumführe. 194<br />
3.1.2<br />
Verwirrende Sicherheitslage im Jahr 2003 – ein<br />
Rückblick<br />
I.J. 2003 ist es zu insgesamt vier Anschlägen gekommen,<br />
die als solche bekannt geworden sind. Möglicherweise handelt<br />
es sich bei ihnen aber nur um die Spitze des Eisbergs,<br />
da die Regierung bekanntlich dazu neigt, unangenehme<br />
Ereignisse lieber totzuschweigen, als sie coram publico kritisch<br />
zu verarbeiten.<br />
Am 6. Februar 2003 kam es 150 km nördlich von Vientiane<br />
zum Überfall auf einen Bus, in dessen Gefolge 13<br />
Tote und 49 Verletzte zu beklagen waren. 195 Terrorismus<br />
oder Raubmord? Diese Frage ist bis heute unbeantwortet<br />
geblieben.<br />
Am gleichen Tag ereignete sich in der zentrallaotischen<br />
Provinz Savannakhet (rund 500 km südlich von Vientiane)<br />
eine Bombenexplosion auf einem Markt, bei der allerdings<br />
niemand zu Schaden kam. 196<br />
Angeblich hatte es bereits zwei Tage früher, nämlich<br />
am 4.2., direkt neben dem Patouxai-Siegesmonument,<br />
d.h. dem „Arc de Triomphe“ von Vientiane, zwei Explosionen<br />
gegeben. Dabei soll es sich allerdings, wie das Außenministerium<br />
beschwichtigend mitteilte, lediglich um ein<br />
Feuerwerk gehandelt haben. 197<br />
Am 5. August kam es auf dem Morgenmarkt in Vientiane<br />
um die Mittagszeit zur Explosion einer in einem<br />
Abfallbehälter versteckten Bombe, bei der insgesamt zehn<br />
Personen, die auf ihren Bus warteten, zum Teil schwer verletzt<br />
wurden. 198 Die Stadtverwaltung lenkte den Verdacht<br />
auf Gruppenstreitigkeiten und vermutete Racheaktionen<br />
hinter der Tat – eine etwas willkürliche Spekulation!<br />
Am 1. November wurde die Hauptstadt erneut durch<br />
eine Explosion heimgesucht, bei der es allerdings keine<br />
Verletzten gab. Als Auslöserin meldete sich die „Freie Demokratische<br />
Volksregierung von <strong>Laos</strong>“, eine Oppositionsgruppe;<br />
es werde noch weitere Anschläge dieser Art geben,<br />
wenn die Demokratie in <strong>Laos</strong> nicht bald verwirklicht<br />
werde, hieß es in einem Fax, das am gleichen Tag im Bangkoker<br />
Büro des „Radio Free Asia“ (Lao Service) eintraf. 199<br />
Bereits in den Vorjahren, nämlich 2000, 2001 und 2002,<br />
war es zu ähnlichen Anschlägen gekommen. 200<br />
Die laotische Regierung konnte sich diesmal damit<br />
trösten, dass sich die Intensität der Anschläge i.J. 2003 bei<br />
weitem nicht mit derjenigen von 2000 vergleichen lässt, als<br />
Märkte und Restaurants, ja sogar Flughäfen heimgesucht<br />
wurden und als wesentlich mehr Verwundete zu beklagen<br />
gewesen waren. Damals hatten die Vorgänge auch weitaus<br />
