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Rede zur Entlassung der Abiturientinnen und Abiturienten 2008 von ...

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Abirede <strong>2008</strong> „Auf <strong>der</strong> Suche nach dem geheimen Wort"<br />

Liebe Eltern, liebe Patchworker, liebe Anverwandte, Fre<strong>und</strong>innen<br />

<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e, Sympathisantinnen <strong>und</strong> Sympathisanten, liebe<br />

Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen,<br />

aber vor allem: Liebe <strong>Abiturientinnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Abiturienten</strong>,<br />

ihr habt diesen Wunsch geäußert <strong>und</strong> ich komme ihm gerne nach:<br />

ein letztes Mal wünsche ich euch<br />

„einen zauberschönen guten Morgen!"<br />

Womit wir im Gr<strong>und</strong>e auch schon beim Thema wären, aber dazu<br />

später mehr...<br />

Ein Teil des Abijahrgangs <strong>2008</strong> hat mich dazu auserkoren <strong>und</strong><br />

gebeten, die diesjährige Abiturrede zu halten. Ich fühle mich ob<br />

dieses Antrags sehr geehrt <strong>und</strong> habe diese Aufgabe gerne<br />

übernommen. Obwohl ich sagen muss, dass ich in diesen Dingen<br />

nicht son<strong>der</strong>lich geübt bin, da meine letzte Abiturrede schon ein<br />

Weilchen <strong>zur</strong>ückliegt, um genauer zu sein bereits 21 Jahre.<br />

Damals, 1987, stand ich auf einem ähnlichen Podium wie diesem<br />

<strong>und</strong> sprach als Schülervertreterin vor meinem Abijahrgang.<br />

Seinerzeit noch echt cool in schwarzer Motorrad-Le<strong>der</strong>hose,<br />

hellbraunen Wildle<strong>der</strong>stiefeln <strong>und</strong> im weißen Knitterhemd. Ich<br />

möchte nicht weiter auf die Modesünden <strong>der</strong> 80er Jahre eingehen;<br />

alle, die sie erlebt haben, wissen, wessen wir uns schuldig<br />

gemacht haben. Aber es war damals – zumindest in weiten Teilen<br />

meiner Generation - wichtig, auch durch das gepflegt ungepflegte<br />

Äußere dem „Establishment" unsere Protesthaltung aufzudrängen<br />

<strong>und</strong> möglichst „anti" zu sein: antikapitalistisch, antifaschistisch,<br />

antiumweltverschmutzerisch, anti-Atomkraft, antiausbeuterisch,<br />

antiaufrüsterisch, antianpasserisch, anti-anti. Und das hatte seine<br />

Gründe: Den sog. Kalten Krieg gab es damals noch, auch wenn er<br />

in den letzten Zügen lag <strong>und</strong> ein Hauch <strong>von</strong> Perestroika uns schon<br />

aus dem Osten anwehte; aber noch wurde wettgerüstet, was das<br />

Zeug hielt <strong>und</strong> man lebte in <strong>der</strong> beständigen Angst, dass<br />

entwe<strong>der</strong> <strong>der</strong> Cowboypräsident im Westen o<strong>der</strong> sein sowjetisches<br />

Pendant im Osten auf den roten Knopf drücken könnte <strong>und</strong> wir<br />

alle im Handumdrehen atomar pulverisiert werden würden.


Mit dieser Angst, lieber Abijahrgang <strong>2008</strong>, müsst ihr euch heute<br />

nicht mehr herumschlagen, denn das ist lange her. Für euch<br />

ohnehin: GESCHICHTE. Das ist mir spätestens in dem Moment<br />

erschreckend klar geworden, als mich ein Kurs bat: „Erzählen Sie<br />

doch mal, wie war das in den 80ern!" Und ich dachte: „Hmm?<br />

Wieso? Das war doch gerade erst. O<strong>der</strong>? Und jetzt bin ich schon<br />

