07.11.2013 Aufrufe

Download der Leseprobe als PDF - Piraten in Port de Sóller

Download der Leseprobe als PDF - Piraten in Port de Sóller

Download der Leseprobe als PDF - Piraten in Port de Sóller

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Das Orangental von <strong>Sóller</strong> auf Mallorca ist wun<strong><strong>de</strong>r</strong>schön, wenn<br />

man Natur und Berge liebt. Bei<strong>de</strong>s ist Gesa und Paul herzlich<br />

egal. Sie wollen ungestört – und vor allem unerkannt – e<strong>in</strong> paar<br />

schöne Tage verbr<strong>in</strong>gen und lan<strong>de</strong>n im schmud<strong>de</strong>ligen, kle<strong>in</strong>en<br />

Hotel von Madame <strong>in</strong> <strong>Port</strong> <strong>de</strong> <strong>Sóller</strong>. Die französische Hotelchef<strong>in</strong><br />

erkennt <strong>in</strong> <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n zwar sofort luxusverwöhnte Kun<strong>de</strong>n,<br />

behan<strong>de</strong>lt sie aber wie alle ihre Gäste: e<strong>in</strong>fach und ohne<br />

Schnickschnack. Es könnte <strong><strong>de</strong>r</strong> perfekte Liebesurlaub wer<strong>de</strong>n –<br />

wenn Gesas Zweifel nicht wären und <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann an ihrer Seite nicht<br />

etwas ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>es im Schil<strong>de</strong> führen wür<strong>de</strong>. Während die bei<strong>de</strong>n<br />

<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Strandbar E<strong>in</strong>heimischen und Touristen beim alljährlichen<br />

„Firó“ zuschauen, ziehen über <strong>de</strong>n Bergen bedrohliche<br />

Wolken auf. Mitten im Mai wird es plötzlich eiskalt. Bauarbeiter<br />

Luis, ebenfalls Gast <strong>in</strong> <strong>de</strong>m kle<strong>in</strong>en Hotel, hält es für e<strong>in</strong>e witzige<br />

Laune <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur. Doch <strong>in</strong> Wirklichkeit ist es nur e<strong>in</strong> Zeichen<br />

dafür, dass die Geschichte se<strong>in</strong>es Lebens e<strong>in</strong>e dramatische Wendung<br />

nimmt. Schuld daran s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> paar <strong>Piraten</strong>. Der Wettlauf<br />

um Leben und Tod, Liebe und Geld kann beg<strong>in</strong>nen.<br />

© 2012 Christiane Döntgen, Düsseldorf<br />

Lektorat: Melanie Qua<strong>de</strong><br />

Umschlaggestaltung: Nicole Schönbeck<br />

Das Werk e<strong>in</strong>schließlich se<strong>in</strong>er Teile ist<br />

urheberrechtlich geschützt. Je<strong>de</strong> Verwertung<br />

ist ohne Zustimmung <strong><strong>de</strong>r</strong> Autor<strong>in</strong> unzulässig.<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

Der Roman ist unter www.epubli.<strong>de</strong>/shop <strong>als</strong> Druckausgabe<br />

und E-Book sowie u.a. im Amazon K<strong>in</strong>dle Store sowie Apple<br />

iBookstore <strong>als</strong> E-Book verfügbar.<br />

2


1<br />

Sonntag, 9. Mai 2010<br />

Madame Zigurés erster Blick auf ihre Gäste g<strong>in</strong>g über <strong>de</strong>n<br />

Rand ihrer Brille und <strong>de</strong>n Tresen vor ihr direkt unter das K<strong>in</strong>n<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Neuankömml<strong>in</strong>ge. Sie hatte sich angewöhnt, erst dann aufzusehen,<br />

wenn wirklich jemand vor ihr stand. Je<strong>de</strong>m entgegenzuschauen<br />

hielt sie von <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit ab und war e<strong>in</strong> zweckloses<br />

Unterfangen: Die Rezeption war <strong>in</strong> die freie Nische zwischen<br />

Aufzugschacht und Speisesaal e<strong>in</strong>gefasst. Von hier aus konnte<br />

man <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>gang nur erkennen, wenn man sich aufrecht h<strong>in</strong>stellte<br />

und nach rechts über die kle<strong>in</strong>e Regalfläche reckte. Von dort<br />

spähte man zwischen zwei <strong><strong>de</strong>r</strong> dicken Holzstreben h<strong>in</strong>durch, die<br />

<strong>de</strong>n Speisesaal und die E<strong>in</strong>gangshalle von <strong><strong>de</strong>r</strong> Rezeption trennten.<br />

Das kostete unnötig Zeit. Madame wartete, bis die Gäste zu<br />

ihr kamen. Ihnen blieb ohneh<strong>in</strong> nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es übrig.<br />

So lernte Madame Ziguré je<strong>de</strong>n Gast zunächst <strong>als</strong> Brustbild kennen<br />

und schaute dann kurz <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Gesicht – was ihr zur Klassifizierung<br />

<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Regel vollkommen genügte. Nach fast 35 Jahren<br />

im Hotelgewerbe – die meisten davon <strong>in</strong> ihrem eigenen Betrieb<br />

– lag sie nur selten daneben. Um <strong>in</strong> <strong>de</strong>m für die Branche üblichen<br />

Bewertungssystem zu bleiben, vergab sie für ihre Gäste Sterne.<br />

Ihr Hotel mit 46 Zimmern hatte es zu zwei Sternen <strong><strong>de</strong>r</strong> Lan<strong>de</strong>skategorie<br />

gebracht. Ihre weniger anspruchslosen Gäste konnten<br />

nur ahnen, was dies für E<strong>in</strong>-Stern-Häuser be<strong>de</strong>utete; sie wür<strong>de</strong>n<br />

es aber unter ke<strong>in</strong>en Umstän<strong>de</strong>n erleben wollen. E<strong>in</strong> bisschen<br />

Schimmel am Duschvorhang, Staubwollmäuse am Bo<strong>de</strong>n, die<br />

fl<strong>in</strong>k durchs Zimmer huschten, wenn man Tür o<strong><strong>de</strong>r</strong> Fenster öffnete,<br />

e<strong>in</strong> Haar <strong>de</strong>s Vorgängers im Abfluss <strong><strong>de</strong>r</strong> Dusche, Staub auf<br />

<strong>de</strong>n Schranke<strong>in</strong>legebö<strong>de</strong>n (soweit diese überhaupt vorhan<strong>de</strong>n<br />

waren), Zigarettenasche hier und da – all das zeichnete die Lan<strong>de</strong>skategorie<br />

»Zwei Sterne« <strong>in</strong> diesem Haus aus. »E<strong>in</strong> Stern«<br />

wur<strong>de</strong> wahrsche<strong>in</strong>lich niem<strong>als</strong> vergeben – und wenn doch, dann<br />

nur an solche Häuser, vor <strong>de</strong>nen man warnen wollte.<br />

3


Auch bei <strong>de</strong>n Gästen waren diejenigen mit nur e<strong>in</strong>em Stern<br />

natürlich die Schlimmsten. Menschen dieser Ziguréschen Kategorie<br />

waren sehr, sehr or<strong>de</strong>ntlich. Sie beschrieben ihren Anspruch<br />

an e<strong>in</strong> anständig geführtes Hotel mit <strong>de</strong>n Worten »Hauptsache<br />

sauber« und stuften sich damit <strong>in</strong> ihrer Selbste<strong>in</strong>schätzung<br />

<strong>als</strong> höchst anspruchslos e<strong>in</strong>. Alles an<strong><strong>de</strong>r</strong>e war ihnen völlig egal:<br />

nur bitte eben ke<strong>in</strong>e Haare im Abfluss und ke<strong>in</strong> Staub auf <strong>de</strong>n<br />

Schränken. Hauptsache-sauber-Gäste waren Querulanten und<br />

<strong>als</strong> solche zu behan<strong>de</strong>ln. Madame erkannte sie auf <strong>de</strong>n ersten<br />

Blick und schickte sie <strong>in</strong> ihre unangenehmsten Zimmer. Kaum<br />

hatten sie <strong>de</strong>n Weg dorth<strong>in</strong> angetreten, wettete Madame mit sich<br />

selbst, wann Herr o<strong><strong>de</strong>r</strong> Frau Sauber o<strong><strong>de</strong>r</strong> am besten bei<strong>de</strong> samt<br />

Gepäck wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Brust aufwärts vor ihr am Tresen ersche<strong>in</strong>en<br />

wür<strong>de</strong>n. Mit etwas Glück war das erst nach e<strong>in</strong>er Nacht <strong><strong>de</strong>r</strong> Fall<br />

und sie konnte ihnen e<strong>in</strong>e Re<strong>in</strong>igungsgebühr für <strong>de</strong>n ungeplanten<br />

Zimmerwechsel berechnen. Was erwarteten sie <strong>de</strong>nn für <strong>de</strong>n<br />

besten Preis <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen Bucht? E<strong>in</strong> Burj al Arab wie <strong>in</strong> Dubai?<br />

Mit sechs Bediensteten pro Suite, die andauernd die Handtücher<br />

wechselten und die Gäste zum Privatstrand kutschierten, wo<br />

nicht nur das Meer, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n gleich auch geeiste Tücher für Erfrischung<br />

sorgten? Fünf-Sterne-Gäste waren das genaue Gegenteil,<br />

e<strong>in</strong> Traum für Madame, kamen allerd<strong>in</strong>gs so gut wie nicht vor.<br />

Sie waren freundlich, hatten nichts Überflüssiges, we<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong> ihrer<br />

Kommunikation noch bei ihren Wünschen, nahmen alles so, wie<br />

es kam. Solche Gäste gaben Gabriella am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Urlaubs e<strong>in</strong><br />

or<strong>de</strong>ntliches Tr<strong>in</strong>kgeld fürs Putzen, obwohl sie fast täglich die<br />

Zigarettenasche <strong>de</strong>s fünfundsechzigjährigen Zimmermädchens<br />

irgendwo im Raum gefun<strong>de</strong>n hatten.<br />

Madame Ziguré hatte ihren Beruf <strong>in</strong> Nizza gelernt. Dort war<br />

sie geboren und aufgewachsen. Nach ihrer Ausbildung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

kle<strong>in</strong>en Hotel hatte sie das Weite gesucht. Gefun<strong>de</strong>n hatte sie<br />

es im Mittelmeer auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Insel Mallorca <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en, verschlafenen<br />

