Artikel lesen (PDF) - Globetrotter
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Unterwegs durch drei Staaten Europas, von denen es einen gar nicht gibt<br />
Text und Fotos: Markus Siegfried und Daniel B. Peterlunger<br />
Moldawien? Die meisten raten von einem Besuch ab. Transnistrien? Nie gehört, so die Reaktion im Freundeskreis.<br />
Ukraine? Ach ja, soll aussergewöhnlich sein, Orange Revolution und so. In diesen drei kontrastreichen Ländern<br />
mit sowjetischer Vergangenheit gibt es viel zu entdecken: bezaubernde Landschaften, eigenartige Sitten, schöne<br />
Klöster und – ausser Ludmilla – freundliche und faszinierende Menschen.<br />
Chisinau?» Die Check-in-<br />
Angestellte im Flughafen<br />
Zürich fragt stirnrunzelnd:<br />
«Wo liegt das?»<br />
Fängt gut an. Moldawien<br />
liegt in Südosteuropa, die<br />
Hauptstadt erreicht man<br />
via Wien in zweieinhalb Flugstunden. In Europas<br />
Armenhaus – das ist es laut Statistik –<br />
leben etwa vier Millionen Einwohner. Was die<br />
Medien über das unbekannte Land in Südosteuropa<br />
berichten – falls sie etwas melden –,<br />
macht nicht Mut: Von mafiösen Strukturen,<br />
Korruption, Organexport, Schmuggel und<br />
Frauenhandel ist die Rede. Als wäre das noch<br />
nicht genug, zeichnet sich Moldawien auch<br />
noch durch das vollständige Fehlen touristischer<br />
Sehenswürdigkeiten aus. Ein touristisches<br />
Unding, ein Alptraum für Touristiker.<br />
Also: nichts wie hin!<br />
Plattenbauten à discrétion. Noch auf dem<br />
Flugfeld des überraschend modernen Flughafens<br />
von Chisinau drückt uns die Airline-Angestellte<br />
aufmunternd einen Stadtplan in die<br />
Hand. Nette Geste. Dann zeigt sie uns den<br />
Weg zu den Geldwechslern. Euros wechselt<br />
man problemlos in örtliche Lei.<br />
Mit dem Stadtplan in der Hand treten wir<br />
die dreissigminütige Fahrt ins Stadtzentrum<br />
an. In sowjetisch geprägten Städten – Moldawien<br />
war bis 1991 Teil der UdSSR – sind die<br />
von Plattenbauten gesäumten Strassen meist<br />
fadengerade, kreuzen sich in rechten Winkeln,<br />
hier und dort stehen martialisch aussehende<br />
Heldenstatuen oder andere kommunistisch<br />
inspirierte Betonscheusslichkeiten. Das alles<br />
macht die Orientierung einfach. So auch in<br />
Chisinau. Die Fahrt ist abschnittsweise wie<br />
ein Zeitsprung: zurück in die Sowjetunion.<br />
Aber auch Neuzeitliches gibts: Wo früher<br />
langweilige Schaufenster gähnten, glänzen<br />
56 GLOBETROTTER-MAGAZIN sommer 2009
osteuropa<br />
jetzt Werbeplakate für Billigflüge nach Moskau<br />
und in die Türkei.<br />
Im Zentrum steht das Hotel Chisinau. Geschlossen.<br />
Ebenso das grösste Hotel, das National.<br />
Seit Monaten wird renoviert, der Eröffnungstermin<br />
steht in den Sternen. Doch es ist<br />
bereits streng bewacht von Sicherheitsleuten.<br />
Unweit des Bahnhofs, beim Reiterstandbild,<br />
ragt das Hotel Cosmos imposant zweiundzwanzig<br />
Stockwerke hoch in den blauen<br />
Himmel. Der sowjetisch inspirierte Hotelname<br />
verspricht und hält, was wir erwarten:<br />
Rote Teppiche im dunklen Eingangsbereich,<br />
ein düsteres Treppenhaus, zwei klapprige Aufzüge<br />
und an der Rezeption Natalia, die uns<br />
mit einem professionellen Lächeln Schlüssel<br />
Nr. 619 überreicht. Er passt zu einem schlichten,<br />
aber sauberen Zimmer mit Balkon: Ausblick<br />
auf noch mehr Plattenbauten.<br />
Rolls-Royce, Gambler und Trainingsanzüge.<br />