Zeitzeugin?" Und mir wurde schlagartigbewusst: „Oh mein Gott,<br />

ich könnte ihre Mutter sein!" Über die tiefe Krise, in die mich diese<br />

Erkenntnis gestürzt hat, will ich jetzt nicht weiter lamentieren.<br />

Vielmehr habe ich mich gefragt, was euch heute bewegt, mit<br />

welchen Gegebenheiten, mit welchen Problemen sich eure<br />

Generation auseinan<strong>der</strong>setzen muss – abgesehen natürlich <strong>von</strong><br />

den ewig aktuellen wie Schulstress, Verliebtsein , <strong>der</strong> schwierigen,<br />

tagtäglichen Entscheidung, die euch die Kleidungsfrage<br />

abverlangt, dem Generve <strong>der</strong> uneinsichtigen, alles besser<br />

wissenden Erziehenden o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vektorrechnung.<br />

Da ich es aber nicht wirklich wusste, habe ich mal rumgefragt <strong>und</strong><br />

folgende Fragen <strong>zur</strong> Antwort erhalten:<br />

Welche Chancen <strong>und</strong> welche Verpflichtungen haben wir<br />

in einer globalisierten Welt?<br />

Wie sollen wir mit unserer Verantwortung <strong>der</strong> Umwelt<br />

gegenüber umgehen? Werden unsere möglichen<br />

Maßnahmen nicht viel zu spät kommen? O<strong>der</strong> ist dieses<br />

ganze Gerede über Er<strong>der</strong>wärmung, Klimawandel etc.<br />

nicht ohnehin Unsinn?<br />

Wird uns die Zukunft eine zunehmende soziale Kälte<br />

bringen, in <strong>der</strong> wir sehen müssen, wo wir bleiben. O<strong>der</strong><br />

hat das Solidaritätsprinzip noch eine Chance?<br />

Wie wird sich <strong>der</strong> Arbeitsmarkt entwickeln? Und werden<br />

wir unsere Nische darin finden?<br />

Was wird überhaupt nach dem Abitur sein? Wohin<br />

werden wir <strong>von</strong> hieraus gehen? Welchen Weg werden<br />

wir einschlagen? Und wird es <strong>der</strong> richtige sein?<br />

Wie werden wir leben? Und wo?<br />

Wen werden wir lieben? Und wer uns?


Werden wir glücklich werden? O<strong>der</strong> reich?!<br />

Welche Antworten kann man (wenn überhaupt) auf solche Fragen<br />

finden? Die Mathematiker könnten euch vermutlich die<br />

Wahrscheinlichkeit einer gutbezahlten Anstellung in <strong>der</strong> IT-<br />

Branche im Jahre 2016 errechnen. Die Physiker würden im<br />

Hinblick auf die Frage, wie ihr den richtigen Partner findet,<br />

vielleicht Newton zitieren <strong>und</strong> sagen: „Jede Anziehung ist<br />

wechselseitig.", während die Bio-Chemiker die Formel kennen, die<br />

angeblich das Liebessyndrom in unserem Gehirn auslöst: C6 H5<br />

(OH2) CH3. Vielleicht lässt sich mit dieser Information in Zukunft<br />

etwas Amouröses arrangieren. Wer lieber die traditionelle<br />

Variante wählt, lässt sich <strong>von</strong> den Franzosen möglicherweise<br />

sagen: „C ´est ca" o<strong>der</strong> „Il pleut toujours". Spanier <strong>und</strong> Englän<strong>der</strong><br />

würden vielleicht das alte Lied anstimmen: Ce cera cera, what<br />

ever will be will be... Auch dies sind eventuell adäquate Antworten<br />

auf oben gestellte Fragen...<br />

Mag sich jede <strong>und</strong> je<strong>der</strong> <strong>von</strong> euch das Passende aussuchen. Die<br />

Deutschlehrerin <strong>und</strong> Romantikerin in mir hat etwas an<strong>der</strong>es für<br />

euch gef<strong>und</strong>en. Ein kleines Gedicht <strong>von</strong> Joseph <strong>von</strong> Eichendorff.<br />

Es heißt „Wünschelrute"; die Damen <strong>und</strong> Herren meines<br />

Deutschkurses können es auswendig (<strong>und</strong> haben es mir<br />

liebenswerter Weise in den mündlichen Abiturprüfungen<br />

aufgesagt) :<br />

Es geht so:<br />

„Schläft ein Lied in allen Dingen,<br />

die da träumen fort <strong>und</strong> fort,<br />

<strong>und</strong> die Welt hebt an zu singen,<br />

triffst du nur das Zauberwort."<br />

Jetzt mag man sagen, die Romantiker hatten leicht schwatzen mit<br />

ihrer Universalpoesie im Rücken <strong>und</strong> einem grantelnden Goethe in<br />

