Download - Gießener Allgemeine
Download - Gießener Allgemeine
Download - Gießener Allgemeine
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
44 Neue Medien<br />
Vom Bleisatz zum Ganzseitenumbruch<br />
Zwölf Punkt sind ein Cicero<br />
…und der Brehm kennt keine Bleilaus.<br />
Mitte der 1970er war es, dass auch im Verlag<br />
dieser Zeitung der Anfang vom Ende der Ära<br />
Gutenberg begann. Die bewegliche Letter und<br />
der maschinell gesetzte Grundtext aus Blei<br />
räumten das Feld, machten Platz für den<br />
Fotosatz, der Buchdruck hatte alsbald dem<br />
Offsetdruck zuweichen. Ja, alles wurde »sauberer«,<br />
niemand musste mehr Bleibuchstaben<br />
anfassen oder sich ander Abziehpresse mit<br />
Druckerschwärze Finger und Klamotten »einsauen«.<br />
Mehr und mehr verschmolzen –bis in die<br />
Gegenwart hinein –ehedem hintereinander<br />
gelagerte Abläufe zusimultan gestalteten<br />
Arbeitsgängen.<br />
Verschwunden die Hand- und Maschinensetzer,<br />
die Seiten bauenden oder (tags darauf) ablegenden<br />
Metteure, die Stereotypeure ander<br />
Maternpresse und inder Druckplattengießerei,<br />
die Lithografen, die im Ätzverfahren aus Fotos<br />
oder Grafiken Druckvorlagen fertigten.<br />
Fotos: Karl-Heinz Brunk<br />
Blick in die Gebrauchsdrucksachen-Setzerei des Verlages, fotografiert im Winter 1970/71. Setzkästen mit<br />
den Buchstabenlettern, die Regale für Stege und Regletten, die Schiffe, auf denen einzelne Seiten produziert<br />
wurden, Winkelhaken als Handwerkszeug –alles Geschichte.<br />
Gott grüß die Kunst<br />
Die Produktion einer Zeitung konnte man früher sehen, hören, riechen, ertasten<br />
Wer mit dem Desktop-Publishing groß geworden<br />
ist, wer also in den vergangenen 20 Jahren den<br />
Beruf eines Mediengestalters erlernte und<br />
damit das Gestalten druckreifer Publikationen<br />
am (elektronischen) Schreibtisch, dem erschloss<br />
sich nicht mehr die große Welt der<br />
ehrbaren Kunst Gutenbergs.<br />
Unabdingbar ehedem als Werkzeug der Winkelhaken,<br />
das Typometer, eine Ahle, Kolumnenschnur<br />
und Lassoband, ein Schiff zum Bauen<br />
der Druckvorlagen, ein Fadenzähler. Alle Schriftgrößen<br />
hatten eigene Namen: Nonpareille<br />
(»Nomprell«) für sechs Punkt Kegel, Petit für<br />
acht, Corus, Cicero, Tertia, Text. Und überhaupt:<br />
Das Metrische spielte keine Rolle. (Allenfalls bei<br />
den Papiergrößen. Eine Postkarte misst eben<br />
10,5 mal 14,8 Zentimeter, ein Briefbogen 21<br />
mal 29,7.)Das buchstäbliche Maß der Dinge<br />
war der Punkt (0,375 mm), die nächst größere<br />
Einheit das Cicero (12 Punkt), die weitere ein<br />
Konkordanz (48 Punkt). Den Zeilenabstand<br />
nannte man Durchschuss, erzielt durch eingefügte<br />
Regletten, andere nicht druckende Teile<br />
hießen Stege.<br />
Nicht genug des »Setzerlateins«, der Begrifflichkeiten<br />
aus der Welt der Schwarzen Kunst.<br />
Spatien waren dazu da, Zeilen haarscharf und<br />
nicht grobschlächtig auf volle Breite zu bringen<br />
immer mit Blick aufs Fleich eines Buchstabens.<br />
Hurenkinder und Schusterjungen hatte man<br />
tunlichst zu vermeiden.<br />
Und wie war das noch mit der Bleilaus, die der<br />
Stift ineiner Setzerei meist schon nach wenigen<br />
Tagen kennenlernte? InBrehms Tierleben<br />
steht darüber kein Wort. Das »Tier« ist ausgestorben<br />
–mit dem Bleisatz, weil niemand mehr<br />
ein Setzerschiff mit etwas Wasser füllt und den<br />
Youngster ermutigt, ganz nahe ranzugehen, um<br />
die vermeintlichen Einzeller sehen zu können…<br />
Es warein TagimSommer1970, als ein<br />
gerade 17-Jähriger vom Land auszog,<br />
um in der großen Stadt ein Jünger der<br />