Samstagabend auf dem grossen Boulevard<br />
«Stefan del Mare». Junge Leute und Familien<br />
flanieren entlang der Strasse und bewundern<br />
die Auslagen neuer Boutiquen, bevor sie einfache<br />
Restaurants in schäbigen Nebenstrassen<br />
aufsuchen. Im Café Nistru hingegen trinken<br />
muskulöse Männer mit Bürstenhaarschnitt<br />
Bier und spielen demonstrativ mit den Schlüsseln<br />
ihrer falsch parkierten Autos: Vor dem<br />
Lokal stehen ein brandneuer Rolls-Royce und<br />
ein schwarzer Hummer. Kioske bieten internationale<br />
Zigarettenmarken unverschämt billig<br />
an: Schmuggelware? Ein paar Schritte weiter<br />
bestaunen wettergegerbte Landfrauen in<br />
geblümten Kleidern Kosmetikawerbung im<br />
Weltformat. Ein Liebespaar schmust vor dem<br />
Nationaltheater, das gerade «Romeo und Julia»<br />
spielt. Strassenplakate annoncieren ein internationales<br />
Dokumentarfilmfestival und die<br />
Alt-Pop-Gruppe Uriah Heep. Im orientalisch<br />
anmutenden Chisinauer Bahnhof ist die<br />
Atmosphäre von Begegnung, Aufbruch und<br />
Abschied geprägt. Und von Hoffnung. Frauen<br />
verabschieden ihre jungen Männer, die nach<br />
Moskau fahren, um dort zu arbeiten. Moldawien<br />
leidet unter hoher Arbeitslosigkeit. Die<br />
Schaffnerin mit der grossen Mütze drängt zur<br />
Abfahrt. Pünktlich soll der Nachtzug losfahren.<br />
60 Franken, 600 Lei, kostet die 28-Stunden-Fahrt<br />
in die russische Metropole.<br />
In Chisinau ist es dunkel geworden. Umso<br />
heller strahlen die Leuchtreklamen der Casinos.<br />
Mindestens ein Dutzend gibts. Eines besuchen<br />
wir. Das schummrige Plüschdesign betört<br />
sofort. An den Spieltischen sitzen schlecht<br />
rasierte Männer in Trainingsanzügen und<br />
nippen einheimischen Cognac, während sie<br />
ihre Jetons setzen.<br />
Bardame Eleonora schenkt uns Bier ein.<br />
Die 33-jährige Mutter eines Kindes arbeitet<br />
hier seit sieben Jahren jede Nacht von 11 Uhr<br />
abends bis um 6 Uhr morgens. Sie wohnt zweieinhalb<br />
Zugstunden von Chisinau entfernt<br />
und verdient etwa 200 Franken monatlich. In<br />
Moldawien ein guter Lohn. Doch er reicht nur<br />
knapp zum Überleben. Ihr Ehemann ist<br />
Chauffeur, aber seit Monaten arbeitslos.<br />
Eleonaras Lohn hält die Familie über<br />
Wasser. Doch die junge Frau wirkt müde.<br />
Aber sie sagt sanft: «Besser diese als gar<br />
keine Arbeit.» Hinter ihrem Rücken<br />
hängt ein kitschig-schönes Alpenbild. Ob<br />
sie manchmal in Gedanken dorthin verreist?<br />
«Ein Bier!», ruft ein Spieler. Bevor<br />
sie es serviert, flüstert sie uns zu: «Die<br />
meisten Spieler sind Polizisten, die hier<br />
das Geld verspielen, das sie uns auf der<br />
Strasse für irgendwelche Vergehen abknöpfen<br />
– selbstverständlich ohne Quittung.»<br />
«Niet Foto». Am nächsten Morgen. Ein<br />
Morgenessen wie zu Sowjetzeiten: Sauerteigbrot,<br />
Fisch, kalte Eier. Dazu lauwarmes<br />
Fleisch vom Vortag, Tee, Kaffee<br />
und als Krönung Mineralwasser mit Salzgeschmack.<br />
Doch Natalias Lächeln an der<br />
Rezeption entschädigt für alles. Und sie<br />
hat einen Tipp parat: Orheiul Vechi, eine<br />
Klosteranlage in einer fantastischen Kalksteinlandschaft,<br />
schwärmt sie, sei nur<br />
40 Kilometer entfernt. Natalia verweist<br />
uns zur Autovermietung beim Hoteleingang.<br />
Öffentliche Busse seien unzuverlässig,<br />
meint sie, auf direktem Weg fahre<br />
sowieso keiner hin.<br />