Hafen im Nordwesten. Das erste Hotel am Platz –<br />

das Marisol – hatte gera<strong>de</strong> eröffnet und war auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Suche nach<br />

qualifiziertem Personal gewesen, das man <strong>in</strong> dieser Zeit am besten<br />

auf <strong>de</strong>m Festland rekrutierte. Die Inselbewohner hatten sich<br />

4


dam<strong>als</strong> noch wie zu Zeiten Georges Sands verhalten, die <strong>de</strong>n<br />

Menschenschlag <strong>als</strong> schlicht unzivilisiert, unhöflich und unerträglich<br />

empfun<strong>de</strong>n hatte. E<strong>in</strong> Missverständnis, <strong>de</strong>nn sie wollten<br />

e<strong>in</strong>fach nur <strong>in</strong> Ruhe gelassen wer<strong>de</strong>n. Sie waren nicht geboren,<br />

um zu dienen – wenigstens nicht im 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Und im<br />

zwanzigsten, <strong>als</strong> aus <strong>de</strong>m Dienen Service gewor<strong>de</strong>n war, hatten<br />

die Hoteliers an <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Stellen im Kontakt mit <strong>de</strong>n<br />

Gästen zunächst Personal aus <strong>de</strong>n großen Tourismuszentren bevorzugt<br />

– vor allem solches, das neben Spanisch e<strong>in</strong>e weitere<br />

Sprache beherrschte.<br />

Von Anfang an hatten sich die Urlauber auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Insel <strong>als</strong> sprachfaul<br />

erwiesen. Madame hatte hierfür ihre ganz eigene Erklärung<br />

entwickelt: Wenn man schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Land Urlaub machte, das<br />

von e<strong>in</strong>em Diktator regiert wur<strong>de</strong> – so unterstellte sie <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />

Urlaubern von dam<strong>als</strong> – sollte man die Sprache ebenso<br />

ignorieren wie die politischen Verhältnisse. Als General Franco<br />

dann 1975 durch se<strong>in</strong> Ableben <strong>de</strong>n Weg für die königliche Demokratie<br />

freimachte, hatten sich die Touristen offensichtlich<br />

schon daran gewöhnt, verstan<strong>de</strong>n zu wer<strong>de</strong>n. Mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Autonomie<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Balearen wur<strong>de</strong> dann das Mallorquí <strong>als</strong> regionale Sprache<br />

geför<strong><strong>de</strong>r</strong>t – und die Urlauber natürlich gänzlich überfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t.<br />

Die robuste, aber ke<strong>in</strong>eswegs übergewichtige Hotel-Chef<strong>in</strong><br />

schaute zufrie<strong>de</strong>n auf ihren Buchungsplan. Wenn sie lächelte,<br />

er<strong>in</strong>nerte ihr Gesicht e<strong>in</strong> wenig an das e<strong>in</strong>es fülligen Hamsters.<br />

Sie war fast glücklich mit ihrem Leben und mit ihrem Hotel –<br />

das eigentlich ihrem Mann Jesús gehört hatte und ihre geme<strong>in</strong>same<br />

Tochter später e<strong>in</strong>mal erben wür<strong>de</strong>.<br />

Jesús war nicht etwa gestorben, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n hatte das Hotel auf<br />

se<strong>in</strong>e Frau überschrieben, um es <strong>de</strong>m Zugriff se<strong>in</strong>er Familie zu<br />

entziehen. Nach <strong>de</strong>m Tod se<strong>in</strong>es Onkels war das Haus Anfang<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> 1970er Jahre <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Besitz übergegangen – samt <strong><strong>de</strong>r</strong> auf<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Straßenseite liegen<strong>de</strong>n Terrasse, die e<strong>in</strong>en herrlichen<br />

Blick über die Bucht bot. Jesús war se<strong>in</strong> Liebl<strong>in</strong>gsneffe<br />

gewesen und überdies wie se<strong>in</strong> Onkel ke<strong>in</strong> Freund von Francos<br />

Regierung. E<strong>in</strong> Rechtsstreit um das Erbe begann, <strong><strong>de</strong>r</strong> erst e<strong>in</strong><br />

paar Jahre nach <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>s Onkels en<strong>de</strong>te. Jesús Maria Men<strong>de</strong>z<br />

5


war zu se<strong>in</strong>em Recht gekommen, wollte aber nichts mehr riskieren,<br />

heiratete se<strong>in</strong>e erste und große Liebe, überschrieb ihr das<br />

Borrasca und se<strong>in</strong> Leben. Kennengelernt hatte Madame ihn im<br />

Marisol, dort hatte er im gleichen Jahr wie sie <strong>als</strong> Kellner angefangen.<br />

Dam<strong>als</strong> war er zwar schon selbst Hotelbesitzer gewesen,<br />

hatte <strong>de</strong>n Beruf aber noch nicht ausüben können. So war ihm<br />

erst e<strong>in</strong>mal nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es übrig geblieben, <strong>als</strong> zu üben. Für ihn<br />

war es e<strong>in</strong> großes Glück gewesen, sonst hätte er Ma<strong>de</strong>moiselle<br />

Eleonore Ziguré vielleicht niem<strong>als</strong> getroffen, und alles wäre<br />

ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>s gekommen.<br />

Madame sprach neben Französisch auch Spanisch, Mallorquí,<br />

Englisch und Deutsch, zwar nicht unbed<strong>in</strong>gt perfekt, aber für die<br />

Kommunikation mit ihren Gästen reichte es. Wie es bei Fremdsprachen<br />

oft <strong><strong>de</strong>r</strong> Fall ist, konnte sie diese besser verstehen <strong>als</strong><br />

sprechen. Sie begrüßte die Gäste gerne <strong>in</strong> ihrer jeweiligen Sprache<br />

und mit <strong>de</strong>n immer gleichen Worten. Nach so langer Zeit<br />

waren die Sätze e<strong>in</strong>geschliffen und die Worte für ungeübte Zuhörer<br />

schwer vone<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> zu trennen. Aus <strong>de</strong>m Französischen<br />

war Madame es gewohnt, die Silben über Wortgrenzen h<strong>in</strong>weg<br />

e<strong>in</strong>fach zusammenzuziehen, was sie dann auch <strong>in</strong> <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Sprachen tat. Das klang im Deutschen dann so:<br />

»Gutentack, willkommenimborrasca.«<br />

Die Gäste nestelten ihr Hotel-Voucher und ihre Pässe aus taschendiebsicheren<br />

Brustbeuteln und legten sie auf <strong>de</strong>n Tresen.<br />

Madame räumte alles ab wie e<strong>in</strong> Croupier beim Roulette, wenn<br />

das Spiel gelaufen und ab sofort nichts mehr zu gew<strong>in</strong>nen ist.<br />

»Donkeschön.« Die Melodie g<strong>in</strong>g am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Wortes steil<br />

nach oben und Madame schaute <strong>in</strong> erwartungsfrohe Gesichter,<br />

die glaubten, nun folgten wichtige Informationen <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er<br />

Aufzählung. Und sie hatten recht:<br />

»Zimmervierhun<strong><strong>de</strong>r</strong>tsechszöhnmitMeerblick.SiebenUhrfümfundvierzieschbisneunUhrdreissieschFrühstück.NeunzöhnUhrdreissieschbise<strong>in</strong>undzwanzieschUhrdreissieschAben<strong>de</strong>ssen.<br />

Siekönnentr<strong>in</strong>kenon<strong><strong>de</strong>r</strong>Bar.Mitmirmit<strong>de</strong>mNachtportierzumEssenimmer.<br />

Getränkes<strong>in</strong>dimmer – Cash.«<br />

Vor <strong>de</strong>m letzten Wort machte sie e<strong>in</strong>e kurze Pause und senkte<br />

6


zum ersten Mal wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ihre Stimme. Der Zuhörer wusste: Hier<br />

war Be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s gesagt wor<strong>de</strong>n. Er hatte es nur nicht verstan<strong>de</strong>n.<br />

Denn er brachte das Wort »Cash« e<strong>in</strong>fach nicht <strong>in</strong> Zusammenhang<br />

mit <strong>de</strong>m vorher Gesagten.<br />

Dabei hatte Madame es sich angewöhnt, das Wort <strong>de</strong>utlich<br />

aus-zusprechen. Ganz <strong>de</strong>utlich. E<strong>in</strong> universelles Wort, das man<br />

überall auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt kannte, da war sie sicher. Sie hatte geübt,<br />

ihren Re<strong>de</strong>fluss zu unterbrechen und »Cash« wie e<strong>in</strong>en Schlussakkord<br />

ans En<strong>de</strong> zu setzen. Und trotz<strong>de</strong>m: Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Getränkebestellung<br />

zum Aben<strong>de</strong>ssen schauten sie neunzig Prozent<br />

ihrer <strong>de</strong>utschen Gäste mit großen Augen an, wenn sie sofort zahlen<br />

mussten. Aufs Zimmer schreiben gab es im Hotel Borrasca nicht.<br />

»IhrZimmeristvierhun<strong><strong>de</strong>r</strong>tsechzöhn.Hierist<strong><strong>de</strong>r</strong>Schlüssel.Daist<strong><strong>de</strong>r</strong>Aufzug.«<br />

– Ihre Kopfbewegung zeigte zu e<strong>in</strong>er roten,<br />

schmalen Aufzugtür auf <strong><strong>de</strong>r</strong> l<strong>in</strong>ken Seite <strong>de</strong>s kurzen Flures. Die<br />

Köpfe <strong><strong>de</strong>r</strong> Gäste drehten sich schnell <strong>in</strong> die Richtung, um <strong>de</strong>n<br />

schwer verständlichen Worten durch e<strong>in</strong> Bild e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n zu geben.<br />

Zum Zimmer begleitet wur<strong>de</strong>n sie nicht, es sei <strong>de</strong>nn, sie<br />

erwiesen sich <strong>als</strong> hilfsbedürftig, was bei e<strong>in</strong>em von Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>ern<br />

und sparsamen Menschen bevorzugten Hotel selten vorkam.<br />

(Lediglich Beh<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong>tengruppen genossen im Borrasca Privilegien:<br />

Man kümmerte sich um sie.)<br />

Ansonsten beschränkte Madame <strong>de</strong>n Kontakt zu <strong>de</strong>n Gästen<br />

auf das Nötigste. Dazu zählten natürlich, auf e<strong>in</strong>e Frage zu antworten,<br />

sich für Lob zu bedanken o<strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>e zweite Scheibe Brot<br />

aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Küche zu holen – letzteres mit e<strong>in</strong>em Gesicht, das diesen<br />

