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Der Mensch ist, was er isst - Gesellschaft für kritische Philosophie

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auch nicht, dass es unt<strong>er</strong> allen Sinnen<br />

insbesond<strong>er</strong>e d<strong>er</strong> Sinn des Geschmacks <strong>ist</strong>,<br />

welch<strong>er</strong> die Wahrheit d<strong>er</strong> Individualität<br />

kundzutun v<strong>er</strong>mag. Dem Geschmackssinn<br />

hat man „das Recht auf Individualität nicht<br />

streitig gemacht, wie d<strong>er</strong> allgemein an<strong>er</strong>kannte<br />

Satz: ‹De gustibus non est disputandum›,<br />

sattsam bewe<strong>ist</strong>.“ (Üb<strong>er</strong> Spiritualismus<br />

und Mat<strong>er</strong>ialismus, a.a.O.: 105)<br />

Dies<strong>er</strong> faktische Subjektivismus des Geschmacks<br />

schließt im Prinzip jedoch nicht<br />

aus, dass auch eine delikate Speise, mithin<br />

jedes köstliche Produkt d<strong>er</strong> v<strong>er</strong>fein<strong>er</strong>ten<br />

Kochkunst genauso gut, wie konventionell<strong>er</strong>weise<br />

die gemeine Hausmannskost,<br />

zum Objekt eines gemeinschaftlichen<br />

Geschmacks w<strong>er</strong>den kann, insof<strong>er</strong>n<br />

die Individualität des Urteils sich nicht nur<br />

in d<strong>er</strong> V<strong>er</strong>schiedenheit (Partikularität) d<strong>er</strong><br />

Beurteilung, sond<strong>er</strong>n auch in ein<strong>er</strong> Üb<strong>er</strong>einstimmung<br />

mit and<strong>er</strong>en (Konvivialität)<br />

bestehen kann. 12 Deshalb „hat und macht<br />

d<strong>er</strong> Geschmack nicht wenig<strong>er</strong> Anspruch<br />

auf Allgemeingültigkeit als die übrigen<br />

Sinne.“ (ebd.) In diesem Kontext gibt Feu<strong>er</strong>bach<br />

eine Anekdote aus d<strong>er</strong> altchinesischen<br />

<strong>Philosophie</strong> wied<strong>er</strong>. So habe d<strong>er</strong><br />

nach Konfuzius größte Philosoph Chinas<br />

Menzius gesagt, ein Beamt<strong>er</strong> aus Thsi<br />

unt<strong>er</strong> dem Fürsten Wen-kong, ein b<strong>er</strong>ühmt<strong>er</strong><br />

Speisekünstl<strong>er</strong> namens Y-ya, hätte zu<br />

finden gewußt, <strong>was</strong> allgemein dem Munde<br />

gefällt. Wäre sein Geschmacksorgan<br />

durch seine Natur von dem d<strong>er</strong> and<strong>er</strong>n<br />

<strong>Mensch</strong>en v<strong>er</strong>schieden gewesen wie von<br />

dem d<strong>er</strong> Hunde und Pf<strong>er</strong>de, die nicht mit<br />

uns d<strong>er</strong>selben Gattung sind, wie würden<br />

dann alle <strong>Mensch</strong>en des Reichs in Sachen<br />

des Geschmacks mit Y-ya üb<strong>er</strong>einstimmen?<br />

Jed<strong>er</strong>mann hätte ab<strong>er</strong> in Betreff d<strong>er</strong><br />

Genüsse mit Y-ya denselben Geschmack,<br />

weil d<strong>er</strong> Geschmackssinn bei allen <strong>Mensch</strong>en<br />

ähnlich sei. (vgl. Spiritualismus und<br />

Mat<strong>er</strong>ialismus, a.a.O., 105) Mit and<strong>er</strong>en<br />

Worten: Die Individualität des Geschmackssinns<br />

schließt eine int<strong>er</strong>subjektive<br />

Objektivität (subjektive Allgemeinheit)<br />

d<strong>er</strong> Beurteilung nicht aus; an ihr haftet jedoch<br />

die Gefahr ein<strong>er</strong> Borni<strong>er</strong>theit, welche<br />

die eigenen Erfahrungen und subjektiven<br />

Präf<strong>er</strong>enzen unkritisch und unbegründet<br />

als Allgemeines and<strong>er</strong>en (und wid<strong>er</strong><br />

d<strong>er</strong>en Erfahrungen und p<strong>er</strong>sönlichen<br />

Präf<strong>er</strong>enzen) aufnötigt. In diesem Fall gilt,<br />

wie Feu<strong>er</strong>bach feststellt: „Jed<strong>er</strong> glaubt<br />

dah<strong>er</strong>, daß, <strong>was</strong> ihm wohlschmeckt und<br />

wohlbekommt, das müsse notwendig auch<br />

den and<strong>er</strong>n wohlschmecken und wohlbekommen,<br />

und findet darum den Wid<strong>er</strong>spruch<br />

d<strong>er</strong> Erfahrung mit dies<strong>er</strong> sein<strong>er</strong><br />

Voraussetzung <strong>für</strong> ‹rein unbegreiflich›. Ja,<br />

d<strong>er</strong> nicht üb<strong>er</strong> sich selbst hinaus denkende,<br />

ohne Kritik und Unt<strong>er</strong>scheidung von<br />

sich auf and<strong>er</strong>e schließende <strong>Mensch</strong> wendet<br />

das compelle intrare (‘Nötige sie, h<strong>er</strong>einzutreten’)<br />

d<strong>er</strong> alleinseligmachenden<br />

Kirche auch auf die Speis<strong>er</strong>öhre an“. 13<br />

Diesem borni<strong>er</strong>ten Subjektivismus im begriffslosen<br />

Geschmacksurteil hält Feu<strong>er</strong>bach<br />

einen gastrosophischen Pluralismus<br />

entgegen, d<strong>er</strong> die Möglichkeit d<strong>er</strong> individuellen<br />

(geschmacksästhetischen) Freiheit<br />

respekti<strong>er</strong>t, dass manche „von dem Genusse<br />

einig<strong>er</strong> Kirschen od<strong>er</strong> Johannisbe<strong>er</strong>en<br />

üb<strong>er</strong> und üb<strong>er</strong> schwellen“ und and<strong>er</strong>e Individuen,<br />

denen „d<strong>er</strong> Kuchen ein Brechmittel<br />

<strong>ist</strong>“ und wied<strong>er</strong> and<strong>er</strong>e „Individuen,<br />

die sogar das liebe heilige Brot nicht<br />

essen und v<strong>er</strong>tragen können“. (Spiritualismus<br />

und Mat<strong>er</strong>ialismus, a.a.O.: 106)<br />

Mithilfe dies<strong>er</strong> <strong>für</strong> die Gastrosophie zentralen<br />

Unt<strong>er</strong>scheidung zwischen d<strong>er</strong> prinzipiellen<br />

Wahrheitsfähigkeit und Allgemeingültigkeit<br />

von freien Geschmacksurteilen<br />

ein<strong>er</strong>seits und dem präf<strong>er</strong>enziellen<br />

Subjektivismus individuell<strong>er</strong> Speise- und<br />

Aufklärung und Kritik 1/2004 122

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