Automiete also. Eilfertig legt uns Ludmilla,<br />
Mitarbeiterin der Mietagentur, einen<br />
Prospekt – ihr einziger, wie sie betont –<br />
und die Tarifliste vor. Die Preise sind vernünftig.<br />
Wir wollen buchen. Ludmilla<br />
geht den Autoschlüssel holen. Wir warten.<br />
Es dauert. Um uns die Zeit zu vertreiben,<br />
fotografieren wir den currygelben<br />
Prospekt, nicht ahnend, was das bewirken<br />
wird. Endlich kommt Ludmilla zurück.<br />
Sie schaut uns kurz an, knallt wutentbrannt<br />
den Autoschlüssel aufs Pult,<br />
schnappt sich blitzschnell den Prospekt<br />
und schnauzt uns an: «Niet Foto!» Wir<br />
sind verdutzt. «Ihr kriegt den Wagen<br />
nicht!», schreit sie. Wir staunen und fragen<br />
weshalb. «Niet Foto!», wiederholt sie,<br />
als hätten wir den Lageplan der nicht vorhandenen<br />
moldawischen Atomraketen fotografiert<br />
und nicht den mickrigen Prospekt, der<br />
einen Lada anpreist. Wir entschuldigen uns<br />
wortreich. Erfolglos. Ludmilla bleibt hart:<br />
«Niet Foto! Niet Car.» Ein klarer Fall. Doch<br />
wir wollen es nicht glauben. Dann schiebt sich<br />
langsam aus dem Hintergrund der kräftige<br />
Mechaniker der Autovermietung heran. Er<br />
sagt nichts. Es ist eine Szene wie aus einem<br />
schlechten Film: Der Mann guckt wie ein<br />
Henker, der seinen Auftrag noch vor dem Mittagessen<br />
erledigen will. Sein Blick erleichtert<br />
uns die Entscheidung: Abgang.<br />
Gerade als wir beschliessen, mit dem öffentlichen<br />
Bus zu fahren, begegnen wir Viktor.<br />
Er spricht fliessend Englisch und ist von überwältigender<br />
Hilfsbereitschaft. Er telefoniert<br />
Sowjetische Erinnerung. Hotel Cosmos und<br />
Reiterdenkmal in Chisinau (ganz oben).<br />
Gastfreundschaft. Prosit im Dorfladen (Mitte).<br />
Religion. Die orthodoxe Kirche lebt (unten).<br />
mehrmals, erklärt die Lage und findet die Lösung:<br />
Eine halbe Stunde später biegt ein Wagen<br />
um die Ecke: Viktors Kumpel Igor wird<br />
uns fahren.<br />
Mit der Verständigung haperts, doch Igor<br />
zeigt uns immer wieder Interessantes am Strassenrand,<br />
während wir gemächlich Richtung<br />
Norden rollen. Durch eine sanfte, grüne Landschaft,<br />
die beruhigend wirkt. Bei einem Weiler<br />
bieten Bauern Gemüse, Früchte und Wein feil.<br />
Anderswo gibts Melonen und Birnen. Dann<br />
wieder stille Seen, Wäldchen und kleine Dörfer<br />
mit russisch-orthodoxen Zwiebelturmkirchen.<br />
Ein schönes Land.<br />
57
Infos zu Moldawien<br />
und Transnistrien<br />
Grösse Moldawiens: 33 843 km² (inkl. Transnistrien).<br />
Damit etwa ein Viertel kleiner als die Schweiz.<br />
Einwohner: 4,4 Mio.<br />
Beste Reisezeit: Mai bis September. Wetter wie<br />
in der Schweiz, aber etwas wärmer.<br />
Anreise: Flüge ab der Schweiz mit Austrian Airlines<br />
via Wien.<br />
Einreise: CH- und EU-Bürger benötigen bis 90 Tage<br />
Aufenthalt einen gültigen Pass. Die abtrünnige<br />
Provinz Transnistrien erteilt bei der Einreise ein<br />
Visum, das jedoch nur einen halben Tag gültig ist.<br />
Kostenlose Verlängerung mit Übernachtungsnachweis<br />
und Registrierung bei der Polizei.<br />
Transportmittel: In Chisinau sind Taxis<br />
billig. Sammeltaxis oder Busse verkehren<br />
zwischen Städten und Dörfern. Autostopp<br />
ist üblich, man wird schnell mitgenommen.<br />
In jedem grösseren Hotel gibt es eine Autovermietung,<br />
die billigste im Hotel Cosmos,<br />
Kleinwagen für ca. Fr. 50.–/24 Stunden.<br />