Wunsch ke<strong>in</strong> zweites Mal aufkommen lassen wür<strong>de</strong>. Bestellte<br />

jemand e<strong>in</strong>en Kaffee nach <strong>de</strong>m Essen war auch e<strong>in</strong> wenig Smalltalk<br />

möglich, die Betonung auf <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Silbe <strong>de</strong>s Wortes. Die<br />

Gäste freuten sich über je<strong>de</strong>s Lächeln von Madame, sie sehnten<br />

sich nach e<strong>in</strong> paar Tagen regelrecht danach, <strong>de</strong>nn sie verteilte es<br />

wohl dosiert und vornehmlich, nach<strong>de</strong>m für irgen<strong>de</strong><strong>in</strong> Getränk<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> »Cash« geflossen war.<br />

Vor Madame Ziguré baute sich nun e<strong>in</strong> neues Brustbild auf.<br />

Bestimmt die Zehn-Uhr-Masch<strong>in</strong>e aus Deutschland, e<strong>in</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong> unzähligen<br />

Zehn-Uhr-Masch<strong>in</strong>en aus Deutschland. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Haupt-<br />

7


saison hatte die Ankunft aus <strong>de</strong>m bevölkerungsreichsten Land<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> EU etwas von e<strong>in</strong>er Evakuierung. Alle raus!<br />

Doch vor ihr stand ke<strong>in</strong> fröhliches, rotwangiges Urlauber-Paar,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en Mitgliedschaft im Alpenvere<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ansteckna<strong>de</strong>l auf<br />

<strong>de</strong>m karierten Hemd dokumentierte; seit sie e<strong>in</strong> Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>er-Hotel<br />

führte, hatte sie das kle<strong>in</strong>e E<strong>de</strong>lweiß unzählige Male gesehen.<br />

Das Brustbild vor ihr gehörte zu e<strong>in</strong>em alten Mann. Er musste<br />

doch jetzt schon bald 80 se<strong>in</strong>. O<strong><strong>de</strong>r</strong> darüber? Ne<strong>in</strong>. Madame ließ<br />

e<strong>in</strong>en leichten Seufzer vernehmen, e<strong>in</strong>e sehr kle<strong>in</strong>e Entgleisung<br />

angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> Tatsache, dass sie gera<strong>de</strong> e<strong>in</strong>e neue schlimmste<br />

Sternekategorie für Gäste eröffnen musste: Verwandte.<br />

Dabei war sie extra weit von zu Hause weggegangen. Über<br />

das Mittelmeer kam man nicht mal eben so auf e<strong>in</strong>en Sprung<br />

vorbei. So sollte es se<strong>in</strong>. Sie hatte ihn vor fünf Jahren zum letzten<br />

Mal gesehen. Aus Versehen. Bei e<strong>in</strong>er Beerdigung. Jetzt stand er<br />

da und starrte sie an, ließ <strong>de</strong>n Blick über ihre grauen, kurzen Haare,<br />

ihren Pony, ihre modische Brille aus transluzentem, weißem<br />

Kunststoff bis zu ihrem Dekolleté wan<strong><strong>de</strong>r</strong>n und nickte kaum<br />

merklich. Madame verdrehte die Augen und fragte ganz ruhig:<br />

»Was willst Du?«<br />

»E<strong>in</strong> Zimmer?«, fragte er vorsichtig zurück.<br />

»Vergiss es!«, flüsterte Madame. »Alles belegt. Es ist Mai.<br />

Der beliebteste Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>monat überhaupt. Außer<strong>de</strong>m haben wir<br />

Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>arbeiter im Haus, vom Hotelneubau auf <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Seite<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Bucht. Wir s<strong>in</strong>d ausgebucht.«<br />

Sie senkte <strong>de</strong>n Blick auf die Tastatur ihres Laptops, tippte etwas<br />

und schaute dann durch <strong>de</strong>n unteren Bereich <strong><strong>de</strong>r</strong> Brillengläser<br />

auf das Display, wofür sie <strong>de</strong>n Kopf e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Nacken<br />

legen musste. Und außer<strong>de</strong>m, dachte sie, außer<strong>de</strong>m haben wir<br />

ke<strong>in</strong> Zimmer für Null-Sterne-Gäste.<br />

»Ich brauche nicht viel Platz. Nur e<strong>in</strong> Bett.«<br />

Madame tippte, blickte auf das Display und tippte weiter.<br />

»Nur für e<strong>in</strong>, zwei Nächte. Bitte, Eli.«<br />

Die Luft entwich aus ihrer Nase wie aus e<strong>in</strong>em Kessel, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Druck langsam stieg. Dabei bemühte sie sich nach Kräften,<br />

e<strong>in</strong>en eiskalten W<strong>in</strong>d durch <strong>de</strong>n Raum wehen zu lassen. Wie immer<br />

8


stand er ratlos da und blickte sie aus traurigen Augen an, die um<br />

e<strong>in</strong>e Erklärung bettelten. E<strong>in</strong>e Erklärung dafür, warum sie ihre<br />

Eltern e<strong>in</strong>fach so <strong>in</strong> Nizza zurückgelassen und sich nie gemel<strong>de</strong>t<br />

hatte. Sie sah ihm an, dass er die Schuld dafür bei sich suchte<br />

und ihn se<strong>in</strong> Gewissen quälte. Doch sie konnte ihm nicht helfen.<br />

Madame hatte sich nie etwas aus ihren Eltern gemacht, sie<br />

waren ihr egal. Natürlich wusste sie, dass es bei <strong>de</strong>n meisten<br />

Menschen auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt an<strong><strong>de</strong>r</strong>s war. Als sie jung war, hatte sie<br />

darunter gelitten. Während an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>in</strong> ihrem Alter sich an <strong>de</strong>n<br />

Erwachsenen rieben, sich mit ihnen überwarfen und wie<strong><strong>de</strong>r</strong> versöhnten,<br />

um dann gleich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n nächsten Familienkrach<br />

vom Zaun zu brechen, lebte Eleonore mit zwei Menschen, die<br />

zufällig älter waren <strong>als</strong> sie, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wohngeme<strong>in</strong>schaft. Mehr<br />

war ihr e<strong>in</strong>fach nicht möglich gewesen.<br />

»Jesús«, setzte <strong><strong>de</strong>r</strong> alte Mann an und atmete dann tief durch.<br />

»Er hat gesagt, ich solle ruhig kommen, wenn es nun mal nicht<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>s g<strong>in</strong>ge. Und da b<strong>in</strong> ich.«<br />

»Da bist du. Aber da bleibst du nicht. Und was Jesús angeht:<br />

Es ist nicht se<strong>in</strong> Hotel! Er kann je<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>la<strong>de</strong>n. Ob ich ihn aufnehme,<br />

bleibt mir überlassen. Und <strong><strong>de</strong>r</strong> Auslastung <strong>de</strong>s Hotels.<br />

Wir s<strong>in</strong>d voll, voll, voll! Ke<strong>in</strong> Bett für Dich o<strong><strong>de</strong>r</strong> sonst irgendwen.«<br />

Madame setzte ihr E<strong>in</strong>-Sterne-Gast-Lächeln auf, bei <strong>de</strong>m<br />

die Mundw<strong>in</strong>kel nach oben wiesen, aber die Augen e<strong>in</strong>fach nicht<br />

mitmachen wollten. »Eli ...«<br />

»Zum Teufel«, zischte es aus Madame. Der Druck im Kessel<br />

stieg. Da stand dieser Mann vor ihr und stellte Ansprüche. Sie<br />

konnte doch nicht je<strong>de</strong>n Rentner aufnehmen. Ihr Blick bohrte<br />

sich <strong>in</strong> die Tastatur. Q-W-E-R-T-Y-U-I-O-P. Um sich zu beruhigen,<br />

las sie die erste Buchstabenreihe vor und zurück, dreimal.<br />

Dann nahm sie sich die nächste Reihe vor. Nach zwei M<strong>in</strong>uten<br />

blickte sie auf und <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann war verschwun<strong>de</strong>n. Sehr gut.<br />

Ah, und da kamen auch schon die bei<strong>de</strong>n Deutschen. Atmungsaktive<br />

Goretex-Jacken und Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>hem<strong>de</strong>n, die, obwohl bügelfrei,<br />

irgendwie gebügelt aussahen. Die bei<strong>de</strong>n wirkten <strong>de</strong>platziert <strong>in</strong> dieser<br />

Kleidung. Wenn das Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>er se<strong>in</strong> sollten, dann war sie Jeanne<br />

d’Arc. Sie schnaubte amüsiert angesichts dieses Vergleichs.<br />

9


Der Mann hatte se<strong>in</strong>e blon<strong>de</strong>n Haare mit viel Gel akkurat nach<br />

h<strong>in</strong>ten gekämmt. Se<strong>in</strong> Gesicht hatte e<strong>in</strong>e sanfte Bräune, se<strong>in</strong>e<br />

blauen Augen etwas Unangenehmes, das man mit viel Wohlwollen<br />

geheimnisvoll o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger freundlich schlicht verschlagen<br />

nennen konnte. Die Frau an se<strong>in</strong>er Seite schien e<strong>in</strong> wenig älter<br />

zu se<strong>in</strong> <strong>als</strong> er, vielleicht Mitte vierzig. Ihre langen Haare waren<br />

blond gefärbt mit e<strong>in</strong>em leichten Stich <strong>in</strong>s honigfarbene. Sie<br />

machte auf Madame <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>es sehr klugen, wachsamen<br />

Menschen. Obwohl sie bestimmt <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> gleichen Welt zu<br />

Hause waren, passten sie nicht recht zusammen. Warum sie ke<strong>in</strong>e<br />

Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>er se<strong>in</strong> konnten, wusste Madame sich nicht näher zu<br />

erklären. Vielleicht weil alles an ihnen neu war, die Kleidung<br />

ebenso wie die Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>rucksäcke e<strong>in</strong>es teuren Outdoor-Herstellers<br />

auf ihren Schultern. Ihre Koffer waren viel zu groß für e<strong>in</strong>en<br />

e<strong>in</strong>wöchigen Aufenthalt. Sie waren mit Sicherheit nicht e<strong>in</strong>mal<br />

normale Pauschaltouristen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n pflegten sonst, <strong>in</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Etablissements abzusteigen. Die Art, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann <strong>de</strong>n Voucher<br />

aus se<strong>in</strong>em nagelneuen Bauchgurt f<strong>in</strong>gerte, zeigte ihr, dass er<br />

dies zum ersten Mal <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben tat. Se<strong>in</strong>e Hand zitterte<br />

leicht und se<strong>in</strong>e geröteten Wangen zeugten davon, dass er sich<br />

am Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es großen Abenteuers glaubte.<br />