konkretere Hinweise auf eine politische Krise geliefert. 201<br />
In der FAZ 202 hatte es bspw. geheißen: „Im Abstand von<br />
mehreren Wochen explodierten mindestens sechs Bomben<br />
in Vientiane. Auf dem neuen Flughafen, einem moder-<br />
194 Ebenda.<br />
195 Dazu SOAa, 3/2003, S.252f.<br />
196 N, 6.2.03, in BBC, 7.2.03.<br />
197 Ebenda.<br />
198 VT, 5.-7.8.03.<br />
199 FBIS/EAS, 4.11.03.<br />
200 SOAa, 3/2003, S.252.<br />
201 Dazu bspw. NfA, 16.8.00, FAZ, 5.12.00.<br />
202 FAZ, 5.12.00.<br />
nen Prachtbau, der nicht recht zu seiner armen Umgebung<br />
passen will, und in anderen Städten wurden weitere<br />
Sprengsätze gefunden. ... Niemand konnte sich daran<br />
erinnern, wann die kommunistische Führung seit der<br />
Machtübernahme im Jahre 1975 zum letzten Mal so offen<br />
herausgefordert worden war. Kündigte sich da das Ende<br />
eines der letzten Großversuche im real existierenden<br />
Sozialismus an? ... Die Regierung selbst tat erst einmal,<br />
was alle kommunistischen Staatsführungen in solchen Fällen<br />
zu tun pflegen, und versuchte, die Ergebnisse geheim<br />
zu halten; als das nicht gelang, machte sie ausländische<br />
Exilgruppen verantwortlich. In <strong>Laos</strong> werden in solchen<br />
Fällen immer erst einmal die Royalisten beschuldigt, die<br />
vor allem im Nachbarland Thailand und in Frankreich<br />
sitzen. ... Ausländischer Verbindungen beschuldigt werden<br />
von der Regierung üblicherweise auch die Hmong, ein<br />
widerspenstiges Völkchen, das in den nördlichen Bergen<br />
an der Grenze zu <strong>Vietnam</strong> lebt ... und schon während<br />
des <strong>Vietnam</strong>-Kriegs mit den Amerikanern zusammengearbeitet<br />
hat. Heute kämpfen sie gegen den hemmungslosen<br />
Teakholz-Abbau, der vom Militär organisiert wird<br />
und ihren Lebensraum zerstört. ... Die Bombenattentate<br />
könnten aber durchaus auch Ausdruck einer allgemeinen<br />
Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung mit der politischen<br />
und wirtschaftlichen Lage sein. ... Für das Regime<br />
könnte diese allgemeine Unzufriedenheit eine größerer<br />
Herausforderung sein, als alle Hmong und Royalisten<br />
zusammengenommen.“<br />
Spekulationen solcher Art, die damals auch in anderen<br />
Presseorganen auftauchten, erschienen zwar etwas willkürlich<br />
zusammengetragen, reichten aber aus, um die laotischen<br />
Behörden nervös zu machen und sie zu empörten<br />
Abwiegelungen zu veranlassen.<br />
Bereits im Juli 203 war damals bspw. auf der Titelseite<br />
der Vientiane Times ein Leitartikel erschienen, der den<br />
Titel trug: „<strong>Laos</strong> has no internal political disputs“ – wie<br />
