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Barbara Steiner - GFZK Leipzig

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<strong>Barbara</strong> <strong>Steiner</strong><br />

Wahrheitsdiskurse<br />

Wenn man fast drei Jahre interdisziplinär an einem gemeinsamen Projekt wie<br />

„Schrumpfende Städte“ zusammenarbeitet, ändern sich beinahe zwangsläufig die<br />

Ausgangsprämissen, unter denen man angetreten ist. Nicht etwa weil man pragmatischer<br />

oder kompromissbereiter geworden ist, sondern weil eine solche Zusammenarbeit - wenn<br />

man sie ernst nimmt – die eigene Perspektive verschiebt, ja verschieben muss. Die<br />

verschiedenen Ausgangsdisziplinen – Architektur, Stadtplanung, Soziologie und<br />

Bildende Kunst - mit ihren jeweiligen Ansätzen und Methoden trafen während der drei<br />

Jahre konfliktreich aufeinander, rieben sich aneinander und stellten sich ein Stück<br />

weit gegenseitig in Frage. 1 Doch sind es interessanterweise gerade die<br />

interdisziplinären Konflikte gewesen, die geholfen haben, das Auge für die eigene<br />

Disziplin und ihre Rolle für den gemeinsam zu bearbeitenden Themenkomplex zu schärfen.<br />

Dass KünstlerInnen zu einem solchen Projekt wie „Schrumpfende Städte“ eingeladen<br />

werden, scheint naheliegend, denkt man an die vielen leerstehenden Gebäude, meist<br />

ehemalige Industriekomplexe und ihre kulturelle Nutzung. Im ersten Band habe ich<br />

deshalb meinen Beitrag 2 diesem Thema gewidmet, ausgehend von Entwicklungen in<br />

Manchester, Berlin und <strong>Leipzig</strong>. Zum damaligen Zeitpunkt sah es, zumindest was Berlin<br />

und <strong>Leipzig</strong> anbelangte, noch so aus, als würden investorische Maßnahmen selbst zu<br />

einem gewissen Grad unkontrollierbar bleiben und nicht immer aufgehen. Projektintern<br />

hatten wir immer wieder die Rolle der Kultur/Kunst und ihre potentielle Vereinnahmung<br />

durch InvestorInnen diskutiert; die Einschätzungen, die Für und Wider blieben<br />

unterschiedlich. Inzwischen hat sich die Spinnerei in <strong>Leipzig</strong> zu einem profitablen<br />

Geschäft für ihre Investoren gemausert: Kommerzielle Galerien der Stadt ließen sich<br />

auf dem Gelände nieder, Apartments werden zügig ausgebaut, Läden verschiedenster Art<br />

siedeln sich an. Auf den ersten Blick eine mehr als erfreuliche Entwicklung: Ein<br />

leerstehendes Industriedenkmal konnte vor dem Verfall gerettet werden, <strong>Leipzig</strong>er<br />

Galerien ziehen SammlerInnen aus der ganzen Welt an, KünstlerInnen verkaufen ihre<br />

Arbeiten, und die Stadt gewinnt an Attraktivität und Anziehung. Die Rolle von Kultur<br />

und Kunst sind in Zusammenhang mit der Aufwertung leerstehender Gebäude/Areale klar<br />

formuliert: Indem Kulturschaffende und KünstlerInnen zunächst das Auge für bestimmte<br />

Ensembles schärfen und diese mit Leben füllen, betreiben sie eine willkommene<br />

Wertschöpfung. Doch der daraus resultierende finanzielle Gewinn bleibt in seltenen<br />

Fällen in den Händen der KünstlerInnen, sondern wird meist von InvestorInnen<br />

übernommen. Der Rückfluss ist marginal. Mit anderen Worten: nach der symbolischen<br />

Aufwertung folgt die ökonomische Auswertung. Die Entwicklung scheint alternativenlos<br />

und andere Beteiligungsformen - etwa unter Mitwirkung der „Pioniere“ – stehen,<br />

1 Ohne das Projekt „Schrumpfende Städte“ hätten wir diese Auseinandersetzungen nicht geführt, mit Walter<br />

Prigges Worten haben wir „Wahrheitsdiskurse“ geführt, das sind Diskurse, die weder wahr noch falsch sind,<br />

miteinander im Wettstreit stehen und widersprüchlich bleiben müssen, in denen aber doch um eine Haltung<br />

gerungen wird.<br />

2 „Widrspruch, Widerstand, Vereinnahmung“, in: Schrumpfende Städte, Hg. Philipp Oswalt, Cantz,<br />