»Gerhard«, sagte er hastig. »Paul Gerhard. Meerblick.«<br />

Die Frau lächelte.<br />

»Gutentack, willkommenimborrasca.« Madame atmete tief<br />

durch, kontrollierte das Papier, nahm die Ausweise <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n<br />

entgegen, schob Herrn Gerhard <strong>de</strong>n Schlüssel zu und sagte ihren<br />

endlosen E<strong>in</strong>-Wort-Satz. Am En<strong>de</strong> schauten alle drei <strong>in</strong> Richtung<br />

Aufzug. Die Gäste begriffen, dass sie von nun an auf sich<br />

selbst gestellt waren, und drängten mit ihren bei<strong>de</strong>n Koffern <strong>in</strong><br />

die kle<strong>in</strong>e Kab<strong>in</strong>e. Mit e<strong>in</strong>em Rappeln g<strong>in</strong>g die Falttür zu und <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

kräftige Ruck signalisierte ihren Aufstieg <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Zimmer für E<strong>in</strong>-<br />

Stern-Gäste. Unten saß Madame, studierte die Personalausweise<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n genau, lächelte und dachte: Zwei Stun<strong>de</strong>n. Wetten!<br />

10


2<br />

Montag, 10. Mai 2010<br />

Gesa und Paul nahmen ihre Rollen sehr ernst und marschierten<br />

wie Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>er durch unwegsames Gelän<strong>de</strong> – e<strong>in</strong> Anfängerparcours<br />

freilich, doch für Menschen, die es gewohnt waren, selbst<br />

für kurze Wege <strong>de</strong>n Wagen zu nehmen, e<strong>in</strong>e wirkliche Herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung.<br />

Paul, <strong><strong>de</strong>r</strong> gut und durchtra<strong>in</strong>iert aussah, hatte Mühe<br />

mit <strong>de</strong>m Atmen. Wenn er e<strong>in</strong>e beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s hohe Ste<strong>in</strong>stufe nehmen<br />

musste, hörte Gesa ihn aufstöhnen. Noch ke<strong>in</strong>e 40 und die Kondition<br />

e<strong>in</strong>es 60-Jährigen. E<strong>in</strong> Leben für die Karriere. Im Büro. Hier<br />

hatte er <strong>de</strong>n Gipfel fast erklommen, e<strong>in</strong>e Stufe unter <strong>de</strong>m Vorstand,<br />

unter Gesas Mann, <strong>de</strong>m Vorstandsvorsitzen<strong>de</strong>n. Paul war<br />

e<strong>in</strong> Mann <strong><strong>de</strong>r</strong> I<strong>de</strong>en, so hatte er es Gesa gegenüber oft betont.<br />

I<strong>de</strong>en hatte er tatsächlich unendlich viele, alle<strong>in</strong> fehlte ihm die<br />

Fähigkeit, die guten von <strong>de</strong>n schlechten zu unterschei<strong>de</strong>n. Nicht<br />

se<strong>in</strong> Intellekt hatte ihn aufsteigen lassen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n se<strong>in</strong> Charme,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e dazu brachte, für ihn zu <strong>de</strong>nken. Paul war e<strong>in</strong> Sonntagsk<strong>in</strong>d.<br />

E<strong>in</strong> echter Sportsmann, jedoch mit begrenzter Kondition.<br />

Hatte sich e<strong>in</strong>e „se<strong>in</strong>er“ I<strong>de</strong>en <strong>als</strong> erfolgversprechend erwiesen,<br />

so war er aufgeregt wie e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Junge, <strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Lehrer <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schule gelobt hatte. Zu Anfang ihrer Affäre hatte Gesa diese Marotte<br />

noch liebenswert gefun<strong>de</strong>n. Inzwischen fand sie es albern.<br />

Umso mehr hatte sie sich auf diesen Urlaub fernab jeglicher<br />

beruflicher Angelegenheiten gefreut. Doch seit sie auf Mallorca<br />

angekommen waren, gab Paul immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n kle<strong>in</strong>en, fleißigen<br />

Schüler, <strong>de</strong>m etwas ganz Großes gelungen war o<strong><strong>de</strong>r</strong> bald gel<strong>in</strong>gen<br />

wür<strong>de</strong>. Dass dies ausgerechnet geschah, <strong>als</strong> sie bei<strong>de</strong> hier<br />

alle<strong>in</strong>e waren, beunruhigte Gesa. Er schien etwas im Schil<strong>de</strong> zu<br />

führen und sie hoffte, dass es nichts mit ihr zu tun haben wür<strong>de</strong>.<br />

Für mehr <strong>als</strong> e<strong>in</strong>er Affäre war sie nicht zu haben.<br />

Gesa war leichtfüßiger und hatte ihn beim serpent<strong>in</strong>enartigen<br />

Aufstieg über <strong>de</strong>n ste<strong>in</strong>igen Pfad bald abgehängt. Die leichte<br />

Jacke hatte sie bereits um die Hüften gebun<strong>de</strong>n. Sie schwitzte<br />

11


<strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> neuen Funktionsunterwäsche, die laut Herstellerangaben<br />

alle Feuchtigkeit sofort nach außen transportieren sollte. Ihre<br />

karierte Outdoorbluse zeigte dunkle Flecken unter <strong>de</strong>n Achseln.<br />

Nach e<strong>in</strong>er halben Stun<strong>de</strong> erreichten sie <strong>de</strong>n ersten im Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>führer<br />

beschriebenen markanten Punkt, e<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>ca, die frisch gepressten<br />

Orangensaft anbot. Da schon e<strong>in</strong>ige Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>er um <strong>de</strong>n<br />

großen Holztisch saßen, g<strong>in</strong>gen die bei<strong>de</strong>n weiter, ohne e<strong>in</strong> Wort<br />

darüber zu verlieren. Auch wenn es unwahrsche<strong>in</strong>lich war, hier<br />

auf Bekannte zu treffen, wollten sie ke<strong>in</strong> Risiko e<strong>in</strong>gehen.<br />

Gesa und ihr Mann hatten e<strong>in</strong> »Gentlemen-Agreement«. Es<br />

war sogar im Ehevertrag festgehalten, was <strong><strong>de</strong>r</strong> eigentlichen<br />

Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes <strong>als</strong> mündlicher Vere<strong>in</strong>barung zuwi<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

lief. E<strong>in</strong> umständlich formulierter Paragraph erlaubte es ihnen,<br />

außer eheliche Beziehungen zu pflegen, dies jedoch nur diskret<br />

und nicht <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Öffentlichkeit. Wenn Gesa hier und da mit e<strong>in</strong>em<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Mann beim Aben<strong>de</strong>ssen gesehen wur<strong>de</strong>, war das <strong>in</strong><br />

Ordnung. Und wenn ihr Mann wie<strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e firmen<strong>in</strong>terne<br />

Affäre pflegte, so hatte auch das ke<strong>in</strong>e Auswirkungen auf ihre<br />

gut begrün<strong>de</strong>te Ehe. E<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samer Urlaub mit e<strong>in</strong>em Mitarbeiter<br />

ihres Mannes g<strong>in</strong>g jedoch zu weit, da wür<strong>de</strong>n Liebe und<br />

Agreement aufhören.<br />

Ihr Mann hatte sie wegen ihres Namens, ihrer Schönheit und<br />

ihrer Jugend geheiratet. Ihr Großvater war e<strong>in</strong> berühmter Dichter<br />

gewesen, <strong><strong>de</strong>r</strong> Jahr für Jahr <strong>als</strong> ernst zu nehmen<strong><strong>de</strong>r</strong> Anwärter<br />

auf <strong>de</strong>n Literaturnobelpreis gegolten hatte, ihn jedoch niem<strong>als</strong><br />

erhielt. Er war <strong>in</strong> Intellektuellenkreisen geachtet, <strong>als</strong> es diese<br />

noch gab. Hans Sielka, Gesas Mann, sah <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Dichter-Enkel<strong>in</strong>,<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong>en Vater er hätte se<strong>in</strong> können, <strong>de</strong>n Glanz jener vergangenen<br />

Zeit. Sie war <strong>in</strong>zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong> letzte noch leben<strong>de</strong> Spross dieser <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>en Augen so geistreichen Familie, e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelk<strong>in</strong>d.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> großen Unternehmenslenker galt Sielka bis<br />

heute <strong>als</strong> Schöngeist und För<strong><strong>de</strong>r</strong>er <strong><strong>de</strong>r</strong> Kunst – e<strong>in</strong>e Art Ablass<br />

für das raue Leben <strong>als</strong> Entschei<strong><strong>de</strong>r</strong>. Positiver Nebeneffekt: Er<br />

sparte Steuern – freilich weitaus weniger <strong>als</strong> durch <strong>de</strong>n von ihm<br />

gepflegten Transfer größerer Summen <strong>in</strong>s Ausland. Die Liebe<br />

zur Kultur umgab ihn wie e<strong>in</strong>e unsichtbare Hülle. Sie schuf e<strong>in</strong>e<br />

12


Aura, die je<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihn kennenlernte, spürte – auch die junge<br />

Gesa Layenbriefer. Sie war ihm zum ersten Mal auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Vernissage<br />

e<strong>in</strong>es aufgehen<strong>de</strong>n Sterns am Kunsthimmel (<strong><strong>de</strong>r</strong> bald<br />

darauf verglühte) begegnet und hatte sich <strong>in</strong> diese Mischung aus<br />

männlicher Durchsetzungsmacht und fe<strong>in</strong>geistiger Sensibilität<br />

verliebt. Bei<strong>de</strong> waren dam<strong>als</strong> gleichermaßen fasz<strong>in</strong>iert vone<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

gewesen, e<strong>in</strong> Schlüssel-Schloss-Erlebnis.<br />

Zu diesem Zeitpunkt war Sielka Mitte 40 und <strong>in</strong> Liebesd<strong>in</strong>gen<br />

abgebrüht. Se<strong>in</strong>e erste Frau hatte ihn <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Hochzeitsnacht sitzen<br />

lassen. Vielleicht, weil er <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit vor jener Nacht ke<strong>in</strong>en<br />

