Download - Gießener Allgemeine
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70 Zeitung heute und morgen<br />
Im Dienst für den Leser –Praxis und Perspektiven<br />
Nachts, wenn alles schläft, sind sie hellwach<br />
Im gesamten Verbreitungsgebiet sind mehr als 800 Austräger für Sie und uns auf Achse –Jede Menge spannender Begegnungen<br />
Emmi Theiß kennt in Merlau jeden Briefkasten. Nach für Nacht ist sie für die »<strong>Allgemeine</strong>« unterwegs.<br />
Die Glocke der Merlauer Kirche hat<br />
einen warmen Klang: Vier Uhr muss<br />
es jetzt sein. Die meisten Menschen<br />
in dem 1200-Seelen-Ort werden den<br />
Glockenschlag nichtgehörthaben.Als<br />
der Klang verhallt ist, dreht Emmi<br />
Theiß den Schlüssel inihrer Haustür<br />
um, schaltet die Außenbeleuchtung<br />
ein und tritt heraus auf die Treppe.<br />
»Guten Morgen, Sie sind ja früh da«,<br />
ruft sie mir munter zu. »Guten Morgen!<br />
Ja, hatte Bedenken, dass ich Sie<br />
verpasse.« Frau Theiß und ich sind<br />
verabredet. Ich möchte sie bei ihrer<br />
Tour durch Merlau begleiten. Es ist<br />
eine milde Nacht. Zeit, uns die Sterne<br />
anzuschauen, haben wir aber nicht.<br />
Emmi Theiß, –mit Kugelschreiber und<br />
Schere bewaffnet – legt sofort los,<br />
greift sich den Zeitungspacken, der<br />
auf der Bank vor ihr liegt. »Muss erst<br />
noch schnell zählen und sortieren.«<br />
»Ja, klar.« Neben der Bank steht eine<br />
bemalte Mülltonne. Sie ist meinem<br />
Blick gefolgt. »Darin deponiert der<br />
Fahrer die Zeitungen, wenn es regnet.«<br />
Hier wird nichts dem Zufall<br />
überlassen,denke ichnoch, da istFrau<br />
Theißschon aufdem Wegzum Nebengebäue.<br />
Betätigt den Schalter für den<br />
Antrieb des Garagentores, legt ihrem<br />
»Im Winter<br />
ist esschwer<br />
für mich«<br />
Schwiegersohn,der diezweiteMerlau-<br />
Tour fährt, Hinweiszettel und Zeitungen<br />
parat, startet ihren Kleinwagen,<br />
und schon geht es los. »Sitzen Sie vorne?«<br />
»Ja, würde ich schon gerne.« Ich<br />
darf neben ihr Platz nehmen und die<br />
Zeitungenhalten. Rund 80 Stückträgt,<br />
besser fährt Emmi Theiß jede Nacht<br />
aus. Bei Wind und Wetter, Eis und<br />
Schnee,imSommerwie im Winter.Sie<br />
ist74Jahre alt. Bald möchte siekürzertreten<br />
mit dem Job, der ihre Rente aufbessert,<br />
der ihr aber auch –trotz aller<br />
Strapazen – viel Freude macht. Die<br />
Strecke kennt sie imSchlaf, und ihre<br />
Kunden auch, weiß, dass einige davon<br />
sich früh auf den Weg zur Arbeit machen.<br />
Die müssen zuerst beliefert werden,<br />
damit sie im Zug die »<strong>Allgemeine</strong>«<br />
lesen können.<br />
Noch haben wir die Straße ganz für<br />
uns alleine. »Manche haben ihre Zeitungsbox<br />
soweit weg von der Straße<br />
angebracht. Jetzt imSommer geht es,<br />
aber im Winter ...« Ich ahne, was sie<br />
noch sagen wollte, aber erst eimmal<br />
muss sie weit ineinen Hof hinein. Sekunden<br />
später kehrt sie aus der Dunkelheit<br />
zurück. »Im Winter ist es<br />
schwer für mich. Der lange Weg ist<br />
nicht das Schlimmste, aber die Glätte,<br />
der Schnee.« Sie ist wieder ineinem<br />
Hof verschwunden. Irgendwo in der<br />
Ferne bellt ein Hund. Und Katzen gibt<br />
es in Merlau offenbar eine ganze Menge.<br />
Zwölf habe ich schon gezählt.<br />
»Manchmal treffe ich Spätheimkehrer,<br />
vorallem in derKarnevalszeit,«erzählt<br />
Emmi Theiß und lacht. Ich weiß, was<br />
sie damit sagen will. Heute treffen wir<br />
nur den Träger des Konkurrenzblattes.<br />
Weiter geht’s. Die Unterhaltung ist<br />
kurzweilig. Wir verstehen uns, stellen<br />
fest, dass wir gemeinsame Bekannte<br />