Ostfildern 2005, S.438-441


jedenfalls je größer und lukrativer das zu verwaltende Areal ist, nicht zur Debatte.<br />

Kunst ist jedoch nicht nur in Zusammenhang mit Leerstand willkommen , sondern seit den<br />

80er Jahren interessieren sich auch zunehmend StadtplanerInnen für künstlerische<br />

Arbeiten, wenn es darum geht, diese im Sinne einer sog. „weichen“ Standortkomponente<br />

und eines Imageproduzenten einzusetzen. Städtischer Raum soll als Konsum- und<br />

Erlebnisstandort attraktiv gemacht werden und sich im Sinne einer Profilierung von<br />

anderen Städten abheben, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Dass nicht jede<br />

Artikulation von Kunst willkommen ist, versteht sich von selbst. Kritische<br />

Positionen, im Sinne einer Hinterfragung vorherrschender Verhältnisse, sind damit<br />

nicht gemeint.<br />

Mindestens genauso offensichtlich taucht Kunst in Zusammenhang mit<br />

Schrumpfungsdebatten auf, wenn es darum geht BewohnerInnen dieser Regionen und Städte<br />

zu „aktivieren“, so dass sie in die Lage versetzt werden, neue, positive Perspektiven<br />

für die eigene (desolate) Situation zu generieren und ihr Leben selbst in die Hand zu<br />

nehmen. Das Zauberwort heißt „Selbstermächtigung“. Kulturelle bzw. künstlerische<br />

Praktiken werden dazu eingesetzt, Anregungen zur Aneignung existierender Räume,<br />

Strukturen und Situationen, kurz: Hilfe zur Selbsthilfe zu bieten. In diesem<br />

Zusammenhang sind im kuratorischen Team zwei Punkte immer wieder diskutiert worden 3 :<br />

1.Inwieweit liefern künstlerische Praktiken selbst nicht eine perfekte<br />

Hintergrundsfolie für Auslagerungen ehemals staatlicher Aufgaben und fungieren<br />

KünstlerInnen unfreiwillig als Vollstrecker fragwürdiger ökonomischer Entwicklungen?<br />

Angesichts aktueller Entwicklungen zeichnet sich deutlicher denn je eine<br />

Instrumentalisierung von Partizipations- und Selbstermächtigungsstrategien ab, wenn<br />

es darum geht, gesellschaftliche Verantwortung an die betroffenen Subjekte selbst zu<br />

delegieren. 4 2.Inwieweit handelt es sich bei „Empowerment“ um „kosmetisches Handeln“,<br />

das gesellschaftliche Rahmen unangetastet lässt? In der Tat setzen kulturelle bzw.<br />

künstlerische Strategien beim Subjekt und seinen Möglichkeiten an, während politische<br />

und ökonomische Eckdaten unter denen gehandelt wird, nicht direkter, sondern nur<br />

indirekter Gegenstand der Intervention sind. Genau über diesen Punkt, über das<br />

Verhältnis von Subjekt und gesellschaftlichen Entwicklungen wurde im Verlaufe der<br />

letzten drei Jahre im kuratorischen Team immer wieder heftig gestritten. Vermutlich<br />

handelt es sich bei „Empowerment“ um ein Wort, das die meisten Kontroversen in der<br />

Gruppe ausgelöst hatte. Die immer wieder gestellte Frage lautete: Muss man beim<br />

Subjekt oder direkt an politischen und ökonomischen Strukturen arbeiten, wenn man<br />

gesellschaftliche Veränderungen möchte? Die Kontroverse gipfelte zunächst in<br />

(tradierte) Polarisierungen: auf der einen Seite die PlanerInnen, die aus einer<br />

Metaperspektive agieren, auf der anderen die KünstlerInnen, die sich den<br />

(unterdrückten) Subjekten widmen. Die Forderung nach einem engagierten lokalen<br />

Handeln und einem Akzeptieren von Widersprüchen traf auf eine Praxis, die verschiedene<br />

Entwicklungen gleichermaßen zu erfassen sucht und strukturelle Gemeinsamkeiten im<br />

3 Sie dazu auch in diesem Buch...


Unterschiedlichen heraus arbeitet. Interessanterweise haben sich die verschiedenen<br />

Argumentationen schnell als eine Frage des jeweiligen disziplinären Hintergrunds<br />

entpuppt: Während in der Bildenden Kunst in den letzten drei Jahrzehnten das<br />

