Artikel lesen (PDF) - Globetrotter
Artikel lesen (PDF) - Globetrotter
Artikel lesen (PDF) - Globetrotter
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
sibirien<br />
den Akyn bereit, einen Holzklotz mit Metallhaken<br />
und einer langen Schnur, lässt ihn über<br />
seinem Kopf kreisen und wirft ihn in weitem<br />
Bogen über die Robbe. Seine Treffsicherheit ist<br />
enorm, der erste Wurf sitzt. An der Schnur<br />
zieht er den Akyn zurück, dessen Haken sich<br />
in der Robbe verfangen haben. Jetzt folgt der<br />
riskanteste Teil der Jagd: Die Robbe muss aus<br />
dem Wasser heraus auf das Eis gezerrt werden.<br />
Seigutegin nähert sich dem Rand des Eises<br />
vorsichtig bis auf zwei Meter. Bedrohlich<br />
schwankt das dünne Eis unter seinen<br />
Füssen, doch schliesslich gelingt es<br />
ihm, die Robbe zu bergen. Die Jagd ist<br />
beendet.<br />
Mehr als eine Robbe pro Tag<br />
schiesst kein Jäger, zu lange und zu<br />
mühsam ist der Weg mit der schweren Last<br />
durchs Packeis zurück ins Dorf. Seigutegin<br />
schnürt Lederriemen um die Beute und<br />
schleift sie hinter sich her nach Hause.<br />
Das Wissen der Alten. Zurück im Dorf, fährt<br />
gerade Armayrgin mit seinem Buran, einem<br />
Schneemobil, vor. Armayrgin ist ein Phänomen.<br />
Er ist über 70 Jahre alt, geht aber noch<br />
immer sowohl im Winter als auch im Sommer<br />
auf die Jagd. Er ist sehr rüstig und gesund. Der<br />
Hauptgrund ist wohl, dass er absolut keinen<br />
Alkohol trinkt. Alkohol ist ein riesiges Problem<br />
in Tschukotka. Alt und Jung, Männer<br />
und Frauen, sogar schon Kinder verfallen<br />
dem meistens von Russen selbst gebrannten<br />
Schnaps. Der Alkohol ist denn auch schuld<br />
daran, dass die durchschnittliche Lebenserwartung<br />
der Tschuktschen bei mageren 42<br />
Nur noch die Alten<br />
wissen, wie man<br />
traditionelle Boote baut.<br />
Jahren liegt. Jagdunfälle und Erfrieren wegen<br />
Betrunkenheit sowie eine erschreckend hohe<br />
Selbstmordrate als Folge der mit dem Alkoholismus<br />
verbundenen Trostlosigkeit stehen an<br />
vorderster Stelle bei den Todesursachen. Auch<br />
Armayrgin war in seinen Jungendjahren nicht<br />
abstinent. Rechtzeitig hatte er aber gemerkt,<br />
dass der Alkohol sein Leben und das seiner<br />
Familie zerstört, und er hat seither keinen<br />
Tropfen mehr getrunken. Er war früher einer<br />
der besten Jäger im Dorf. Stolz hatte er mir bei<br />
meinem letzten Besuch den Leninorden präsentiert,<br />
mit dem er von der Sowjetunion für<br />
seine gute Arbeit ausgezeichnet wurde.<br />
Heute ist er einer der wenigen im Dorf,<br />
die einen noch fahrtüchtigen Buran besitzen.<br />
Dieses Schneemobil aus sowjetischer Produktion<br />
war früher weit verbreitet. Mit dem wirtschaftlichen<br />
und politischen Zusammenbruch<br />
Anfang der Neunzigerjahre fehlte es aber<br />
plötzlich an Ersatzteilen und Benzin. Aus<br />
purer Notwendigkeit kehrten die Tschuktschen<br />
vermehrt zu ihrer ursprünglichen, autarken<br />
Lebensart zurück. Hundeschlitten<br />
übernahmen wieder die Rolle der Buran, welche<br />
derweil verrosteten und zerfielen.<br />
Ähnlich verhält es sich mit einem anderen<br />
Transportmittel: Statt der früher vom Staat<br />
zur Verfügung gestellten Holzboote werden<br />
wieder vermehrt Bajdaren gebaut. Nur noch<br />
die Alten hatten das Wissen, wie man diese<br />
traditionellen Tschuktschen-Boote baut. Beinahe<br />
wäre die Fähigkeit zum autarken Leben<br />
in der Polarregion, in der acht Monate bitterste<br />
Winterkälte herrscht, verloren gegangen.<br />
So kam der Zusammenbruch der Sowjetunion<br />
für die Tschuktschen gerade noch<br />
rechtzeitig, denn noch lebten die Alten und<br />
konnten ihr einstmals überlebenswichtiges<br />
Wissen dem Nachwuchs weitergeben.<br />
Hinter Armayrgins Buran hängt ein Schlitten<br />
mit einer aufgebundenen kleinen Bajdara.<br />
Das Boot ist nur etwa zwei Meter lang und<br />
dient dem Bergen erlegter Robben, falls dies<br />
mit dem Akyn nicht gelingt. Die grossen Bajdaren<br />
für die Sommerjagd sind bis 10 Meter<br />
lang. Jetzt im Winter lagern sie aufgebockt auf<br />
Holzgestellen und leeren Ölfässern. Es steckt<br />
sehr viel Arbeit hinter einem solchen Jagdboot.<br />
Basis einer Bajdara ist ein Holzrahmen.<br />
Da in der Tundra weit und breit kein Baum<br />
wächst, muss am Ufer dafür geeignetes<br />
Schwemmholz gesucht werden. Der Holzrahmen<br />
wird mit Wallrosshäuten bespannt. Je<br />
nach Grösse der Bajdara und der Wallrosse<br />
braucht es drei bis fünf Häute, welche zuerst<br />
eingeweicht und dann miteinander vernäht<br />
werden. Tagelang werken die Jagdgemeinschaften<br />
im Sommer an ihren Booten. An<br />
Stelle von Paddel und Segel sorgen heute Aussenbordmotoren<br />
für den Antrieb.<br />
Damals im Sommer. In der Vergangenheit<br />
war ich während zweier Sommer mit Armayrgin<br />
und seiner Mannschaft auf der Jagd. Auch<br />
im Sommer diktiert das Wetter das Geschehen.<br />
Mal weht der Wind zu stark, sodass die<br />
hohen Wellen ein Auslaufen der Jagdboote<br />
verhindern. Oder es bläst ein ablandiger Wind,<br />
der es einem Boot mit schwerer Jagdbeute verunmöglicht,<br />
zur Küste zurückzukehren.<br />
Es passiert aber auch, dass wegen einem<br />
Fest, einer Beerdigung oder ganz einfach wegen<br />
des Zahltags keine Jagd stattfindet, da ein<br />
Grossteil der Mannschaft ein paar Tage wegen<br />
winter 2009 GLOBETROTTER-MAGAZIN 29