Frontstellung, <strong>der</strong> sie „krank" fand. Zugegeben, es ist<br />

verführerisch, in allem einen Zusammenhang zu sehen, die<br />

Grenzen aufzuheben, sich zu „transzendieren" <strong>und</strong> noch dazu den<br />

Dichterfürst in offener Feindschaft mit <strong>der</strong> eigenen


Kunstauffassung zu wissen. Wer kann heutzutage noch solches<br />

<strong>von</strong> sich behaupten? Vielleicht sind wir lau geworden in unseren<br />

Emotionen, vielleicht fällt es uns schwer, sie zu zeigen, weil die<br />

Welt sich so oft vor uns verschließt. Aber wer sagt denn, dass die<br />

„Wünschelrute" bei uns heute nicht mehr funktionieren kann?<br />

„Schläft ein Lied in allen Dingen". Was soll das überhaupt heißen?<br />

Ich glaube, es bedeutet, dass in allem, was uns/ euch umgibt,<br />

etwas steckt, das erweckt werden kann aus dem schon so lange<br />

währenden, traumgesättigten Schlaf. Und dass ihr die Welt, eure<br />

Welt zum Klingen bringen könnt, wenn, ja, <strong>und</strong> jetzt kommt <strong>der</strong><br />

vermeintliche Haken, wenn ihr das Zauberwort trefft. Na, toll,<br />

könnt ihr jetzt sagen, <strong>und</strong> welches ist DAS Zauberwort?! In einer<br />

Welt voller profaner, gelangweilter Muggel, für die das höchst<br />

zauberhafte eine Show namens „The next Uri Geller" ist. Und<br />

sowieso alles bloß mehr o<strong>der</strong> weniger teure Tricks, die uns<br />

weismachen wollen, es gäbe so etwas wie Magie tatsächlich noch<br />

in unserer Welt, in <strong>der</strong> alles, sogar Mathematik, offensichtlich<br />

erklärbar <strong>und</strong> durchschaubar ist. In einer Welt, die aus Einsen <strong>und</strong><br />

Nullen zu bestehen scheint <strong>und</strong> in <strong>der</strong> wir vielleicht auch gar nicht<br />

mehr sein können als eine kleine o<strong>der</strong> mittelgroße Nummer.<br />

Antwortet <strong>der</strong> Romantiker (in diesem Fall Novalis):<br />

„Wenn nicht mehr Zahlen <strong>und</strong> Figuren<br />

sind Schlüssel aller Kreaturen,<br />

Wenn die, so singen o<strong>der</strong> küssen,<br />

Mehr als die Tiefgelehrten wissen<br />

Wenn sich die Welt ins freie Leben,<br />

Und in die Welt wird <strong>zur</strong>ückbegeben,<br />

Wenn dann sich wie<strong>der</strong> Licht <strong>und</strong> Schatten<br />

Zu echter Klarheit werden gatten,<br />

Und man in Märchen <strong>und</strong> Gedichten<br />

Erkennt die ew´gen Weltgeschichten,<br />

Dann fliegt vor einem geheimen Wort


Das ganze verkehrte Wesen fort."<br />

Und da haben wir es wie<strong>der</strong>. DAS Wort, das geheime Wort, das<br />

Zauberwort muss her, um den Riss in unserer Welt zwischen Ratio<br />

<strong>und</strong> Emotio zu heilen, sodass sich euch (uns?) die Welt aufs Neue<br />

erschließen kann.<br />

Ich kann euch das Wort nicht nennen. Aber ich weiß, es existiert.<br />

Für jede <strong>und</strong> jeden <strong>von</strong> euch. Ihr seid es nun, die da hinaus<br />

müsst, in die Welt, aufgefor<strong>der</strong>t, nein, besser eingeladen, es zu<br />

suchen <strong>und</strong> zu finden. Das wird spannend, ein großes Abenteuer,<br />

denn euch steht die Welt offen, zumal jetzt, da ihr immerhin<br />

schon den Schlüssel <strong>der</strong> Qualifikation mit eurem „Reifezeugnis" in<br />

den Händen haltet.<br />

Wenn ihr <strong>zur</strong>ückschaut auf die sieben Jahre, die ihr hier am<br />