Misstrauen an Metastrukturen und autoritären Setzungen gewachsen ist, findet sich in<br />

der Planung - sieht man von einigen Ausnahmen ab 5 - der Anspruch nach Lösungen jenseits<br />

der Berücksichtigung subjektiver Befindlichkeit. Bleibt die Frage nach der<br />

gesellschaftlichen Relevanz künstlerischer Positionen: Wofür sind sie relevant, wenn<br />

sie keine „Lösungen“ bieten wollen? Oder umgekehrt, erlaubt es gar erst diese Distanz,<br />

gesellschaftsrelevant zu werden und ein kritisches Verhältnis zu einer umgebenden<br />

Realität zu etablieren? Nach ausführlichen Diskussionen untereinander und auch mit<br />

den beteiligten KünstlerInnen hat sich schnell herausgestellt, dass es kein einfaches<br />

Entweder-Oder gibt, dass Funktionales und Non-Funktionales durchaus Seite an Seite<br />

auftauchen und nicht immer voneinander zu trennen sind. Künstlerische Arbeiten, die<br />

sich einer Funktionalisierung von außen verweigern, können durchaus einem selbst<br />

auferlegten funktionalen Anspruch folgen. Die von uns eingeladenen KünstlerInnen<br />

beziehen sich auf verschiedene „Funktionalismus-Konzepte“ gleichermaßen; diese<br />

werden verbogen, parodiert oder mimetisch angeeignet.<br />

Nach Homi K.Bhabha ermöglichen es Kultur und Politik gleichermaßen, sich als Teil<br />

eines Kollektivs zu verstehen 6 , das sich über gemeinsame Merkmale, Werte und<br />

Interessen definiert. Dieser auf Gemeinschaften bezogene Kulturbegriff liefert<br />

wesentlich den „Grund“, sich überhaupt als Gemeinschaft verstehen zu können, die<br />

politisch handlungsfähig ist. Doch in Zeiten verunsicherter Identitäten - wie es auch<br />

bei „Schrumpfungsprozessen“ der Fall ist - wird Kultur selbst prekär. Mehrere, sich<br />

durchaus widersprechende Identitäten treffen aufeinander, womit der Prozess der<br />

Identifikation, der beim Entwurf kultureller Identitäten maßgeblich ist, offener,<br />

variabler, aber auch umkämpfter wird. Es entsteht „kulturelle Ungewissheit [cultural<br />

uncertainity]“, eine „signifikatorische oder repräsentationale Unentscheidbarkeit<br />

[significatory or representational undecidability]“ (Homi K. Bhaba in Anlehnung an<br />

Frantz Fanon). 7 Für Bhabha bedeutet dies eine grundlegende Chance zu einem (neuen)<br />

Identitätsverständnis zu kommen. Auch wenn Bhabha diese Vorstellungen im Rahmen postkolonialer<br />

Debatten entwickelt hat, erscheint mir dieser Aspekt auch auf unseren<br />

Zusammenhang übertragbar. Mehr noch, ich denke, dass „kulturelle Ungewissheit“ bzw.<br />

„signifikatorische oder repräsentationale Unentscheidbarkeit“ in schrumpfenden<br />

Städten besonders ausgeprägt sind. Sie erlauben keine Eindeutigkeit, weil ihre<br />

politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Grundlagen ins Wanken geraten<br />

4 Dieser ambivalenten Rolle von Kunst und KünstlerInnen ging ich in meinem Beitrag für archplus nach,, das<br />

den GewinnerInnen des internationalen Wettbewerbes der „Schrumpfenden Städte“ gewidmet ist.<br />

5 Eine jüngstes Beispiel findet sich im Projekt: Hier entsteht. Strategien partizipativer Architektur und<br />

räumlicher Aneignung, Hg. Jesko Fezer und Matthias Heyden, Berlin 2004, S. 13f und 19<br />

6 Der Vortrag wurde am 4.9.1999 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gehalten. Er ist nicht<br />

veröffentlicht und nur als Skript zugänglich, aus dem ohne Erlaubnis nicht zitiert werden darf.<br />

7 Homi K. Bhabha entwickelte seine Überlegungen in Auseinandersetzung mit Frantz Fanon.<br />

Er plädiert für die Erschütterung, die kulturelle Bewertungen und Interpretationen aufbricht, für ein<br />

Erdbeben auf der Ebene der Repräsentation, durch die wir uns einzeln und kollektiv definieren, um den<br />

Boden, auf dem (nationale, koloniale) Identitäten errichtet werden, zu hinter fragen. Siehe: Bhabha, Homi<br />

K., Die Verortung der Kultur (1994), Tübingen 2000, S. 53 f.


sind. „Signifikatorische oder repräsentationale Unentscheidbarkeit“ findet sich aber<br />

auch im Projekt „Schrumpfende Städte“ selbst: Es löst die ersehnte kulturelle Antwort<br />

auf drängende gesellschaftliche Probleme nicht ein, diese bleibt aus, ja vor diesem<br />