Ausflug nach Orheiul Vechi mit Sammelbus<br />
via Branesti (umsteigen) für ca. Fr 5.– oder<br />
mit Taxi Fr. 30.– bis 50.– je nach Verhandlungsgeschick.<br />
Unterkunft: Das im Text erwähnte Hotel<br />
Cosmos in Chisinau entspricht einem Zweibis<br />
Dreisternehotel und kostet Fr. 80.–/DZ.<br />
Das Hotel Codru ist das beste Haus in<br />
Chisinau, ein DZ gibt es ab Fr. 120.–.<br />
In Tiraspol gibt es im Dreisternehotel Hotel Timoty<br />
ein DZ ab Fr. 90.– (nur 22 Betten). Es ist das einzige<br />
Touristenhotel der Stadt. Privatunterkunft gibt<br />
es ab Fr. 35.– p.P.<br />
Hilfreiche Kontaktadressen: Für Transfers,<br />
Hotelbuchungen oder Wohnungsvermittlung:<br />
Moldawien: www.moldovatour.com; Transnistrien:<br />
www.spectrumtravel.md<br />
Spezialtipps: Weinfestival in Moldawien, jeweils<br />
2. Oktoberwoche; Restaurant Krikowa in Tiraspol<br />
für moldawische und ukrainische Gerichte, grosse<br />
Weinauswahl; Cognac Kwint aus transnistrischer<br />
Produktion.<br />
RUMÄNIEN<br />
MOLDAWIEN<br />
TRANSNISTRIEN<br />
Orheiul Vechi<br />
Chisinau<br />
Tiraspol<br />
UKRAINE<br />
Odessa<br />
Madame Nelly weiss, was war. Kurz<br />
vor Orheiul Vechi senkt sich die Strasse<br />
in ein malerisches Tal: Hier fliesst in<br />
weiten Schlaufen der Fluss Raut. Beim<br />
einzigen Hotel checken wir ein, als einzige<br />
Gäste. Im Hotelanbau befindet sich<br />
eine kleine Ausstellung zur Geschichte<br />
von Orheiul Vechi. Madame Nelly, so<br />
stellt sie sich vor, ist dafür verantwortlich.<br />
Die freundliche Dame ist 33 Jahre<br />
alt, im Hauptberuf Lehrerin und spricht<br />
fliessend Französisch. Während sich<br />
draussen der Himmel verfinstert und es<br />
zu regnen beginnt, erzählt sie uns von<br />
Moldawiens abtrünniger Provinz Transnistrien<br />
im Osten.<br />
Plötzlich bricht die Sonne durch und<br />
verzaubert die Landschaft. Auf einer<br />
Krete steht eine Kirche. Ein Tunnel im<br />
Fels verbindet sie mit einer geheimen,<br />
unterirdischen Kirche, die den Mönchen<br />
als Versteck vor kommunistischen<br />
Verfolgern diente. Und vor 2200 Jahren<br />
wurde hier auf einem Kultplatz jeweils<br />
vor der Aussaat ein archaisches Ritual –<br />
Menschenopfer – durchgeführt.<br />
Am Wegrand zur Kirche sitzt ein<br />
Junge und verkauft selbst gebastelte<br />
Tonkirchlein. Das ist bislang der einzige<br />
«Souvenirladen» weit und breit. Wie<br />
lange noch? Einheimischen ist Orheiul<br />
Vechi ein beliebtes Wochenendziel. Die<br />
Frauen tragen ihre besten Kleider, wagen<br />
sich sogar in High Heels auf den Naturpfad,<br />
der zur Kirche hochführt.<br />
Männer treten sonntäglich-sportlich<br />
an: im Trainingsanzug.<br />
Auf dein Wohl, Tribuchan! Ein schöner<br />
Wanderweg entlang dem Fluss führt ins<br />
1200-Seelen-Dorf Tribuchan. Es sind<br />
bloss zwei, drei Kilometer bis dahin.<br />
Aber die dehnen sich, erleben wir doch<br />
unterwegs, was moldawische Gastfreundschaft<br />
bedeutet. Ein Fischer und<br />
ein Bauer laden uns zum völkerverbindenden<br />
Umtrunk ein. Ihr selbstgekelterter<br />
Weisswein schmeckt wie<br />
frischer Sauser. Und wirkt: Angeheitert<br />
legt der Bauer einen zirkusreifen<br />
Spagat hin. Später treffen wir<br />
Jugendliche, die eine Party feiern.<br />
Ein weiterer Umtrunk ist Pflicht.<br />
Am späten Nachmittag erreichen<br />
wir Tribuchan, ein liebevoll gepflegtes<br />
Dorf. Die farbigen Ziehbrunnen<br />