Hainberg-Gymnasium verbracht habt, werdet ihr euch vielleicht<br />

erinnern, wie ihr als hoffnungsfrohe, recht unverbrauchte 12 bis<br />

13jährige Mädchen <strong>und</strong> Jungs in <strong>der</strong> 7. Klasse begonnen habt.<br />

Wie ihr dann die Widrigkeiten <strong>der</strong> Pubertät durchlebt <strong>und</strong><br />

durchlitten <strong>und</strong> euch sicher häufig gerieben habt an dieser<br />

Institution Schule mit all ihren Haken <strong>und</strong> Ösen. Und wie ihr dann,<br />

als <strong>der</strong> Hormon-Ansturm (bei den meisten <strong>von</strong> euch) allmählich<br />

abebbte, in die Oberstufe eingetreten seid, die euch viel<br />

abverlangt hat: eine enorm hohe Arbeitsbelastung mit bis zu 37<br />

Wochenst<strong>und</strong>en, das Ringen um die <strong>und</strong> mit <strong>der</strong> Facharbeit, die<br />

kraftzehrende Arbeit in den gerade neu erf<strong>und</strong>enen EA-Kursen,<br />

die nur noch vierstündig angesetzt waren, aber ein ebenso<br />

intensives Eintauchen in die Materie <strong>von</strong> euch verlangten, wie die<br />

im Jahr zuvor zu Grabe getragenen Leistungskurse. In gewisser<br />

Weise wart ihr auch Versuchskaninchen eines vorher nicht<br />

erprobten Modells. Und ihr habt euch tapfer geschlagen. In etwa<br />

so, wie die Maus, die in den Milchtopf fällt <strong>und</strong> so lange paddelt,<br />

bis sie auf Butter sitzt. Wobei man einräumen muss, dass<br />

vielleicht nicht alle gleich intensiv getreten <strong>und</strong> manche es auch<br />

nicht bis zum Abschluss geschafft haben.<br />

Dann kamen die Vorabi-Klausuren; eine Zeit, in <strong>der</strong> viele <strong>von</strong><br />

euch nur noch wie Schatten ihrer selbst wirkten <strong>und</strong> auffallende<br />

Ähnlichkeit hatten mit den Gestalten, die am Verkleidungstag<br />

unter dem Motto „Schizophrabi" durch die Schule geisterten.<br />

Und am Ende die Krönung: Die Abiturprüfungen. Und was musstet<br />

ihr nicht alles wissen! Ich habe mal ein wenig in den Themen des


schriftlichen Abiturs gestöbert <strong>und</strong> Erstaunliches zutage geför<strong>der</strong>t.<br />

Hier eine kleine Auswahl:<br />

„Das Ökosystem Wald im Wechselspiel abiotischer <strong>und</strong><br />

biotischer Faktoren" (Bio)<br />

„Bombay – Millionenstadt auf dem Weg <strong>zur</strong> Metropole"<br />

(EK)<br />

„Jenseits <strong>von</strong> Öl <strong>und</strong> Gas: die Methanolwirtschaft" (CH)<br />

„Imperialismus aus dem Blickwinkel Chinas" (GE)<br />

„Gottesbegriff <strong>und</strong> Religionspolitik" (RE)<br />

„Globalisierung <strong>und</strong> Verteilung" (POL)<br />

„Erarbeitung eines Story-Boards aus Franz Kafkas<br />

Erzählung >>Die Vorüberlaufenden


Wenn man sich all diese Themen so anschaut, kann man wohl zu<br />

<strong>der</strong> Erkenntnis gelangen, dass ihr ein solch umfassendes, breit<br />

gefächertes Wissen, wie ihr es jetzt besitzt, in eurem Leben<br />

vermutlich nicht wie<strong>der</strong> erlangen werdet. Aber nun könnt ihr euch<br />

ja auf eure Fach- <strong>und</strong> Interessensgebiete konzentrieren <strong>und</strong> euch<br />

das erworbene Wissen als Ausgangspunkt zunutze machen.<br />

Aber nicht nur um Wissensvermittlung <strong>und</strong> Wissenserwerb ist es<br />

gegangen in den zwei Jahren harter Oberstufenarbeitszeit, die wir<br />

Lehrenden <strong>und</strong> Lernenden miteinan<strong>der</strong> verbracht haben; auch<br />

o<strong>der</strong> gerade das Zwischenmenschliche war oft das Verbindende:<br />