schwarzen Kunst zuwerden. Schriftsetzer<br />
das Berufsziel, der Verlag der<br />
ehemaligen »<strong>Gießener</strong> Freien Presse«<br />
derAusbildungsbetrieb. Zu denIdolen<br />
der Gegenwartskultur gesellten sich<br />
bei ihm ganz schnell neue, nunmehr<br />
beruflich motivierte Vordenker und<br />
Vorbilder: Was den Mediengestaltern<br />
von heute die Bill Gates, Steve Jobs<br />
undCosind, daswaren ihm fortanein<br />
Herr namens Johannes Gensfleisch,<br />
genannt Gutenberg, und ein gewisser<br />
Ottmar Mergenthaler. Der eine im 15.<br />
Jahrhundert der Erfinder der beweglichen<br />
Letter, womit er eine Medienrevolutionauslöste(undder<br />
Aufklärung<br />
auf die Sprünge half), der andere 1884<br />
der Erfinder der Linotype-Setzmaschine,<br />
die einen »Quantensprung« in<br />
derProduktionvon Büchernund –sic!<br />
–Zeitungendarstellte. Vordem jungen<br />
Mann tat sich mit dem ersten Tag als<br />
»Stift« eine völlig neue Welt auf, ein<br />
faszinierendes handwerkliches Universum.<br />
Setzer und Drucker –sie hatten<br />
ein hohes Ansehen in der Gesellschaft,<br />
verschafften sie doch erst dem<br />
geschriebenenund demgesprochenen<br />
Wort Geltung, Reichweite, Gehör.<br />
Ohne sie hätten all die gescheiten<br />
Gedanken nicht unter die Leute kommen<br />
können. Setzer und Drucker –<br />
Die spannendsten<br />
Arbeitsplätze waren<br />
jene der Metteure<br />
Die Textmettage –Schnittstelle von Technik und Redaktion.<br />
sie nannten sich Jünger Gutenbergs.<br />
Schwarze Kunst war ihr Metier –und<br />
sie folglich Künstler. Ihr Motto: Gott<br />
grüß die Kunst!<br />
Das ist bis heute nicht zuhoch gegriffen,<br />
nicht überzogen bewertet. Drucksachen-<br />
und Zeitungsgestaltung folgen<br />
einem erlernbaren Regelwerk,<br />
aber dies anzuwenden gelingt nur<br />
dem gut, der die Gene insich trägt:<br />
Der Goldene Schnitt als ein mögliches<br />
Beispiel, den muss man imGefühl haben,<br />
den kann man nicht pauken –<br />
nicht minder die ganz bewussten Ableitungen<br />
davon.<br />
Zur Lehre in der Akzidenz-, der Gebrauchsdrucksachen-Setzerei<br />
gesellte<br />
sich ganz schnelldie Arbeit in derZeitungsproduktion.<br />
Und nicht minder<br />
schnell spürte der Knabe, dass diese<br />
Arbeit viel sinnliches Erleben mit sich<br />
bringt. (VonVergnügen soll nicht die<br />
Rede sein, war’s aber bisweilen auch.)<br />
Das Zeitungmachen konnte man sehen,<br />
hören, riechen, ertasten, fühlen.<br />
Überall imHaus roch esnach Farbe<br />
und Papier. Zum Setzen von Überschriften<br />
–dank Mergenthaler besorgten<br />
die Maschinensetzer die Grundtextproduktion<br />
– bedurfte es des<br />
blinden Zugreifens indie Setzkästen<br />
mit den Buchstaben. Wehe, man hatte<br />
dieZeitungvon gesternliederlich»abgelegt«,<br />
Lettern indie falschen Kästen<br />
geworfen sowie die nicht druckenden<br />
Reglettenund Stegeinnicht zutreffende<br />
Regale. Dasetzte es schnell einen<br />
Anpfiff –und beinächster Gelegenheit<br />
bekam man die Bleilaus zu Gesicht…<br />
Die spannendsten Arbeitsplätze waren<br />
jene der Metteure, die in der<br />
Hierarchie der Setzer weit oben standen:<br />
Sie fügten allabendlich (und oft<br />
bis weit indie Nacht hinein) Textspalten,<br />
Überschriftenund dieFlächen für<br />
Abbildungen zuganzen, nur spiegelbildlich<br />
lesbaren Seiten zusammen.<br />
Mal lief dies reibungslos ab, vielfach<br />
aber war eshektisch –jenach Nachrichtenlage.<br />
Der Umbruch –eine Königsdisziplin.<br />
Die Bleilaus ist tot, Gutenberg Geschichte.<br />
Wer kennt noch Mergenthaler?<br />
Und der Setzerstift von 1970? Er<br />
überlebte –als Redakteur.<br />
Norbert Schmidt