haben. Auch aus meinem Dorf kennt<br />
sieeineMenge Leute.<br />
»Wenn ich jetzt nach Hause komme,<br />
schau ich erst mal indie Zeitung. Die<br />
›<strong>Allgemeine</strong>‹ ist eine sehr gute Zeitung.«Ich<br />
stimme ihr freudigzu. »Und<br />
wenn ich den ersten Teil gelesen habe,<br />
lege ich mich noch für ein Stündchen<br />
hin.« Das kann ich gut verstehen. Ertappe<br />
mich zum wiederholten Mal dabei,<br />
dass ichgähne.Was soll Frau Theiß<br />
von mir denken. Was es auch immer<br />
ist, sie lässt sich nichts anmerken. Gegähnt<br />
hat sie noch nicht. Wieder steigt<br />
sie aus dem Auto, zieht sich ander Tür<br />
hoch.Der Zeitungspackenauf meinem<br />
Schoß ist deutlich kleiner geworden.<br />
Wir sind auf der Hauptstraße angekommen.<br />
»Hierwohnt unserVertriebschef«,<br />
sage ich. »Weiß ich doch«, sagt<br />
sei. Natürlich weiß sie das, wie peinlich.<br />
Der Schwiegersohn werde nun<br />
bald einenTeilihrer Tour mitübernehmen,<br />
erwähnt sie noch beiläufig. Gut,<br />
denke ich, sehr gut, esbleibt inder Familie,<br />
besser können wir es nicht haben.<br />
»Gut,sehrgut«, sage ich.<br />
Meine verstorbene Cousine habe früher<br />
auch Zeitungen ausgetragen –in<br />
Lardenbach, erzähle ich noch. Dass<br />
Frau Theiß meine Cousine kannte,<br />
wundert mich nicht. Die Tour ist zu<br />
Ende, 80Zeitungen inknapp 60 Minuten.<br />
Viel gehört, viel gesehen. Einen<br />
Menschen kennengelernt, der seinen<br />
Job ernst nimmt, der zuverlässig ist,<br />
der mitdenkt. »Das Geld allein ist es<br />
nicht«, sagt sie ganz unvermittelt. Ich<br />
weiß. »Glaube ich Ihnen, und danke,<br />
dass ich mitfahren durfte.« Sie lächelt.<br />
Habe Respekt vor dieser Frau, die<br />
sechs Tage in der Woche um vier Uhr<br />
das Haus verlässt und sich auf den<br />
Wegmacht.Weilich schonmal aufden<br />
Beinen bin, fahre ich auf einen Hügel<br />
in der Nähe und warte auf den Sonnenaufgang.Schön,sofrühauf<br />
zu sein.<br />
Wenn ich bloß nicht so müde wäre...<br />
Was Frau Theiß wohl zu unserer Zeitungvon<br />
heutesagen wird?<br />
Eine zweite langjährige<br />
Partnerschaft: Mit der<br />
»Wetterauer Zeitung«<br />
Blutüberströmt öffnet der Nachtpor–<br />
tier die Pforte des Parkhotels. »Wärst<br />
du doch fünf Minuten früher gekommen,<br />
dann hättest dumir helfen können«,sagtder<br />
Mann zu Peter Riehl, der<br />
wiejeden Morgen in demHotel Zeitungenabliefernwill.Der<br />
Hotelangestellte<br />
ist gerade überfallen worden, mit einem<br />
Baseballschläger haben Unbekannte<br />
auf ihn eingeschlagen. »Um<br />
ehrlich zusein: Ich war froh, dass ich<br />
nicht fünf Minuten früher da war.<br />
Sonst hätte ich auch noch etwas abbekommen«,<br />
erzählt der 53-jährige Riehl<br />
über dieNacht,die sich vorzehnJahren<br />
am Kurpark abgespielt hat. Bei seinen<br />
morgendlichen Touren hat der Austräger<br />
der »Wetterauer Zeitung« schon<br />
viel erlebt, genauso wie seine Frau<br />
Gudrun. Auch sie verlässt jede Nacht<br />
das Haus, damit die Bad Nauheimer<br />
rechtzeitig zum Frühstück ihre Zeitung<br />
lesen können. Die heute 50-Jährige<br />
war 14, als sie den drei Jahre älteren<br />
Peter kennenlernte. »Mein Vater war<br />
zur Kur in Bad Nauheim, über die Kirchengemeinde<br />
habe ich Peter kennengelernt«,<br />
erinnert sich dieWZ-Mitarbeiterin.Das<br />
Mädchenaus derLüneburger<br />
Heide kam häufiger indie Kurstadt, irgendwann<br />
funkte es. Vier Jahre später<br />
warendie beiden einEhepaar.<br />
Einige Zeit danach gingen die beiden<br />
ihre zweite langjährige Partnerschaft<br />
ein: mit der »Wetterauer Zeitung«.<br />
»Mein Mann hatte sich gerade selbstständig<br />