Wenn ich diesbezüglich an diese Zeit, die ich mit vielen <strong>von</strong> euch<br />

erleben, durchleiden <strong>und</strong> durchfreuen durfte, <strong>zur</strong>ückdenke, fallen<br />

mir viele schöne, anrührende, witzige, vertrackte <strong>und</strong> erhebende<br />

Momente ein: hier ein kleines Sammelsurium:<br />

<strong>der</strong> Kampf meines Geschichtskurses gegen die<br />

Spätantike <strong>und</strong> die (bis hinein in die Abiturklausur)<br />

immer wie<strong>der</strong>kehrende Frage: War Konstantin wirklich<br />

ein Großer? Und wen interessiert das überhaupt?<br />

Die schöne Tradition (v.a.) <strong>der</strong> Herrenriege meines<br />

Deutschkurses, am Anfang je<strong>der</strong> St<strong>und</strong>e immer wie<strong>der</strong><br />

zu fragen, ob wir denn heute endlich „Kill Bill II"<br />

gucken<br />

Unsere Kursfahrt nach Venedig, bei <strong>der</strong> sich manche<br />

eher für die gefakten Edelhandtaschen als für die<br />

Kunstschätze <strong>der</strong> Lagunenstadt interessierten. Und<br />

an<strong>der</strong>e – nach entnerven<strong>der</strong> Gruppen-Odyssee durch<br />

die Labyrinthe <strong>der</strong> Gassen - mehrfach betonten:<br />

„Morgen gehe ich alleine."<br />

Auch <strong>der</strong> Nachmittag unseres Abreisetages am<br />

Campingplatzstrand, an dem einige<br />

Kursteilnehmerinnen des Deutsch EA-Kurses ihre<br />

Findigkeit im Meer-Wassertransport (per M<strong>und</strong>!)<br />

bewiesen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e Geschick darin zeigten, an<br />

Schnüren befestigte Tampons in Wasserflaschen zu<br />

versenken (so was nennt man vermutlich<br />

„fächerübergreifenden Unterricht")<br />

Ebenso die wun<strong>der</strong>volle Rückfahrt im Bus <strong>von</strong> Venedig<br />

nach Göttingen, in <strong>der</strong> ich kein Auge zutat, aber in den


frühen Morgenst<strong>und</strong>en – dank <strong>der</strong> hinter mir sitzenden<br />

Patti– jedes schmutzige Detail <strong>der</strong> Skifreizeit kannte<br />

<strong>und</strong> alles über sämtliche TV-Casting-Shows wusste<br />

Sowie unsere Gruselnacht im Trierer „Waldschlösschen"<br />

– Tarnname: „Sportjugendhotel" - <strong>und</strong> Pauls äußerst<br />

einfühlsame Nachfrage auf dem Weg durch den<br />

stockfinsteren Wald: „Frau Rellecke, kennen sie<br />

eigentlich den Film „Blair Witch Project"?<br />

Der Humor <strong>und</strong> die Unerschrockenheit meines<br />

Geschichtskurses in eben jener Nacht in jenem Trierer<br />

„Bates Motel". Und <strong>der</strong> „Morgen danach", als Sobana<br />

mit to<strong>der</strong>nster Miene den Frühstücksraum betrat <strong>und</strong><br />

mit Grabensstimme sagte: „Frau Rellecke. Wir sind alle<br />

krank. Es kommt aus den Matratzen."<br />

Unsere Ratespiele auf <strong>der</strong> Rückfahrt <strong>von</strong> Trier, in <strong>der</strong><br />