Rock hatte ungehoben lassen können im sicheren Bewusstse<strong>in</strong>,<br />

bald nur noch unter <strong>de</strong>n e<strong>in</strong>en kriechen zu dürfen. Er hatte sich<br />

bei <strong><strong>de</strong>r</strong> zweiten Ehe ke<strong>in</strong>e Illusionen gemacht. We<strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen<br />

noch Männern war zu trauen und man konnte sich nur auf e<strong>in</strong>es<br />

verlassen – das gute alte Vertragsrecht.<br />

Die dam<strong>als</strong> kaum zwanzigjährige Gesa war <strong>de</strong>mgegenüber sicher,<br />

dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Seitensprung-Paragraph ke<strong>in</strong>e Be<strong>de</strong>utung haben wür<strong>de</strong>.<br />

Sie war verliebt. Obwohl er ke<strong>in</strong>en Zentimeter größer war <strong>als</strong> sie<br />

selbst, hatte sie zu ihm aufgesehen und sich zum Zeitpunkt <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Eheschließung alles vorstellen können, nur nicht, jem<strong>als</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

e<strong>in</strong>en an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Mann zu lieben. Noch am Tag <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterschrift<br />

unter <strong>de</strong>n Vertrag hatte sie ihm dies erklärt, und er hatte ihr sanft<br />

über das Haar gestrichen, ihr e<strong>in</strong>en Kuss auf die Stirn gegeben<br />

und – mit <strong>de</strong>m Verweis auf die Ungewissheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zukunft – <strong>de</strong>n<br />

teuren Füllfe<strong><strong>de</strong>r</strong>halter <strong>in</strong> die Hand gelegt. Sie hatte unterzeichnet.<br />

Zum ersten Mal mit ihrem neuen Doppelnamen.<br />

Das war e<strong>in</strong> unerhörter Vorgang für sie, verabschie<strong>de</strong>te sie doch<br />

etwas, das sie gera<strong>de</strong> erst gewonnen hatte. Denn e<strong>in</strong>es Tages,<br />

sie war 17 o<strong><strong>de</strong>r</strong> vielleicht 18 Jahre alt gewesen, hatte sie e<strong>in</strong>e<br />

I<strong>de</strong>ntität bekommen o<strong><strong>de</strong>r</strong> vielmehr: sie war ihr gewachsen. Um<br />

sie auszuprobieren, h<strong>in</strong>terließ sie ihre Signatur auf allem, was<br />

sich beschriften ließ, auf <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Seite je<strong>de</strong>s neuen Buchs, das<br />

sie erwarb, stand nun ihre Unterschrift ebenso wie e<strong>in</strong>st auf <strong>de</strong>n<br />

Schulheften, wie auf <strong>de</strong>n Hüllen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schallplatten und später <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

CDs. Gesa Layenbriefer. Sie schrieb ganze Seiten <strong>in</strong> Notizbüchern<br />

voll mit diesem I<strong>de</strong>ntitätsstifter und testete unterschied-<br />

13


liche Variationen, von streng und geradl<strong>in</strong>ig bis raumgreifend<br />

und geschwungen. Für sie war es ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Unterschrift<br />

für amtliche Dokumente o<strong><strong>de</strong>r</strong> Schecks. Es war ihr elfter F<strong>in</strong>gerabdruck,<br />

ebenso unverwechselbar e<strong>in</strong>zigartig wie die zehn<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en. Sie war ke<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d mehr, aber eben noch nicht erwachsen.<br />

Und <strong>als</strong> sie diese neue Attitü<strong>de</strong> e<strong>in</strong>geübt hatte, heiratete sie<br />

e<strong>in</strong>en Mann, <strong><strong>de</strong>r</strong> noch nicht alt war, aber eben nicht mehr jung.<br />

Gera<strong>de</strong> <strong>als</strong> die alles umwen<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Pubertät sie <strong>in</strong> neuer Form<br />

ausgespuckt und sie gelernt hatte, Ich zu sagen und alles, was sie<br />

besaß, mit diesem Ich zu markieren, da spülten große Gefühle<br />

dieses E<strong>in</strong>sse<strong>in</strong> mit sich weg und ihre Grenzen wur<strong>de</strong>n fließend.<br />

Doch das war lange her. Heute war sie selbstbewusst, standfest<br />

und, was ihre I<strong>de</strong>ntität betraf, ebenso sorgen- wie gedankenfrei.<br />

Der Aufstieg war been<strong>de</strong>t und Gesa erwachte aus ihren Gedanken.<br />

Sie erreichte e<strong>in</strong>en breiten Schotterweg, <strong><strong>de</strong>r</strong> zwischen<br />

Olivenha<strong>in</strong>en verlief. Hier fehlten die Bäume, die auf <strong>de</strong>m ansteigen<strong>de</strong>n<br />

Pfad Schatten gespen<strong>de</strong>t hatten. Die vormittägliche<br />

Sonne empf<strong>in</strong>g die Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>er mit ihren warmen Strahlen. Paul<br />

holte sie e<strong>in</strong> und griff nach se<strong>in</strong>em Stofftuch, das er ursprünglich<br />

e<strong>in</strong>em Pfadf<strong>in</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> gleich um <strong>de</strong>n H<strong>als</strong> gebun<strong>de</strong>n und während<br />

<strong>de</strong>s Aufstiegs zum Abwischen <strong>de</strong>s Schweißes aus <strong>de</strong>m Gesicht<br />

genutzt hatte. Wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zog er es über se<strong>in</strong>e Stirn. Der feuchte,<br />

kühle Stoff musste ihm unangenehm se<strong>in</strong>. Doch er verzog ke<strong>in</strong>e<br />

Miene. Er atmete tief e<strong>in</strong>.<br />

»Es ist doch schön hier«, brachte er hervor, <strong>als</strong> habe jemand<br />

das Gegenteil behauptet.<br />

»Was man nicht alles erleben kann, wenn man <strong>in</strong>cognito reist.<br />

Diese wil<strong>de</strong> Landschaft. Ich wusste vorher gar nicht, was Ste<strong>in</strong>eichen<br />

s<strong>in</strong>d o<strong><strong>de</strong>r</strong> dass es sie überhaupt gibt, bevor wir dieses<br />

Wäldchen durchwan<strong><strong>de</strong>r</strong>t haben. Hans wäre begeistert.«<br />

»Ich fän<strong>de</strong> es besser, ihn nicht zu erwähnen. Wir s<strong>in</strong>d hier unterwegs,<br />

um von allem Abstand zu nehmen. Auch von me<strong>in</strong>em<br />

Chef«, sagte Paul.<br />

»Entschuldigung. Du wirst doch jetzt nicht etwa eifersüchtig?«,<br />

fragte Gesa lachend. »Gibst Du mir die Wasserflasche? Ich muss<br />

etwas tr<strong>in</strong>ken. Wir haben noch e<strong>in</strong> gutes Stück vor uns, bis wir<br />

14


<strong>de</strong>n Ort erreichen.«<br />

Paul setzte se<strong>in</strong>en Rucksack ab, holte die Flasche heraus, öffnete<br />

sie und nahm e<strong>in</strong>en kräftigen Schluck. Dann reichte er sie<br />

an Gesa weiter.<br />

»Ich hoffe, wir halten es <strong>in</strong> dieser Absteige bis zum En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Woche aus«, sagte er. »Die nächtliche Geräuschkulisse ist grauenvoll.<br />

Ich war gera<strong>de</strong> e<strong>in</strong>geschlafen, <strong>als</strong> dieser Bauarbeiter im<br />

Zimmer neben uns aufgestan<strong>de</strong>n ist. Da war es erst halb sechs.<br />

Und dann dieser Aufzug! Wir hätten uns sofort beschweren sollen.<br />

E<strong>in</strong>e Unverschämtheit, dass die Frau uns das Zimmer direkt neben<br />

<strong>de</strong>m Schacht gegeben hat.«<br />

»Du hast <strong>de</strong>n Schimmel zwischen <strong>de</strong>n Kacheln im Bad und am<br />

Duschvorhang vergessen. Und das schlechte Aben<strong>de</strong>ssen, das<br />

wir zum Glück nur aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Ferne gesehen haben. Vom Frühstück<br />

ganz zu schweigen. Spartanisch ist üppig dagegen.« Gesa nahm<br />

e<strong>in</strong>en weiteren Schluck aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Plastikflasche. »All das ist die<br />

e<strong>in</strong>hun<strong><strong>de</strong>r</strong>tprozentige Garantie dafür, dass wir hier nieman<strong>de</strong>n<br />

treffen, <strong><strong>de</strong>r</strong> uns kennt. Der Preis dafür ist hoch, was <strong>de</strong>n Komfort<br />

betrifft. Ich musste mich be<strong>in</strong>ahe übergeben, <strong>als</strong> ich gestern<br />

Abend dieses lange schwarze Haar <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Dusche ent<strong>de</strong>ckt habe.<br />

Da war <strong><strong>de</strong>r</strong> Schimmel an <strong><strong>de</strong>r</strong> Wand fast verzeihlich. Nichts ist<br />

schlimmer <strong>als</strong> frem<strong>de</strong> Haare im Sanitärbereich. Zum Glück hast<br />

Du da weniger Probleme und konntest es wegmachen.«<br />

Paul nahm die Wasserflasche entgegen und lächelte souverän.<br />

Se<strong>in</strong>e Hand g<strong>in</strong>g zur Brusttasche, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> die Zigarettenpackung<br />

steckte, doch schien er sich’s an<strong><strong>de</strong>r</strong>s zu überlegen und strich sich<br />

die Haare nach h<strong>in</strong>ten. Sie waren mit e<strong>in</strong>er klebrigen Schicht aus<br />

Gel und Schweiß überzogen waren. Es konnte weitergehen.<br />

Gesa hatte sich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Er<strong>in</strong>nerung an das Haar im Bad e<strong>in</strong> wenig<br />

die gute Stimmung verdorben. Gera<strong>de</strong> hatte sie noch gelacht.<br />

Jetzt empfand sie die Sonne <strong>als</strong> heißer, <strong>de</strong>n Weg <strong>als</strong> ste<strong>in</strong>iger und<br />

die Blase, die sie seit e<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten an ihrer Ferse spürte,<br />

<strong>als</strong> schmerzhafter. Dass die Aussicht auf e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Abenteuer<br />

mit e<strong>in</strong>em Mann sie zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Dummheit getrieben hatte, <strong>in</strong> diesem<br />

schäbigen Hotel abzusteigen, erschien ihr unwirklich.<br />

»Hans wür<strong>de</strong> Dich umbr<strong>in</strong>gen, wenn er wüsste, dass Du etwas<br />