gemacht, da dachte ich mir,<br />
eine Absicherungkannnicht schaden.«<br />
Daswar 1986,imvergangenenJahrfeierte<br />
Gudrun Riehl ihr 25-jähriges<br />
Dienstjubiläum. Ihr Mann fing etwa<br />
zur gleichen Zeit mit dem Austragen<br />
an,zuerstinVertretung, 1996 erhielter<br />
seinen eigenenBezirk. Undsomit begeben<br />
sich die Riehls stets gemeinsam<br />
auf Austrägertour. »Ich stehe um halb<br />
drei auf, packe die Zeitungen ein und<br />
bringe mit dem Fahrrad den ersten<br />
Schwungweg.Das istmeinFitnessprogramm«,<br />
erzählt Gudrun. »Ich bleibe<br />
noch ein bisschen liegen, stehe erst so<br />
gegenhalbvierauf«, ergänztihr Mann.<br />
Nach dem Kaffee setzen sich die beiden<br />
ins Auto und liefern täglich rund<br />
250 Exemplareder WZ aus.<br />
BiszudreiStundensinddie Riehls Tag<br />
für Tag unterwegs. Und erleben viel:<br />
»Einmal habe ich einen verwirrten alten<br />
Mann eingefangen, der nur in Unterhose<br />
vor der ehemaligen Parkinsonklinik<br />
umherirrte.« Die 50-Jährige<br />
schnapptesichden Senior,wickelte ihn<br />
in eine Decke und brachte ihn zurück<br />
in die Klinik. Da Gudruns Schicht beginnt,<br />
wenn die Kneipen schließen,<br />
kommt es unweigerlich zu Zusammenstößen<br />
mit Betrunkenen. Und so zieht<br />
die Bad Nauheimerin schon mal eine<br />
Alkoholleiche aus den Hecken. Für die<br />
taffeFraukeinProblem. An dieNieren<br />
ging ihr hingegen ein Ereignis vor<br />
zehn Jahren. Wie jede Nacht wollte<br />
Gudrun auch am 7. Juni 2002 ihre Zeitungen<br />
austragen. Als sie gegen 3Uhr<br />
in die Franz-Groedel-Straße einbog,<br />
traf sie auf ein riesiges Polizeiaufgebot<br />
samt LKA-Ermittler und Sprengstoffexperten.»WasmachenSie<br />
hier?«,fragte<br />
einer der Beamten die Austrägerin.<br />
»Wonachsieht es denn aus?«, entgegnete<br />
sie und zeigte auf ihre Tasche voller<br />
Zeitungen. Der Beamte sagte ihr, sie<br />
»Man bekommt nachts<br />
Sachen zu sehen,<br />
die sonst keiner sieht«<br />
solle die Zeitung einwerfen und verschwinden.<br />
Später erfuhr sie, was sich<br />
in demHausabgespielthat:Ein 50-Jährigerhatte<br />
seineLebensgefährtin erstochen<br />
und danach versucht, sich das<br />
Lebenzunehmen.<br />
Trotz dieser Erlebnisse lieben die<br />
Riehls ihre Jobs. Das liegt vor allem an<br />
den Abonnenten, zudenen die beiden<br />
ein gutes Verhältnis pflegen. »Alle haben<br />
unsere Telefonnummer, falls mal<br />
was ist«, erzählt Peter. Und so kommt<br />
es schon mal vor, dass sich die WZ-Leser<br />
bei dem Austräger-Duo melden,<br />
wenn etwasvermeintlichnicht in Ordnung<br />
ist. »Herr Riehl, woist denn meine<br />
Zeitung?«, fragte beispielsweise<br />
jüngst ein Abonnent. Der 53-Jährige<br />
klärte auf: »Heute ist doch Feiertag.«<br />
Doch derBad Nauheimergenießt nicht<br />
nurden Kontaktmit denMenschen. Es<br />
ist auch die Atmosphäre, die herrscht,<br />
wenn dieNacht zumTagewird. »Dann<br />
istesunglaublich ruhig, manbekommt<br />
Sachen zu sehen, die sonst keiner<br />
sieht«, schwärmt er. Rehe, Marder,<br />
Waschbären und Füchse begegnen<br />
ihm regelmäßig aufseinenTouren. Ein<br />
Höhepunkt sei der alljährliche Meteoritenschauer<br />
derPerseiden.»Lichtspektakel<br />
am Himmel«, titelte dieWZbeim<br />
jüngsten Sternschnuppenregen. Peter<br />
Riehl war hautnah dabei, viele Bad<br />
Nauheimer erfuhren davon aus der<br />
Zeitung. Nicht zuletzt dank dem täglichen<br />
Einsatz von Gudrun und Peter<br />
Riehl.<br />
Burkhard Bräuning<br />
ChristophHoffmann<br />
Privat und als AusträgerDuo ein Team: Das Ehepaar Gudrun und Peter Riehl ist jede Nacht für die Leser der<br />
»Wetterauer Zeitung« auf Tour.