Marius <strong>und</strong> Philipp mich nie „Spi<strong>der</strong>schwein" o<strong>der</strong> eine<br />

an<strong>der</strong>e Figur aus <strong>der</strong> Familie Simpson sein ließen <strong>und</strong><br />

geduldig immer wie<strong>der</strong> versicherten: „Nein, Frau<br />

Rellecke, Sie sind nicht gelb."<br />

Schön waren auch die Verkleidungstage, obwohl nicht<br />

alle Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen diesen Eindruck teilen.<br />

Dennoch gab es einige hübsche Szenen, z.B. als im<br />

Geschichtskurs sehr ernsthaft in Dirndl o<strong>der</strong><br />

bayerischen Le<strong>der</strong>hosen Referate über den<br />

Imperialismus <strong>und</strong> die Spätantike gehalten wurden.<br />

Es gäbe noch viele an<strong>der</strong>e Momente in <strong>der</strong> Zeit mit euch, an die<br />

ich gerne <strong>zur</strong>ückdenke, weil sie uns auf unterschiedliche Art <strong>und</strong><br />

Weise einan<strong>der</strong> nah gebracht haben. Und weil es vielleicht auch<br />

Augenblicke sind, an die ihr euch noch lange erinnern werdet.<br />

Aber ich lasse es bei diesen bewenden. Nur eines noch: Schade<br />

finde ich es nach wie vor, dass Julius nicht – wie eigentlich<br />

abgemacht – an meinem 40. wenig bis kaum bekleidet aus <strong>der</strong><br />

Geburtstagstorte gesprungen ist. Aber möglicherweise lässt sich<br />

das noch irgendwann nachholen, vielleicht an meinem 50zigsten...<br />

Wie dem auch sei. All dies liegt nun hinter euch. Und vor euch<br />

liegt eine Welt außerhalb <strong>der</strong> Schule, die erschlossen werden will.<br />

Und es ist nun an euch, die Welt, eure Welt zum Singen zu<br />

bringen, sozusagen euren eigenen Song zu komponieren. Es geht


also mehr o<strong>der</strong> weniger um gelungenes Sampling. Wir wissen<br />

zwar, dass heutzutage sowieso „alles nur geklaut" ist <strong>und</strong> bei<br />

vielen Lie<strong>der</strong>n fragt man sich: „Was war mit dem Original nicht in<br />

Ordnung?!" Aber da<strong>von</strong> solltet ihr euch nicht abschrecken lassen.<br />

Es gibt viele gelungene Coverversionen, die wie<strong>der</strong> etwas ganz<br />

Eigenes, Originales, Originelles haben.<br />

Lasst euch nicht beirren auf eurem Weg, auf den ich euch zum<br />

Schluss noch die Worte eines ganz großen Kleinen mitgeben<br />

möchte: Johann Christoph Lichtenberg, den ihr vor dem alten<br />

Rathaus in Originalgröße bestaunen könnt, schrieb 1788:<br />

„Zweifle an allem wenigstens einmal, <strong>und</strong> wäre es auch <strong>der</strong> Satz:<br />

zweimal 2 ist 4."<br />

Will sagen: Fragt nach, bleibt kritisch, lasst euch nichts<br />

weismachen, vor allem nicht <strong>von</strong> den tumben Seelenfängern am<br />

rechten Rand. Ihr seid Absolventen einer Unesco-Schule. Ihr habt<br />

gelernt, mit an<strong>der</strong>en zu leben, <strong>von</strong> an<strong>der</strong>en zu lernen, ihr seid in<br />

<strong>der</strong> Lage, euch <strong>von</strong> Vorurteilen frei zu machen <strong>und</strong> euer eigenes,<br />

differenziertes Urteil zu fällen. Wir hoffen zumindest, dass wir<br />

euch diese „Kernkompetenz" haben mitgeben können auf eurem<br />

weiteren <strong>und</strong> hoffentlich weit reichenden Weg ins Leben.<br />

Ich wünsche euch <strong>von</strong> Herzen, dass ihr eurer Zauberwort findet,<br />

das euch die Welt erschließt, auf dass ihr ein ungebeugtes,<br />

aufrechtes, selbstbestimmtes <strong>und</strong> glückliches Leben führen mögt.<br />

Vielen Dank!<br />

Ulla Rellecke<br />

geschrieben Mai-Juni <strong>2008</strong>

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