15


mit mir angefangen hast. Er schätzt es nicht, wenn se<strong>in</strong>e Mitarbeiter<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Revier wil<strong><strong>de</strong>r</strong>n«, sagte sie.<br />

»Das weiß ich. Warum fängst Du wie<strong><strong>de</strong>r</strong> davon an? Es war<br />

uns bei<strong>de</strong>n von Anfang an klar. Das mit uns ist nun e<strong>in</strong>mal so<br />

gekommen, wie es nicht kommen durfte.«<br />

»Für Dich könnte das <strong><strong>de</strong>r</strong> Karrierekiller se<strong>in</strong>, wenn wir auffliegen.<br />

Für mich be<strong>de</strong>utet es das En<strong>de</strong> me<strong>in</strong>er Ehe ohne e<strong>in</strong>en Cent Abf<strong>in</strong>dung.<br />

An<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits kann Dir e<strong>in</strong>e unent<strong>de</strong>ckte Beziehung zu<br />

mir natürlich auch große Vorteile br<strong>in</strong>gen. Du weißt, wie sehr<br />

Hans me<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung schätzt.«<br />

»Das ist für mich nicht von Be<strong>de</strong>utung, und das weißt Du.«<br />

Paul blieb stehen, griff nach ihrem Arm und suchte <strong>de</strong>n direkten<br />

Augenkontakt, <strong>in</strong><strong>de</strong>m er ihr K<strong>in</strong>n mit se<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>ken Hand leicht<br />

anhob. Was sollte sie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen ent<strong>de</strong>cken? Aufrichtigkeit?<br />

In diesem Moment schaute er, <strong>als</strong> stün<strong>de</strong> er kurz davor,<br />

etwas Wichtiges zu sagen o<strong><strong>de</strong>r</strong> zu tun, doch müsse es sich im<br />

letzten Augenblick verkneifen. Welche Überraschung mochte er<br />

für sie bereithalten? Je<strong>de</strong>nfalls hörte es sich nicht danach an, <strong>als</strong><br />

verspräche er sich mehr von ihrer Beziehung.<br />

»Weiß ich das!«, sagte Gesa und schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, um se<strong>in</strong>em<br />

Griff zu entkommen.<br />

»So mag ich Dich. Immer e<strong>in</strong> bisschen zickig.«<br />

Gesa wen<strong>de</strong>te sich ab und g<strong>in</strong>g weiter.<br />

»Ach, komm schon, Süße!«<br />

»Weiter geht’s. Da vorne ist die Muleta Gran. An diesem Gehöft<br />

müssen wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er großen Rechtskurve vorbei und dann<br />

nach l<strong>in</strong>ks abbiegen«, sagte Gesa, die <strong>de</strong>n Text <strong>de</strong>s Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>führers<br />

an je<strong><strong>de</strong>r</strong> Stelle <strong>de</strong>s Wegs aus <strong>de</strong>m Gedächtnis zitieren<br />

konnte. Die Fähigkeit <strong>de</strong>s mühelosen, fast automatischen Auswendiglernens<br />

hatte ihr während <strong>de</strong>s Studiums <strong><strong>de</strong>r</strong> Rechtswissenschaft<br />

gute Dienste geleistet. Sie hatte sich e<strong>in</strong>geschrieben,<br />

<strong>als</strong> sich nach über e<strong>in</strong>em Jahr Ehe noch immer ke<strong>in</strong> Nachwuchs<br />

e<strong>in</strong>stellen wollte. E<strong>in</strong>e Untersuchung ergab, dass es nicht an ihr<br />

lag. Um Abwechslung <strong>in</strong> ihr Leben zu br<strong>in</strong>gen, entschloss sie<br />

sich, zu studieren. Privilegiert durch hohe Intelligenz und Wohlstand<br />

schaffte sie es <strong>in</strong> Rekordzeit, obwohl sie nebenbei noch<br />

16


Wirtschaftswissenschaften belegte. Sie musste sich um nichts<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>es kümmern <strong>als</strong> um ihre gesellschaftlichen Pflichten an <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Seite ihres Mannes. Den Haushalt besorgte seit jeher e<strong>in</strong> Ehepaar,<br />

das <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> E<strong>in</strong>liegerwohnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Villa lebte. Nach e<strong>in</strong>em<br />

Auslandssemester <strong>in</strong> Madrid been<strong>de</strong>te sie ihr Studium erfolgreich.<br />

Das Referendariat schloss sie mit e<strong>in</strong>em hervorragen<strong>de</strong>n<br />

zweiten Staatsexamen ab. Die Doktorarbeit bereitete ihr wenig<br />

Mühe, sie war unter 30, <strong>als</strong> sie <strong>de</strong>n Titel schließlich führen durfte.<br />

Ihr Mann besorgte ihr e<strong>in</strong>e Anstellung <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Rechtsabteilung<br />

e<strong>in</strong>es großen Mittelständlers. Nach<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Nimbus <strong>de</strong>s Protegés<br />

verloren hatte, brachte sie es durch hervorragen<strong>de</strong> Arbeit<br />

recht schnell zu e<strong>in</strong>er leiten<strong>de</strong>n Position – ganz ohne Ehrgeiz.<br />

»Kann ich Dir trauen?«, fragte Gesa unvermittelt. Ohne Paul<br />

anzusehen, g<strong>in</strong>g sie weiter. Er folgte. Die Affäre dauerte nun<br />

schon über sechs Monate. Lei<strong>de</strong>nschaft empfand sie, wenn sie<br />

mite<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong> schliefen. Kurz davor, kurz danach. Das Gefühl war<br />

nicht zu konservieren.<br />

»Natürlich kannst Du mir trauen. Warum auch nicht? Wie<br />

sollte ich De<strong>in</strong> Vertrauen missbrauchen? Wir haben Spaß mite<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong>.<br />

Was soll das Gere<strong>de</strong>?«<br />

Ihre Antwort auf se<strong>in</strong>e Fragen <strong>in</strong>teressierte ihn nicht. Paul<br />

schob <strong>de</strong>n Grund für ihre Launen offensichtlich wie immer auf<br />

die allenthalben bekannte Komplexität weiblicher Gedankengänge.<br />

Es war se<strong>in</strong> Glaube an e<strong>in</strong> Klischee, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

unüberschaubaren Welt das Denken erleichterte o<strong><strong>de</strong>r</strong> es gleich<br />

überflüssig machte.<br />

»Vielleicht bist Du mit mir zusammen, weil ich Dich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n<br />

Vorstand br<strong>in</strong>gen soll. Das ist überhaupt nicht so abwegig.«<br />

»Nicht schon wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, Gesa. Wie solltest Du mich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Vorstand<br />

br<strong>in</strong>gen? Du arbeitest <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Unternehmen, und<br />

wenn Du mich bei De<strong>in</strong>em Mann über die Maßen lobst, riecht er<br />

Lunte und wir bei<strong>de</strong> können e<strong>in</strong>packen. Ne<strong>in</strong>, für me<strong>in</strong>e Karriere<br />

bist Du nicht wichtig. Im Gegenteil. Durch Dich könnte sie <strong>in</strong><br />

schwere See geraten und vom Kurs abkommen.«<br />

»Schiffbruch. E<strong>in</strong> schöner Vergleich«, sagte Gesa und zog<br />

die Augenbrauen hoch. »Manchmal wirkt es so, <strong>als</strong> wolltest Du<br />

17


mehr von mir. Was auch immer das se<strong>in</strong> mag.«<br />

»Wieso mehr? Ich bitte Dich! Wir haben e<strong>in</strong>e Affäre. Wir haben<br />

Spaß. Wir s<strong>in</strong>d uns e<strong>in</strong>ig. Und wir wollten e<strong>in</strong> paar Tage hier<br />

ausspannen und uns vergnügen. Es gibt ke<strong>in</strong> Mehr, Gesa. Du<br />

sp<strong>in</strong>nst«, sagte er und versuchte dabei, gelassener zu wirken, <strong>als</strong><br />

er war. Se<strong>in</strong>e Antwort beruhigte sie. Was auch immer er vorhaben<br />

mochte, mit ihrem Verhältnis hatte es nichts zu tun.<br />

Der Schotterweg en<strong>de</strong>te an e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Straße. Von hier aus<br />

hatten sie e<strong>in</strong>e herrliche Aussicht über die Küste <strong>in</strong> Richtung<br />

Deià. Dieser Anblick traf Gesa so unvermittelt, dass sie die Me<strong>in</strong>ungsverschie<strong>de</strong>nheit<br />

mit Paul e<strong>in</strong>fach vergaß.<br />

»Gott, ist das schön«, sagte sie ganz gegen ihre Gewohnheit<br />

völlig unbedacht. Sie schaute über die grünen Wipfel <strong><strong>de</strong>r</strong> Aleppokiefern,<br />

Ste<strong>in</strong>eichen und Zypressen h<strong>in</strong>weg auf das tiefblaue<br />

Mittelmeer, das weit am Horizont mit <strong>de</strong>m Himmel verschmolz.<br />

Paul atmete tief durch und richtete se<strong>in</strong>en Blick ebenfalls auf<br />

die steil <strong>in</strong>s Wasser abfallen<strong>de</strong>n, dicht bewachsenen Hänge und<br />

kargen Felsen.<br />

Sie g<strong>in</strong>gen bis zum En<strong>de</strong> e<strong>in</strong>er schmalen Teerstraße. Hier bogen<br />

sie nach l<strong>in</strong>ks auf die Landstraße ab. Wenn ihnen e<strong>in</strong> Auto o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

e<strong>in</strong>er <strong><strong>de</strong>r</strong> großen Reisebusse entgegenkam, stoppten sie kurz und<br />

traten noch etwas mehr zur Seite. Als sie am höchsten Punkt<br />

<strong>de</strong>s Teilstücks angekommen waren, erreichten sie auf <strong><strong>de</strong>r</strong> gegenüberliegen<strong>de</strong>n<br />

Seite <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>gang zum Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>weg, <strong><strong>de</strong>r</strong> weiter<br />

bergauf führte.<br />

Pauls Keuchen wur<strong>de</strong> vom Summen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bienen <strong>in</strong> <strong>de</strong>n G<strong>in</strong>sterbüschen<br />

und Feigenbäumen übertönt, die <strong>de</strong>n Weg säumten.<br />

Die Insekten, die ihren Ohren immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> bedrohlich nahe kamen,<br />

ließen Gesa das Tempo erhöhen. Sie hatte panische Angst<br />

vor diesem Summen. Paul konnte kaum mithalten. An e<strong>in</strong>er<br />

kle<strong>in</strong>en verfallenen Kapelle blieb Gesa stehen. Unruhig wartete<br />

sie auf Paul, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich wahrsche<strong>in</strong>lich auf e<strong>in</strong>e kurze Verschnaufpause<br />

freute und enttäuscht feststellen musste, dass es gleich<br />

weiter g<strong>in</strong>g, <strong>als</strong> er sie e<strong>in</strong>geholt hatte.<br />