und schmucken Gärten<br />
sind eine Augenweide. Auch die<br />
Pferdegespanne, die über die<br />
Dorfstrasse holpern. In zwei Dorfläden,<br />
angeschrieben mit «Alimentari»,<br />
begegnen wir freundlichen offenen<br />
Menschen. Hier hat man Zeit.<br />
Und alle sprechen ein paar Worte<br />
Französisch. Kein Wunder, Madame<br />
Nelly lebt hier und unterrichtet die<br />
Zeitsprung. Die eindrücklichen Begegnungen<br />
mit dem beschaulichen Landleben in der Flusslandschaft<br />
von Orheiul Vechi versetzen in alte<br />
Zeiten (oben).<br />
58 GLOBETROTTER-MAGAZIN sommer 2009
osteuropa<br />
Dorfjugend. Drei Jungs führen vor,<br />
was sie sonst noch können: Auf<br />
einem knatternden russischen Ural-<br />
Motorrad mit Seitenwagen zeigen sie<br />
akrobatische Fahrkünste.<br />
So überwältigend die Gastfreundschaft<br />
der Moldawier ist, umso<br />
mehr überrascht das Hotelkonzept<br />
in Orheiul Vechi: Um 21.30 Uhr erklärt<br />
die Hotelchefin, jetzt sei Schluss,<br />
sie und alle Angestellten würden<br />
nach Hause, nach Tribuchan gehen,<br />
und wir sollen – sil vous plaît – ins<br />
Bett. Sie werde das Hotel von aussen<br />
schliessen. Gute Nacht.<br />
Shopping in Branesti. Punkt 12 Uhr<br />
wird eine Marschrutka, ein Sammeltaxi,<br />
zurück nach Chisinau fahren,<br />
erklärt uns die Hotelchefin beim<br />
Frühstück. Noch haben wir etwas<br />
Zeit, um durch Reben, Raps- und<br />
Rübenfelder zu spazieren und die<br />
Ruhe zu geniessen. Dann sind wir<br />
bereit. Pünktlich. Eine Stunde später:<br />
keine Marschrutka weit und<br />
breit. «Am Nachmittag!», beruhigt<br />
eine Hotelangestellte und fügt hinzu: «Sagen<br />
wir, im Verlauf des Nachmittags oder etwas<br />
später.» Wir entscheiden, ins nächste Dorf zu<br />
wandern. Kaum unterwegs, rauscht einer der<br />
seltenen Traktoren heran und nimmt uns auf<br />
dem Anhänger mit. Wind im Gesicht, Staub<br />
in den Haaren, freier Blick in die Landschaft –<br />
schade, fährt der Traktor nur nach Branesti.<br />
Dort soll eine Marschrutka anhalten. Irgendwann,<br />
bestimmt heute. Im Dorfladen, betreut<br />
von der charmanten Rodia, warten und trinken<br />
wir Kaffee, derweil sie uns ihr Sortiment<br />
erklärt. Und wir kaufen ein: zwei praktische<br />
Tauchsieder und ein Paar Socken aus Russland,<br />
eine Tüte Zwieback aus Rumänien, eine<br />
grosse Flasche Wasser aus Moldawien, zwei<br />
Brötchen aus dem Dorf, zwei Kaffees – macht<br />
alles zusammen: fünf Franken. Die Marschrutka<br />
trifft ein.<br />
Einreisehürden und ein Engel. In Chisinau<br />
müssen wir die Lösung für eine reisetechnische<br />
Unmöglichkeit finden: Wir wollen einen<br />
Staat besuchen, den es offiziell gar nicht<br />
gibt, der aber grosszügig und kostenlos Visa<br />
ausstellt. Bloss sind sie nur einen halben Tag<br />
Plattenbau. Autorenunterkunft in Tiraspol (oben).<br />
Schwere Jungs. «Ural», die Motorradlegende mit<br />
Seitenwagen (unten links).<br />
Dorfidylle. In Tribuchan scheint die Welt noch in<br />
Ordnung zu sein (unten Mitte).<br />
Unterwegs. Marschrutka heissen die Kleinbusse<br />
in Moldawien (unten rechts).<br />
lang gültig. Kein Witz. Die Statistik von<br />
Transnistrien – dies die übliche Bezeichnung<br />
des «Staates» – registriert jährlich 40 touristische<br />
Besucher. Immerhin. Seit dem blutigen<br />
Konflikt von 1991/92 deklariert sich die<br />
von Moldawien abgespaltene Ostprovinz, in<br />
der eine halbe Million Menschen lebt, als<br />