Hintergrund betrachtet muss sie geradezu ausbleiben. Besonders deutlich wurde der<br />

Mangel an „entschiedenen“ städtebaulichen Projekten im Wettbewerb von archplus: Fast<br />

alle eingereichten Arbeiten verhalten sich in Bezug auf Gestaltungsfragen<br />

„unbestimmt/uneindeutig“ - man könnte auch sagen „nicht vorbildlich“ genug. Und doch<br />

ist genau diese „Nichtvorbildlichkeit“ als „unerwartete Dimension der uneindeutigen<br />

Städte“ besonders interessant, weil sie es erlaubt „die Zwischenposition der<br />

städtischen Subjekte ins Emanzipatorische zu wenden“ (Anke Haarmann) 8 und zu einem<br />

konstruktiven Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit Identitäts- und<br />

Imagepolitik zu machen. Das ist jedoch nur eine Perspektive: Vergleichbar den Debatten<br />

über Funktionalismus treffen wir sofort auf die „andere Seite der Medaille“: Gerade in<br />

Zeiten der Verunsicherung taucht die Gefahr einer Vereinnahmung kultureller<br />

Identifikationsprozesse auf, wenn starke (alte und neue) Repräsentationen<br />

Widersprüche und Diskrepanzen überbrücken oder gar vereinheitlichen sollen.<br />

Hegemonial gesetzte Images - wie etwa „Gehry=Bilbao“ - erhalten durchaus die Funktion,<br />

(kollektive) Amnesie zu produzieren, wenn ein dominierendes, Identität stiftendes<br />

Bild von Stadt eine Vielzahl anderer ersetzt und zu erwartende Konflikte nivellieren<br />

soll. Vor allem in schrumpfenden Städten zeugt die Suche nach Leitbildern vom Versuch,<br />

eine (übermächtige) kulturelle Identifikation zu schaffen und störende Abweichungen<br />

durch gezielte „Leuchtturmpolitik“ zu verhindern. Gegen starke Repräsentationen zu<br />

arbeiten und im Gegenzug für „schwebende“ bzw. kontingente Identitäten, Differenz und<br />

Hybridität zu plädieren, führt nicht automatisch zu Emanzipation der Subjekte. Im<br />

Gegenteil: Differenz und Hybridität effizient organisiert, lassen sich durchaus<br />

vereinnahmen und fügen sich bestens in eine kapitalistischen Verwertungslogik. Manche<br />

Differenzen sind - wenn es etwa um regionale Brauchtumspflege und andere<br />

Besonderheiten geht – ausgesprochen willkommen, solange sie hegemoniale Politiken<br />

nicht stören.<br />

Immer wieder wurde im kuratorischen Team die gesellschaftliche Relevanz von Kunst<br />

(kontrovers) diskutiert. In der Tat mögen künstlerische Beiträge angesichts<br />

politischer und ökonomischer Machtverhältnisse marginal, ja naiv erscheinen. Dies<br />

spiegelt sich auch im geringen gesellschaftlichen Stellenwert von Kunst, die in<br />

kritischen, öffentlichen Debatten kaum eine Rolle zu spielt. Doch wie kann man<br />

überhaupt etwas verändern? Nicht nur Kunst hadert mit solchen Fragen. Dass jegliche<br />

gesellschaftliche Veränderung schwer ist, auch wenn die Krisen noch so groß sind, ist<br />

eine Beobachtung, die wir bereits Antonio Gramsci zu verdanken haben. In seiner<br />

Analyse des italienischen Staates und der italienischen Gesellschaft nach der<br />

Niederlage des Ersten Weltkrieges, stellte er fest, dass fundamentale Krisen nicht<br />

automatisch zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel führen. Äußere<br />

„Erschütterungen“ alleine reichen demnach nicht aus, um einen gesellschaftlichen<br />

8 Siehe in diesem Buch, S....


Konsens zu verändern. Um einen neuen Konsens vorzubereiten, galt es daher für Gramsci<br />

an der Zivilgesellschaft [„società civile“] 9 anzusetzen, jenem gesellschaftlichen<br />

Ort, an dem Auseinandersetzungen um Werte und Imaginationen stattfinden, Wenn Gramsci<br />

vom „lotta per una nuova cultura, per un nuovo modo di vivere“ und von einem „lotta per<br />

una nuova civilità“ 10 gleichermaßen spricht, dann spielt er darauf an, dass das<br />