»Hier geht’s nach l<strong>in</strong>ks über <strong>de</strong>n Camí <strong>de</strong>s Castello nach <strong>Sóller</strong>.<br />

Rechts könnten wir e<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>ca besuchen, die sehr schön se<strong>in</strong><br />

18


soll. Aber das lassen wir wohl heute besser. Lass uns gehen!<br />

Diese Biester machen mich verrückt. Vielleicht gehen wir diesen<br />

Weg noch e<strong>in</strong>mal, dann biegen wir hier nach Deià ab. Das<br />

dauert <strong>de</strong>utlich länger. «<br />

Nach e<strong>in</strong>er halben Stun<strong>de</strong> bogen sie nach rechts ab auf <strong>de</strong>n<br />

Camí <strong>de</strong>s Rost, e<strong>in</strong>en historischen Ste<strong>in</strong>pflasterweg, <strong><strong>de</strong>r</strong> bergab<br />

Richtung <strong>Sóller</strong> führte. Gesa fragte sich, wie <strong>in</strong> früheren Zeiten<br />

Eselskarren auf diesen Ste<strong>in</strong>en hatten rollen können. Welche<br />

Mühsal. Der Weg war alles an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>als</strong> eben und die Ste<strong>in</strong>e<br />

waren vom Regen rund geschliffen. Gesa g<strong>in</strong>g abwärts <strong>de</strong>utlich<br />

langsamer <strong>als</strong> Paul, <strong><strong>de</strong>r</strong> sie weit ausschreitend überholt hatte.<br />

Sie konzentrierte sich auf je<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>zelnen Schritt, um nicht <strong>in</strong>s<br />

Rutschen zu geraten. Sie stoppte von Zeit zu Zeit und vermied<br />

es so, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Rhythmus zu kommen, <strong><strong>de</strong>r</strong> sie immer schneller<br />

wer<strong>de</strong>n lassen wür<strong>de</strong>, bis sie nicht mehr hätte anhalten können<br />

und <strong>de</strong>n Berg h<strong>in</strong>unter rennen müsste. E<strong>in</strong>e atemlose Vorstellung,<br />

die sie gierig Luft schnappen und e<strong>in</strong>en ungewöhnlichen<br />

Duft e<strong>in</strong>atmen ließ.<br />

Den vom weichen Waldbo<strong>de</strong>n aufsteigen<strong>de</strong>n Geruch trockener<br />

Kiefernna<strong>de</strong>ln kannte sie ebenso wie <strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> blühen<strong>de</strong>n Büsche<br />

am Wegesrand. Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> süßliche, fast betören<strong>de</strong> Duft reifer<br />

Orangen nahm ihr <strong>de</strong>n Atem und ließ sie <strong>in</strong>nehalten. Ihr war, <strong>als</strong><br />

wäre ihr eigener Film für kurze Zeit angehalten wor<strong>de</strong>n. Gesa<br />

war Mitte vierzig und wenn nichts Außergewöhnliches passierte,<br />

wür<strong>de</strong> alles immer so weiter gehen. Ihr Leben war leicht. Sie<br />

nahm es nicht ernst. Sie machte ihre Arbeit. Sie erledigte sie<br />

gut, ohne allzu große Anstrengung. So wie ihre Ehe. Als sie dies<br />

dachte, tat sie es mit Gleichmut und großer Gelassenheit. Wie<br />

e<strong>in</strong>e Zuschauer<strong>in</strong>, die e<strong>in</strong>e Aufführung verfolgt und sich fragt,<br />

was aus all <strong>de</strong>m wird. Wenn aber nichts passierte, so wäre es<br />

auch gut. Sie stellte ke<strong>in</strong>e großen Erwartungen an die Aufführung.<br />

Der Film konnte fortfahren.<br />

Gesa g<strong>in</strong>g weiter und prompt rutschte sie e<strong>in</strong> wenig, ihr rechter<br />

Fuß glitt nur e<strong>in</strong> paar Zentimeter über lockeren Schotter. Doch<br />

sie erschrak und schrie kurz auf. Paul hörte sie, drehte sich um<br />

und erkannte sogleich, dass nichts passiert war. Er g<strong>in</strong>g weiter.<br />

19


Gesa atmete tief e<strong>in</strong> und blickte auf. Vor ihr öffnete sich <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Blick auf das Orangental, das von <strong>de</strong>n Bergen <strong><strong>de</strong>r</strong> Serra Tramuntana<br />

e<strong>in</strong>gefasst war. Sie fragte sich, wieso sie e<strong>in</strong>e Landschaft<br />

auf e<strong>in</strong>mal so berühren konnte, kümmerte sich jedoch nicht um<br />

die Suche nach e<strong>in</strong>er Antwort und setzte ihren Weg fort.<br />

Die ersten Häuser von <strong>Sóller</strong> kamen <strong>in</strong> Sicht. Sie überquerten<br />

e<strong>in</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong> Tunnel, durch die <strong><strong>de</strong>r</strong> »Rote Blitz« fuhr, e<strong>in</strong>e altertümliche<br />

Eisenbahn, die <strong>Sóller</strong> und Palma verband. Es war Mittagszeit.<br />

Bei <strong>de</strong>n Häusern, die sie passierten, war ke<strong>in</strong>e Menschenseele<br />

zu sehen. Nach e<strong>in</strong>er scharfen Rechtskurve fan<strong>de</strong>n sie sich<br />

unter e<strong>in</strong>er von wil<strong>de</strong>m We<strong>in</strong> überrankten Pergola wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Sie<br />

war auf <strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>en Seite an <strong><strong>de</strong>r</strong> Mauer e<strong>in</strong>es Hauses und auf <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Seite auf ste<strong>in</strong>ernen Säulen befestigt. Der öffentliche Weg<br />

führte über diese fast privat anmuten<strong>de</strong> Terrasse. Die Pergola<br />

en<strong>de</strong>te vor e<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>kskehre, wo sie e<strong>in</strong> älterer Mann erwartete.<br />

Neben ihm stand e<strong>in</strong>e große, alte Ba<strong>de</strong>wanne voller Orangen.<br />

Der Mann begrüßte die Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>er mit e<strong>in</strong>em freundlich genuschelten<br />

»Buenos días«, das diese mit <strong>de</strong>m für Touristen üblichen<br />

»Hola« erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>ten. »Naranja dulce«, sagte er, fügte e<strong>in</strong><br />

»buy« h<strong>in</strong>zu und gr<strong>in</strong>ste, wobei sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Gesicht zwischen<br />

<strong>de</strong>n grauen Bartstoppeln tiefe Furchen zeigten.<br />

»No, gracias«, sagte Gesa, während Paul unbee<strong>in</strong>druckt weitergegangen<br />

war und <strong>de</strong>m Mann ke<strong>in</strong>e Beachtung schenkte.<br />

»Sie haben e<strong>in</strong>e schöne Terrasse«, fuhr Gesa auf Spanisch fort.<br />

Der Mann war überrascht. Von Touristen erwartete er das wohl<br />

schon lange nicht mehr, wahrsche<strong>in</strong>lich schon gar nicht von e<strong>in</strong>er<br />

Deutschen, die zwar nicht mehr ganz so jung, aber trotz<strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>m Klischee e<strong>in</strong>er typischen Blond<strong>in</strong>e entsprechen könnte.<br />

Die Situation war für ihn sicherlich ungewöhnlich. Normalerweise<br />

sprach er wahrsche<strong>in</strong>lich die Touristen kurz an, die<br />

meisten g<strong>in</strong>gen weiter und er konnte sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf se<strong>in</strong>em<br />

weißen Plastikstuhl nie<strong><strong>de</strong>r</strong>lassen. Manchmal kaufte e<strong>in</strong>er etwas,<br />

dann konnte man sich mit Gesten verständigen, <strong>de</strong>nn er sprach<br />

offensichtlich nur Spanisch und <strong>de</strong>n Inseldialekt. Sie hatte das<br />

Gefühl, ihn sehr bee<strong>in</strong>druckt zu haben.<br />

»Danke. Me<strong>in</strong> Vater hat die Pergola angelegt. Im Sommer s<strong>in</strong>d<br />

20


die Blätter <strong>de</strong>s We<strong>in</strong>s e<strong>in</strong> wahrer Segen, und im Herbst ernten<br />

wir wun<strong><strong>de</strong>r</strong>bare Trauben.«<br />

»Und Sie haben viele Orangenbäume, nehme ich an.«<br />

»Wie man’s nimmt. Zu viel und zu wenig. Me<strong>in</strong>e Abnehmer<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> paar Hotels im Hafen. Dafür ist me<strong>in</strong>e Ernte mehr <strong>als</strong><br />

groß genug. Ich versuche immer noch, zusätzlich e<strong>in</strong> paar Orangen<br />

an Touristen zu verkaufen, doch die bekommen schon mehr<br />

<strong>als</strong> genug <strong>in</strong> Hotels und Restaurants, wie Sie vielleicht schon<br />

gesehen haben. Für <strong>de</strong>n Export ist me<strong>in</strong>e Plantage zu kle<strong>in</strong>. Seit<br />

zwei Jahren b<strong>in</strong> ich Mitglied <strong><strong>de</strong>r</strong> Kooperative, die Früchte von<br />

hier über das Internet <strong>in</strong> Deutschland vertreibt. – Und Sie? Was<br />

br<strong>in</strong>gt Sie <strong>in</strong>s Orangental? Das Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>n?«<br />

»Nun ja, bisher b<strong>in</strong> ich nicht viel gewan<strong><strong>de</strong>r</strong>t <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben«,<br />

sagte Gesa und schaute zu Paul, <strong><strong>de</strong>r</strong> weiter entfernt stehen geblieben<br />

war. »Wir wollten mal wirklich ganz <strong>in</strong> Ruhe vom Alltag<br />

entspannen. Deshalb s<strong>in</strong>d wir hier.«<br />

»Erholen kann man sich bei uns gut. In welchem Hotel wohnen<br />

Sie <strong>de</strong>nn?«<br />

»Im Borrasca <strong>in</strong> <strong>Port</strong> <strong>de</strong> <strong>Sóller</strong>, das letzte Hotel auf <strong><strong>de</strong>r</strong> l<strong>in</strong>ken<br />