könne da von Dissidententum oder gar von Revolution die<br />
Rede sein? Absurd sei es auch, von politischer Krise zu<br />
sprechen, habe <strong>Laos</strong> doch in den vergangenen Jahren so<br />
viele „positive Veränderungen“ erfahren, dass eher Optimismus<br />
angesagt sei. 204 In der Tat hätten die Explosionen<br />
bei der Bevölkerung keine Nervosität ausgelöst und seien<br />
überdies von westlichen Massenmedien „in bösartiger Absicht“<br />
übertrieben interpretiert worden.<br />
Im Jahr 2003 werden ähnliche Gegenargumente hervorgebracht;<br />
vor allem werden die Ursachen immer wieder<br />
als unpolitisch hingestellt.<br />
Gleichwohl erscheint es keineswegs übertrieben, wenn<br />
man aus Personalumstellungen an der Spitze der Regierung<br />
Rückschlüsse auf heimliche Sicherheitskalküle zieht:<br />
Bei der 4. Sitzung der gegenwärtigen Nationalversammlung,<br />
die vom 20. bis 21. Oktober 2003 dauerte, war<br />
z.B. Bouasone Bouphavanh zum stellvertretenden Ministerpräsidenten<br />
ernannt worden. Damit gab es von jetzt<br />
an vier Stellvertreter des Regierungschefs, die jeweils für<br />
bestimmte Aufgabenbereiche besonders zuständig sind,<br />
nämlich Asang Laoli (zuständig für die Fragen ethnischer<br />
Minderheiten, vor allem der Hmong), Thongloun Sisoulith<br />
(Wirtschaft und Wirtschaftsplanung), Somsavath Lengsa-<br />
203 VT, 28.-31.7.00.<br />
204 So ein weiterer Leitartikel in VT, 13.-15.6.00.
SÜDOSTASIEN aktuell - 266 - Mai 2004<br />
vad (Außenpolitik) sowie – eben – Bouasone Bouphavanh,<br />
der für Sicherheitsfragen zuständig sein sollte und mit seinen<br />
etwa 55 Jahren sowie seiner Zugehörigkeit zum Politbüro<br />
(seit März 2001) von ausländischen Beobachtern<br />
bereits als „aufsteigender Stern“ bezeichnet wird, zumal er<br />
seit März 2001 auch das Allgemeine Büro der LRVP leitet.<br />
Ausgebildet in der Sowjetunion, gilt er seit Jahren als<br />
enger Vertrauter von Staats- und Parteichef Khamtay. 205<br />
Übereinstimmend mit der neuen Sicherheitspolitik<br />
hatte das Außenministerium bereits im August 2003 mit<br />
Nachdruck den Beitritt der LDVR zu fünf internationalen<br />
Anti-Terrorismus-Konventionen befürwortet. 206<br />
Alles in allem sind die Bombenanschläge, wie sie sich<br />
2003 ereignet haben, für das Regime zwar nicht gefährlich,<br />
wohl aber ärgerlich, da sie bei den ausländischen Geldgebern<br />
immer wieder Zweifel an der Demokratisierung und<br />
an der Stabilität aufkommen lassen.<br />
3.2<br />
Wirtschaft<br />
3.2.1<br />
Die Wirtschaftsentwicklung bleibt hinter den Erwartungen<br />
zurück<br />
Das Haushaltsjahr dauert in <strong>Laos</strong> vom 1. Oktober bis zum<br />
30. September. Eigentlich wäre es also zumindest im Oktober<br />
2003 an der Zeit gewesen, dass die Regierung statistische<br />
Angaben geliefert hätte, zumal die V. Nationalversammlung<br />
vom 20. bis 21. Oktober 2003 ihre 4. Tagung<br />
abhielt.<br />
Konkrete Zahlenangaben blieben allerdings aus und<br />
wurden im Übrigen auch nach der Jahreswende 2003/2004<br />
nicht herausgegeben.<br />
Stattdessen erschien bei der NV-Oktobersitzung die<br />
nüchterne Meldung, dass die Planziele für den Zeitraum<br />
2002/2003 nicht hätten eingehalten werden können. Verfehlt<br />
worden seien ferner die Haushaltseinnahmen und<br />
auch die öffentlichen Investitionen seien hinter den Zielen<br />
zurückgeblieben. 207<br />
Von den Anfang 2002 verkündeten Parametern hätten<br />
bis zum Ende des Haushaltsjahrs 2002/2003 eigentlich<br />
zumindest drei Grundwerte eingehalten werden müssen,<br />
nämlich ein jährliches BIP-Wachstum von 7-7,5%, eine Inflationsrate<br />
von unter 10% und ein Haushaltsdefizit von<br />
unter 5% des BIP. Da das Verhältnis zwischen den drei<br />
Wirtschaftssektoren bis 2005 auf 47%:26%:27% hochgerechnet<br />
wurde, hätte es auch zu stärkeren Verschiebungen<br />
zwischen Landwirtschaft und Industrie sowie zwischen Industrie<br />