Kultursystem einer Gesellschaft der Ansatzpunkt von Veränderung ist. Auch wenn sich in<br />

vielen Punkten die gesellschaftlichen Eckdaten seiner damaligen Analyse verändert<br />

haben, scheinen seine Beobachtungen in Bezug auf die gesellschaftliche Rolle der<br />

Kultur aktueller denn je. Politische, ökonomische und soziale Auseinandersetzungen<br />

der Zukunft werden sich mehr und mehr im Bereich der Kultur abspielen, wenn es darum<br />

geht, Verständnis für umstrittene Maßnahmen, Akzeptanz oder Vertrauen angesichts<br />

massiver Einschnitte zu gewinnen, gesellschaftliche Perspektiven zu generieren,<br />

bestehende Herrschaftsstrukturen zu stützen oder auch zu kritisieren. In diesen<br />

Prozessen eines Aushandelns und Verhandelns von Werten und Identifikationen sehe ich<br />

kritisch-engagierte Kunst angesiedelt, auch wenn ihre Rolle zunächst geradezu Don<br />

Quichottesk anmuten mag. Wie bereits erwähnt, ist das (symbolische) Wertgefüge durch<br />

politischen Systemwechsel im Osten und ökonomischem Druck in Bewegung geraten und hat<br />

Verunsicherung produziert. Die von uns eingeladenen KünstlerInnen sehen es nicht als<br />

ihre Aufgabe an, diese Krisen zu kaschieren, zu überbrücken, oder aufzulösen, sie<br />

wissen, dass sie nicht „stellvertretend für Bildungssystem, Stadtplanung oder andere<br />

soziale Disziplinen operieren“ können (Kristina Leko). 11 Ihre Kunst ist aber sehr wohl<br />

dazu in der Lage, Veränderungen in den Wahrnehmungen und Einstellungen der Betroffenen<br />

zu erzeugen. Aus dieser Perspektive betrachtet gehen künstlerischen Arbeiten über<br />

rein symbolische Gesten hinaus, weil es plötzlich um die realen Konsequenzen dieser<br />

symbolischen Bildproduktion geht, d.h. um Veränderungen im Gesellschaftsgefüge, in<br />

den unmittelbaren Lebensumständen und den Alltagshandlungen.<br />

Wenn man die in Zusammenhang mit „Schrumpfenden Städten“ geführten Debatten Revue<br />

passieren lässt, so wird klar, dass es keine einfache Antwort auf die Frage nach der<br />

Rolle der Kunst in der Gesellschaft oder, in unserem Fall, nach ihrem Beitrag zum Thema<br />

Schrumpfung gibt. Sie ist wichtig, aber nicht per se kritisch. Sie kann durchaus<br />

affirmativ sein und in einer Komplizenschaft mit einer kapitalistischen<br />

Verwertungslogik aufgehen, wenn es um Aufwertungsstrategien, „Branding“ oder<br />

„Eventkultur“ geht. Gleichzeitig ist Kunst in der Lage, alternative Identifikationen<br />

zu fördern und (dissidente) Räume zu schaffen, in denen verschiedene Formen des<br />

Denkens und Handelns diskutiert, aber auch entwickelt, erprobt und verhandelt werden.<br />

Wir haben auch nach diesen drei Jahren keinen Konsens über das Projekt „Schrumpfende<br />

9 Unter Zivilgesellschaft verstand Gramsci eine Summe der Werte und Imaginationen wie auch die Summe der<br />

nicht-staatlichen und nicht-ökonomischen Institutionen (von der Familie zu den Kirchen, Gewerkschaften<br />

und Parteien) in einer gegebenen Gesellschaft.<br />

Siehe: Gramsci, A., Gefängnishefte, Hrsg. Von Haug, W. F., Hamburg, Berlin, 1994 ff.<br />

Gramsci, A., Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1980<br />

Zur Situation nach dem Ersten Weltkrieges und der Bereitstellung eines „Konsenspotentials“ für<br />

gesellschaftliche Krisenzeiten, siehe: Gramsci, A., Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte<br />

Schriften, Frankfurt a. M. 1980, S. 273<br />

10 Haug, W.F., Gramcsi und die Politik des Kulturellen, in: Das Argument 167, 1988, S. 32-48, hier: S. 37<br />

11 Kristina Leko, in diesem Buch, s....


Städte“ erzielt, weder im kuratorischen Team noch zwischen den unterschiedlich<br />

Beteiligten. Ich sehe dies jedoch als Chance, die Debatten weiterzuführen.<br />

Schließlich geht es genau um dieses Aushandeln und Verhandeln dessen, was diese<br />

Gesellschaft heute sein könnte.

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