PMR, als Pridnestrovje Moldauische Republik.<br />
Sie ist von keinem einzigen anderen<br />
Staat anerkannt. Was also müssen wir tun,<br />
um diese Republik länger als einen halben<br />
Tag zu besuchen?<br />
Dank dem Internet kommt der Kontakt<br />
mit der transnistrischen Agentur Spectrum<br />
Travel zustande. Eine Lilly Beltek mailt: «Zum<br />
Visum: kein Problem. Sie müssen, weil alle<br />
Hotels voll sind, eine Wohnung mieten, dann<br />
wird das Visum verlängert. Wie immer kostenlos.»<br />
Na also, geht doch. Eine Zweitwohnung<br />
in Transnistrien war schon immer unser<br />
Traum. Wir antworten sofort: «Danke, bereiten<br />
Sie bitte den Mietvertrag vor. Wir bleiben<br />
zwei Nächte. Geht das?» Lilly muss ein Schutzengel<br />
für Reisende sein, sie mailt: «Okay, ich<br />
erwarte Sie an der Grenze.» Leichten Herzens<br />
verlassen wir unser Chisinauer Hotel, um ein<br />
Taxi zu finden.<br />
Transnistrien, Land der schönen Zweitwohnungen.<br />
An der Grenze gilt ein striktes Fotografierverbot.<br />
Umso heftiger wird im Landesinnern<br />
fotografiert: nämlich für die Pässe<br />
der Transnistrier, die jeweils drei Porträts unterschiedlichen<br />
Datums enthalten müssen –<br />
laut Vorschrift. Damit ist der Alterungsprozess<br />
des Passinhabers auf einen Blick ersichtlich.<br />
Fälschungssicher! Schönheitsoperationen<br />
sind hier noch nicht im Schwang. Nach<br />
den Grenzformalitäten, ja, es ist als hätten wir<br />
eine «normale» Landesgrenze überquert, rollen<br />
wir über die Brücke des Grenzflusses<br />
Dnjestr. Auf der Einfallstrasse in die Hauptstadt<br />
Tiraspol erreichen wir innert Minuten<br />
Südosteuropas modernstes Fussballstadion.<br />
Das 2002 gebaute Sheriff-Tiraspol mit Rasen-<br />
59
Odessa. Am früher einmal geschäftigen Hafen der<br />
Schwarzmeermetropole (oben).<br />
Transnistrien. Ideologisch näher bei Russland als<br />
bei Moldawien (unten links).<br />
Wertvoll. Juri zeigt die Kirchenschätze des<br />
grössten Klosters Transnistriens (unten rechts).<br />
heizung bietet 13 000 Zuschauern Platz. Genug<br />
Sitze für die russische Friedenstruppe, die<br />
in Transnistrien stationiert ist.<br />
Tiraspol wirkt herausgeputzt, sauber. Leninstatuen,<br />
Panzerdenkmale, Plattenbauten –<br />
ein Open-Air-Sowjet-Museum. Das neue Fast-<br />
Food-Restaurant Andys Place setzt einen<br />
Kontrastpunkt. In einer Papeterie können wir<br />
Geld wechseln. Das Land hat eine eigene Währung:<br />
Rubel. Auch schöne Briefmarken gibts.<br />
Aber keinen Postversand. Briefe werden über<br />
die Grenze nach Moldavien gebracht und von<br />
dort verschickt.<br />
Wir treffen Lilly Beltek, unseren Reiseschutzengel.<br />
Sie führt uns zu unserer Mietwohnung<br />
in einem der hässlichsten Plattenbauten<br />
der Stadt. Der Wohnblock besitzt zwölf<br />
Eingänge. Alle sind sich zum Verwechseln<br />
ähnlich. Hausnummern gibts keine. Im Treppenhaus<br />
zur Wohnung 606 ist es dunkel. Die<br />
Wohnungstüre ist eine lederbezogene Mehrfachtüre,<br />
die mehrere Schlösser sichern, wie<br />
es in Plattenbauten sowjetischer Machart üblich<br />
ist. Die Dreizimmerwohnung ist frisch<br />
renoviert und sehr wohnlich, die Küche sehr<br />
gut ausgestattet. Wir sind angenehm überrascht:<br />
Besser als ein Dreisternehotel! Und da<br />
wir jetzt eine Adresse haben, steht einer Visumsverlängerung<br />
nichts mehr im Wege.<br />
Oder fast nichts. Engel Lilly instruiert uns,<br />