und Dienstleistungssektor kommen müssen. 208<br />
Das „Hofberichterstattungsblatt“ Vientiane Times<br />
hält es jedoch offensichtlich nicht für nötig, hier genaueres<br />
Zahlenmaterial auszuweisen.<br />
So bleibt dem außenstehenden Beobachter nichts anderes<br />
übrig, als eigene Schätzungen anzustellen und Zahlenreihen<br />
fortzuschreiben, wie sie sich seit der Jahrtausendwende<br />
abzeichnen.<br />
Danach scheint unter allen Zielen von 2002 lediglich die<br />
Inflationsquote eingehalten worden zu sein und weiterhin<br />
205 N, 3.10.03, in BBC, 3.10.03 und VT, 24.-27.10.03.<br />
206 VT, 15.-18.8.03.<br />
207 VT, 24.-27.10.03.<br />
208 Näheres dazu SOAa, 3/2002, S.250f.<br />
unter 10% zu liegen. Im Übrigen aber dürfte es gerechtfertigt<br />
sein, leichte Rückentwicklungen oder aber Stillstandsphänomene<br />
zu unterstellen: Das BIP bspw. dürfte, wie<br />
schon 2002, bei höchstens 6% liegen, die Inflationsrate bei<br />
8-9%, die Investitionen (gemessen am BIP) bei 21-22%,<br />
die Verschuldung zwischen 9% und 11% des BIP und das<br />
Handelsbilanzdefizit zwischen 7% und 8% des BIP. 209<br />
Angesichts des vermutlich schon zu Jahresbeginn 2003<br />
sich andeutenden ungünstigen Verlaufs darf es – im Rückblick<br />
– auch nicht verwundern, dass damals sowohl der<br />
Finanzminister als auch der Vorsitzende der Staatsbank<br />
ausgewechselt wurden. 210<br />
Nun ist ein Wachstum von immerhin rund 6% ganz<br />
gewiss keine Kleinigkeit. Doch musste die laotische Führung<br />
auch i.J. 2003 erneut zwei Einsichten beherzigen,<br />
nämlich dass die goldenen Jahre des Aufbruchs (1986ff.)<br />
spätestens seit der Asienfinanzkrise von 1997 der Vergangenheit<br />
angehören und dass sich, zweitens, allzu optimistische<br />
Prognosen (nämlich bspw. von Wachstumshöhen,<br />
wie sie denjenigen Chinas und <strong>Vietnam</strong>s gleichkommen)<br />
im Falle der LDVR nur schwer durchhalten lassen. Sowohl<br />
von den objektiven Wirtschaftsvoraussetzungen als<br />
auchvondenweichenFaktorendeswirtschaftlichenWertesystems<br />
her dürfte <strong>Laos</strong> mit den beiden konfuzianischen<br />
Vorbildern auf die Dauer kaum gleichziehen können.<br />
Nach einer fast elfjährigen Wachstumsperiode, die von<br />
der Einführung des „Neuen Ökonomischen Mechanismus“<br />
im Jahre 1986 bis zum Beginn der Asienfinanzkrise von<br />
1997 andauerte, hatte <strong>Laos</strong> im Durchschnitt p.a. fast 7%<br />
Zuwachs erzielen und gleichzeitig wichtige Reformvorstellungen<br />
umsetzen können, wie die Aufhebung der Preiskontrollen,<br />
die Privatisierung der meisten früheren Staatsunternehmen,<br />
die Einrichtung von Geschäftsbanken und<br />
die Zulassung ausländischer Investitionen. Während dieser<br />
Jahre konnte sich auch der Kip stabilisieren, blieb die<br />
Inflation in Grenzen und kam es, wie gesagt, zu einem<br />
kräftigen Wirtschaftswachstum. Zwischen Mitte 1997 und<br />
Mitte 1999 jedoch verlor der Kip plötzlich 80-90% seines<br />
Werts, und gleichzeitig ging die Wachstumsrate auf rund<br />
4% im Jahre 1998 zurück.<br />
Im Zeitraum zwischen 1996 und 1998 waren zu allem<br />
Überfluss auch noch die ausländischen Investitionen wieder<br />
stark zurückgegangen, wofür – von ausländischer Seite<br />
– allerdings nicht nur die verschlechterte wirtschaftliche<br />
Situation der LDVR, sondern auch zunehmender Bürokratismus<br />
verantwortlich gemacht wurde.<br />
Erst mit der wirtschaftlichen Wiederbelebung der Region<br />
Südostasien und dem Beitritt der LDVR zur ASEAN<br />
begann sich die laotische Wirtschaft wieder langsam zu erholen<br />
und wuchs 2000 um 5,9%, 2001 um 5,7% sowie 2002<br />
um 5,8%. 211<br />
Zum Teil konnte die Wiederbelebung auch mit wachsenden<br />
Umsätzen im Hydroenergiebereich sowie im Tourismus<br />
alimentiert werden.<br />
209 Vgl. auch ADB, Asian Development Outlook (ADO) 2003, Economic<br />
Trends and Prospects in Developing Asia, S.77.<br />
210 Dazu SOAa, 4/2003, S.359f.<br />
211 Ebenda.