Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis WS 02/03 - Institut für ...

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Zeit: Donnerstag 10-12 Dauer: 31.10.2002-06.02.2003 ECTS-Punkte: 7 »Historische Anthropologie« ist gegenwärtig das große Schlagwort, das die Geisteswissenschaften benutzen, um ihre Neudefinition als »Kulturwissenschaften« um eine gesicherte geschichtliche Perspektive zu erweitern. Theoretisch wird dabei jedoch weitgehend nur eine Reformulierung bekannter Positionen anderer Disziplinen geleistet, die von der Historik (Alltags- und Mentalitätsgeschichte), der Ethnographie (Ritual, Spiel) oder der neuen Gedächtnis- und Geschlechterforschung nun der Literaturwissenschaft integriert werden sollen. Die hermeneutische Tradition der eigenen Disziplin wird dabei – allen Bekenntnissen zur Postmoderne zum Trotz – wenig hinterfragt, und so ist das Resultat dieser Neuorientierung bisher eher enttäuschend bis trivial, zumal die Diskussion sehr stark unter dem Reformdruck steht, der von den gesellschaftlichen Erwartungen an Sinngebung oder Wertevermittlung durch die ehemaligen Geisteswissenschaften erzeugt wird. Die Vorlesung versucht, einen Überblick über den Diskussionsstand zu geben, aber auch eine Skizze zu entwerfen, was eine literaturwissenschaftliche »Historische Anthropologie« zu leisten hätte. Dazu bedürfte es einer Auseinandersetzung mit dem, was »Kultur« überhaupt ist, um festzustellen, wo überhaupt ein Ansatzpunkt für eine wissenschaftliche Beschreibung kultureller Produktionen vergangener Epochen liegen könnte. Dies ist nur dort möglich, wo ein Bruch mit den selbstverständlichen Wissensund Wertebeständen zum Tragen kommt. Deshalb wird sich die Vorlesung den großen Revolutionen in der Geschichte der europäischen Kultur zuwenden, die zu einer Selbstdistanzierung von eingefahrenen Weltdeutungsmuster hätten führen müssen, es jedoch in der Alltagserfahrung nur im beschränkten Ausmass getan haben. Die Sprengung des geschlossenen Weltbildes durch Kopernikus, Galilei, Bruno, Newton und Kant war ein solcher Vorgang, der den Menschen aus dem Zentrum an den Rand des Universums setzte. Er wurde begleitet von der Öffnung des eurozentrischen Horizonts durch die grossen Entdeckungen von Kolumbus bis zu James Cook, der die Relativierung der eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten hätte bewirken müssen. Die dritte Revolution war die Infragestellung der Stellung des Menschen im vertrauten theologischen Horizont von Naturgeschichte und Heilsgeschichte, die sowohl durch die naturgeschichtliche Forschung (besonders in der komparativen Anatomie) wie durch die Sprengung des Zeitgerüsts der biblischen Chronologie im 18. Jahrhundert bewirkt wurde. Die Literatur, die im Rahmen der Vorlesung behandelt wird, wird deshalb im Bezug auf diese drei Revolutionen ausgewählt. Es sind vor allem Texte der Neuzeit, mit Schwergewicht auf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in denen sich diese Probleme exemplarisch niederschlagen (u. a. Buffon, Diderot, Georg Forster, Goethe, Herder, Kant, Schiller, Wieland). Ein Reader wird nach der ersten Vorlesung bereitgestellt, sobald die ungefähre Anzahl der Hörerinnen und Hörer feststeht. 14 Vorlesung mit Übung: (Germanistik, Komparatistik, anrechenbar für Klassische Philologie) Zeit: Prof. Dr. Wolfgang Proß Die Radikalisierung antiken Wissens im 18. Jahrhundert: Antike Autoren in der europäischen Aufklärung Freitag 10-11 (Vorlesung) Freitag 11-12 (Übung) Dauer: 31.10.2002-06.02.2003 ECTS-Punkte: 3,5 (Vorlesung: 1,5/ Übung: 2) Die Bedeutung der antiken Tradition für die »Schöne Literatur« des 18. Jh.s im Bereich von Poetik, Rhetorik und Ästhetik ist geläufig. Was in der Regel unbekannt bleibt, ist die provozierende Rolle antiken Gedankenguts aus Naturwissenschaften, Philosophie, Religion und Politik. Die Bedeutung dieses Wissens steigert sich in der 2. Hälfte des Jahrhunderts, je mehr sich dieses durch die zunehmende Bedeutung des empirischen Wissens in Naturforschung und Gesellschaftstheorie aus den Fesseln der
15 Theologie und überkommener Vorstellungen befreit. Hippokrates gilt als bedeutendster Autor für Fragen der neuen Disziplin »Physische Geographie«; Herder und Goethe lesen Plinius und Lukrez als Grundlagentexte für neue Vorstellungen von der Dynamik des Kosmos. Diderot, in Vorahnung der Katastrophe, in der die Herrschaft Ludwigs XVI. enden wird, meditiert über Tacitus und die Rolle des Philosophen unter einem ungerechten Herrscher; Friedrich II. von Preußen läßt eine Übersetzung von Ciceros De officiis erstellen, um seinem Volk einen verbindlichen politischen Katechismus zu geben. Die Disziplinen Kulturtheorie, Geschichtsphilosophie und Politik sind ohne Rückgriffe auf Cicero, Diodor, Horaz, Lukrez oder Tacitus gar nicht denkbar. Eine besondere Rolle spielen – heute oft obskure – Autoren der pseudo-pythagoräischen Tradition (Okellos von Lukanien, Timaios von Lokroi) in den theologisch-philosophischen Streitigkeiten des späten 18. Jahrhunderts, die die Offenbarungsreligion aufs heftigste erschüttern; aber auch Vergil und Lucan erscheinen in diesem Kontext. Die Vorlesung entwirft ein Panorama dieser Probleme; die begleitende Übung regt zur Diskussion und genaueren Lektüre einiger Kernstellen der genannten Autoren an. Ein Reader wird erstellt und steht zu Beginn der Vorlesung zur Verfügung. Die Sekretariate des Germanistischen Instituts und des Instituts für Klassische Philologie nehmen Anmeldungen entgegen, um die Höhe der Auflage abschätzen zu können.
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