was wir auf dem Immigrationsbüro sagen sollen<br />
und was nicht – nachdem sie fünfmal alleine<br />
reinging und fünfmal mit neuen Regeln<br />
rauskam. Doch es klappt.<br />
Im Quartiersupermarkt kaufen wir ein<br />
und lernen dabei Alexej kennen. Der Dozent<br />
der Tiraspoler Universität ist<br />
überrascht, Ausländer anzutreffen.<br />
Auf Englisch erzählt er<br />
uns, wie es hier so läuft: Es gäbe<br />
eine mafiaähnliche Organisation,<br />
den Sheriff-Clan. Das Firmenkonglomerat<br />
Sheriff kontrolliere<br />
nahezu die ganze Wirtschaft<br />
des 500 000-Seelen-Staates<br />
und auch die Politiker. Sheriff<br />
besitzt TV-Stationen, Fabriken,<br />
Import-Export-Firmen,<br />
Handynetze, Tankstellen, den<br />
Internetzugang, einfach alles.<br />
Eine kleine Elite teile sich Macht<br />
und Geld, sagt Alexej. Die<br />
60 GLOBETROTTER-MAGAZIN sommer 2009
osteuropa<br />
Kloster. Aussicht vom hohen Glockenturm<br />
aufs Hinterland von Tiraspol (links).<br />
Mahnmal. Sowjetpanzer erinnern an<br />
kriegerische Zeiten (unten Mitte).<br />
EU. Die ukrainische Jugend träumt von einem<br />
Beitritt (ganz unten).<br />
Mehrheit der Einwohner müsse mit tiefen<br />
Löhnen auskommen, die gerade zum<br />
Überleben reichen. Er träumt davon, an<br />
einer Universität in Deutschland oder in<br />
der Schweiz zu lehren. Hier, in diesem eigentlich<br />
nicht existierenden Staat, sieht er<br />
für sich keine Zukunft. «Haben Sie das<br />
supermoderne Sheriff-Tiraspolstadion<br />
gesehen?», fragt er. Wir bejahen. «Eigenartig,<br />
dass das Stadium zugleich Mercedes-Hauptsitz<br />
ist», meint er schmunzelnd<br />
und verabschiedet sich schnell, als ein<br />
Mann sich in unsere Nähe stellt.<br />
Unser Nachhauseweg führt am Nachtclub<br />
Plasma vorbei. Sein Eingang ist ein<br />
Schilderwall: Verboten sind Hunde, Messer,<br />
Pistolen, Flaschen, Pfefferspray, Boxhandschuhe.<br />
Und eine Gesichtskontrolle<br />
gibts auch. Wir dürfen rein. Keiner drin.<br />
Alle ausgefiltert? Derweil ist vor dem Eingang<br />
eine junge Frau mit zwei Pferden<br />
eingetroffen, die sie für nächtliche Stadtausritte<br />
vermietet. «Das Geschäft läuft<br />
nicht schlecht», sagt sie.<br />
Juri, Hüter der Kirchenschätze. Mit öffentlichen<br />
Verkehrsmitteln, Trolley- oder<br />
Minibussen, erreicht man jedes Ziel innerhalb<br />
der Stadt oder in der näheren<br />
Umgebung. Fünf Kilometer südlich Tiraspols<br />
liegt das Kistkany, das grösste<br />
Kloster Transnistriens. Mit dem Minibus<br />
fahren wir hin.<br />
Das Klostertor steht offen. Drinnen<br />
empfängt uns freundlich Juri, ein Mönch.<br />
In einem Sprachmix aus Russisch, Italienisch,<br />
Lateinisch und Französisch, gespickt<br />
mit ein paar Brocken Englisch, erzählt<br />
er uns begeistert von seinem Kloster.<br />
Alles will er uns zeigen. Einfach alles.<br />
Er redet ohne Pause. Als ob er erst gestern<br />
ein zehnjähriges Schweigegelübde beendet<br />
hätte. Er führt uns durch den schön<br />
bepflanzten Innenhof zu drei unterschiedlichen<br />
Kirchen: russische, griechische<br />
und moldawische Architektur. Beeindruckend.<br />
Das Innere der 140-jährigen<br />
Kirchen ist prachtvoll. Renoviert mit<br />
Geld aus der Schatulle des Patriarchen<br />
von Odessa im Nachbarland Ukraine.<br />
Zwölf Mönche leben hier, die Akademie<br />
wird gerade ausgebaut. «Die Kirche<br />
spürt Rückenwind», meint Juri und treibt<br />
uns auf den 68 Meter hohen Glockenturm.<br />
Der Blick reicht weit ins grüne<br />
Land: bis zur moldawisch-transnistrischen<br />
Grenze. Wieder unten schliesst Juri<br />
eine Kammer auf und zeigt uns seine<br />
Schätze: Ikonen aus dem 17. Jahrhundert,<br />
noch ältere Bibeln und reich verzierte Kreuze.<br />
Juri strahlt. Und wir müssen weiter, in die Ukraine.<br />
Zwei Tage sind zu schnell vorbei.<br />
Am Stadtausgang von Tiraspol tankt unser<br />
Taxifahrer bei einer neuen, schneeweissen<br />
Zapfstelle. Wir wollen das Bijou fotografieren.<br />
«Njet Foto!», ruft der Tankwart. Die Tankstelle<br />
ist angeschrieben: Sheriff Petrol.<br />
Epilog in der Ukraine. Bloss 102 Kilometer<br />
sind es bis Odessa. Die gute Strasse führt<br />
durch flaches Land mit saftig gelben Rapsfeldern.<br />
Streckenweise folgt sie einer nicht<br />
mehr benutzten Eisenbahnlinie, die am<br />
Schwarzen Meer endet. Je näher wir Odessa<br />
kommen, desto staubiger sind die Strassen,<br />
desto mehr Verkehr gibts, die Luft wird<br />
stickig. Wo weht die Schwarzmeerbrise, die<br />
schon Dichter besangen?<br />
Dann sind wir da, mitten in der Stadt. Der<br />
Kontrast zum bisher Gesehenen könnte grösser<br />
nicht sein: Die Stadtverwaltung hat viel<br />
Geld in die Renovation der alten Kulturpaläste<br />
gesteckt. Die herausgeputzten Fassaden vermitteln<br />
das Flair einer sich rasch wandelnden<br />
Kulturstadt. Aber die teuren Geschäfte an der<br />
piekfeinen Prachtstrasse bieten dieselben<br />
Markenprodukte an wie jede Stadt an der<br />
nördlichen Mittelmeerküste. Doch bloss ein<br />
paar Strassenzüge weiter sieht es aus wie auf<br />
Bildern aus dem Zweiten Weltkrieg: baufällige,<br />
teilweise eingestürzte Häuser mit grauschwarzen<br />
Fassaden. Unten im Hafen jedoch,<br />
da liegen glänzende, moderne Millionärsyachten.<br />
Eine Kunstgalerie am Wasser trumpft<br />
mit surrealen Gemälden auf. Auf einer Pier<br />
treffen wir einen braungebrannten Seemann,<br />
Nikolaj. «Früher lagen hier 350 Schiffe, Frachter,<br />
Fähren», sagt der Sechzigjährige, der sein<br />
ganzes Arbeitsleben mit Schiffen verbrachte.<br />
«Heute gibts hier kein einziges anständiges<br />
Schiff mehr. Alles wurde ins Ausland verhökert!»<br />
Mit resignierter Miene fügt er hinzu:<br />
«Dafür haben wir jetzt Demokratie!»<br />
Am Nachmittag findet im Stadtzentrum<br />
eine Kundgebung statt: Es ist Europatag. Studenten<br />
blasen blaue Ballone mit gelben Sternen<br />
auf. Aus Boxen dröhnt fetzige Musik. Dann<br />
erklingt die ukrainische Nationalhymne: Jetzt<br />
stehen alle stramm, auch die Gäste in den Strassencafés.<br />
Odessas Jugend träumt bei Rockmusik<br />
von einer europäischen Zukunft, von der<br />
EU. Nicht nur sie, viele Ukrainer fühlen sich<br />
Europa näher als Russland.<br />
Mit Blick auf das tiefblaue Schwarze Meer<br />
lassen wir die grünen Hügel Moldawiens, das<br />
absurde Transnistrien und die Menschen, denen<br />
wir begegneten, vor dem geistigen Auge<br />
Revue passieren: so viel Unterschiedliches, so<br />
viele Gegensätze auf kleinstem Raum! Es<br />
kommt uns vor, als wären wir monatelang unterwegs<br />
gewesen – und doch reisten wir bloss<br />
sechs Tage lang durch einen so nahen und<br />
doch so fernen, unbekannten Teil Europas.<br />
markus.siegfried@bluewin.ch<br />
daniel.peterlunger@gmx.net<br />
© <strong>Globetrotter</strong> Club, Bern<br />
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