Seite <strong><strong>de</strong>r</strong> Bucht, oberhalb vom Strand ...«<br />

»Oh, ja, ja, ich kenne das Borrasca. Es gehört e<strong>in</strong>em Freund<br />

von mir. O<strong><strong>de</strong>r</strong> besser: se<strong>in</strong>er Frau. Die Orangen dort s<strong>in</strong>d von<br />

mir. E<strong>in</strong> sehr e<strong>in</strong>faches Haus. Ihr Mann sieht gar nicht danach<br />

aus.« Jetzt schaute <strong><strong>de</strong>r</strong> Mallorqu<strong>in</strong>er <strong>in</strong> Pauls Richtung.<br />

»Doch. Wir mögen das E<strong>in</strong>fache. Ab und zu e<strong>in</strong>mal. Er ist<br />

nicht me<strong>in</strong> Mann.«<br />

Der Mallorqu<strong>in</strong>er gr<strong>in</strong>ste nur.<br />

»Gesa! Was ist jetzt? Gehen wir weiter?«, rief Paul laut, er<br />

konnte sich wohl nicht vorstellen, dass Gesa sich freiwillig mit<br />

diesem Menschen unterhielt, und wollte sie retten.<br />

»Entschuldigen Sie, ich muss weiter«, sagte Gesa und wollte<br />

ihrem Gegenüber die Hand schütteln. Dieser gab ihr zum Abschied<br />

e<strong>in</strong>e Orange mit auf <strong>de</strong>n Weg.<br />

»Sie s<strong>in</strong>d wirklich sehr süß. Und gesund. Vielleicht brauchen<br />

Sie e<strong>in</strong> wenig Kraft für das Fest heute. Essen Sie die guten Orangen<br />

aus unserem Tal, schöne Frau, und kommen Sie e<strong>in</strong>mal wie<strong><strong>de</strong>r</strong>.«<br />

21


Gesa sagte, das wer<strong>de</strong> sie bestimmt tun, glaubte sogar daran,<br />

verabschie<strong>de</strong>te sich und g<strong>in</strong>g zu Paul.<br />

»Was wollte <strong><strong>de</strong>r</strong> Kerl <strong>de</strong>nn noch von Dir? Konnte <strong><strong>de</strong>r</strong> doch<br />

Deutsch o<strong><strong>de</strong>r</strong> was?« Er nahm ihr die Orange aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand und<br />

begann, sie zu schälen.<br />

»Ja, e<strong>in</strong> wenig«, sagte sie. Mehr wollte sie ihm nicht erklären.<br />

»Wir haben über Orangen gesprochen.«<br />

»Me<strong>in</strong>e Güte, e<strong>in</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Thema haben die hier ja auch nicht,<br />

die Orangentaler.«<br />

Paul lachte über se<strong>in</strong>e Wortschöpfung und legte Gesa <strong>de</strong>n Arm<br />

um die Schulter, entfernte ihn aber sofort wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Offensichtlich<br />

war ihm die körperliche Nähe angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> Hitze zu warm. Er<br />

gab ihr die Hälfte <strong><strong>de</strong>r</strong> Orange.<br />

Paul beschleunigte se<strong>in</strong>en Schritt vorbei am botanischen Garten<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt. Von <strong><strong>de</strong>r</strong> Natur hatte er für heute wohl genug. Sie sah<br />

ihm an, dass er e<strong>in</strong>e Zigarette brauchte und e<strong>in</strong> Bier, dann e<strong>in</strong>e<br />

Dusche, e<strong>in</strong> gemütliches Aben<strong>de</strong>ssen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em guten Restaurant<br />

und e<strong>in</strong>e lustvolle Nacht. Er war e<strong>in</strong>fach zu berechnen. Das gefiel<br />

ihr <strong>in</strong> diesem Moment.<br />

Die Häuser <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Straße, die zum Stadtkern führte, waren mit<br />

zwei Sorten von Fahnen geschmückt. Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> rotgrundigen war<br />

e<strong>in</strong> Halbmond zu sehen, die an<strong><strong>de</strong>r</strong>e war weiß mit rotem Querund<br />

Längsbalken.<br />

Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Plaza Constitución, <strong>de</strong>m Marktplatz von <strong>Sóller</strong>,<br />

herrschte e<strong>in</strong> buntes Treiben. Er war voller <strong>Piraten</strong> und altertümlich<br />

geklei<strong>de</strong>ter Menschen. Nur vere<strong>in</strong>zelt waren Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>er<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Touristen zu sehen. Der von <strong><strong>de</strong>r</strong> Kopfseite her leicht<br />

abfallen<strong>de</strong> Platz war umrahmt von Cafés und Restaurants sowie<br />

vom historischen Gebäu<strong>de</strong> e<strong>in</strong>er Bank (die aus noch nicht<br />

geklärten Grün<strong>de</strong>n die F<strong>in</strong>anzkrise überstan<strong>de</strong>n hatte), <strong>de</strong>m Rathaus<br />

und Sant Bartomeu, e<strong>in</strong>er Kirche, die im 15. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

auf <strong>de</strong>n Grundmauern e<strong>in</strong>er Moschee errichtet wor<strong>de</strong>n war. So<br />

stand es zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st im Reiseführer, <strong>de</strong>n Gesa nun für Paul zum<br />

Vortrag brachte. Er hörte nicht zu. Zielsicher steuerte er auf e<strong>in</strong>en<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> vielen freien Tische auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Terrasse <strong>de</strong>s Café Central<br />

zu, ließ sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Stuhl fallen, w<strong>in</strong>kte <strong>de</strong>m Kellner zu und sagte:<br />

22


»Chef, e<strong>in</strong> Bier bitte!«. Dann wandte er sich an Gesa: »Und Du,<br />

vielleicht e<strong>in</strong>en Kaffee?«<br />

»Sangría und e<strong>in</strong> Wasser, bitte«, sagte sie ebenfalls auf<br />

Deutsch zum Kellner und versuchte, mit e<strong>in</strong>em Lächeln das<br />

schlechte Benehmen ihres Begleiters wegzuzaubern.<br />

Der Kellner lächelte zurück und sagte dann auf Spanisch: »Es<br />

tut mir leid, aber wir schließen gleich. Heute feiern wir Es Firó,<br />

<strong>de</strong>n Sieg <strong><strong>de</strong>r</strong> Sollérics über die Mauren.«<br />

Paul sah ihn fragend an.<br />

»Wir schließen. Wir feiern e<strong>in</strong> Fest. Wie je<strong>de</strong>s Jahr. Heute ist<br />

e<strong>in</strong> großes Spektakel im Hafen. Alle fahren h<strong>in</strong>«, erklärte <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Kellner auf Deutsch.<br />

»Das darf doch nicht wahr se<strong>in</strong>«, rief Paul und zün<strong>de</strong>te sich<br />

e<strong>in</strong>e Zigarette an. Der Kellner zuckte entschuldigend mit <strong>de</strong>n<br />

Schultern, lächelte schief und räumte die letzten Tische ab.<br />

»Dann müssen wir wohl wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zurück <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Hafen«, sagte<br />

Gesa. »Am besten, wir fahren mit <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Straßenbahn. Die<br />

fährt hier gleich um die Ecke ab.«<br />

Paul griff <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Rucksack, holte die Wasserflasche hervor,<br />

öffnete sie und leerte sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zug. Die Flasche stellte er auf<br />

<strong>de</strong>n Tisch. Dann stand er auf und schoss an Gesa vorbei <strong>in</strong> die<br />

Richtung, <strong>in</strong> die sie gezeigt hatte. Gesa verdrehte die Augen und<br />

seufzte laut. Sie lief ihm nach. Als sie die Ecke an <strong><strong>de</strong>r</strong> großen<br />

Kirche erreicht hatten, an <strong><strong>de</strong>r</strong> sie zum Bahnhof abbiegen wollten,<br />

erblickten sie e<strong>in</strong>e große Menge verklei<strong>de</strong>ter Menschen. Viele<br />

hatten mit Ruß geschwärzte Gesichter und waren mit Spielzeugkrummsäbeln<br />

ausgestattet, sie trugen mittelalterliche Gewän<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> praktische <strong>Piraten</strong>kleidung. Manche Frauen hatten trachtenartige<br />

Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> und Kopftücher angelegt. Allen geme<strong>in</strong>sam<br />

war die ausgelassene Stimmung.<br />

Pauls Blick zeigte se<strong>in</strong> Entsetzen, Gesa war begeistert. Ihr<br />

fielen nun die Worte aus <strong>de</strong>m Reiseführer zu diesem alljährlich<br />

stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Fest e<strong>in</strong>, die sie zwar gelesen, jedoch nicht auf<br />

<strong>de</strong>n heutigen Montag bezogen hatte. Sie hatte nicht nachgerechnet.<br />

Als sie Paul gera<strong>de</strong> die H<strong>in</strong>tergrün<strong>de</strong> erklären wollte,<br />

begann dieser damit, sich durch die Menge zur Bahnstation zu<br />

23


kämpfen, <strong>in</strong><strong>de</strong>m er sich mit <strong>de</strong>n Ellenbogen Platz verschaffte.<br />

Gesa folgte ihm durch die geschlagene Schneise, die Blase an<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Ferse ihres rechten Fußes begann unangenehm zu brennen.<br />

Sie wünschte, Paul wäre nicht hier. Sie hätte vorher nach<strong>de</strong>nken<br />

sollen. Überhaupt hätte sie irgendwann e<strong>in</strong>mal irgen<strong>de</strong>twas<br />

<strong>de</strong>nken sollen. Ihren Verstand e<strong>in</strong>setzen, statt jetzt h<strong>in</strong>ter diesem<br />

Mann her zu schieben und die dumme Tourist<strong>in</strong> zu geben, die<br />

man mit unflätigen Bemerkungen dazu auffor<strong><strong>de</strong>r</strong>te, sich wie alle<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en h<strong>in</strong>ten anzustellen. Schließlich warteten sie alle auf die<br />

Züge, die sie zum Hafen br<strong>in</strong>gen sollten, bevor die Bahn <strong>de</strong>n<br />

Betrieb für <strong>de</strong>n Nachmittag komplett e<strong>in</strong>stellte. Sie hatte nicht<br />

übel Lust, Paul die Beschimpfungen <strong>in</strong>s Deutsche zu übersetzen,<br />

unterließ es aber dann aus Trägheit.<br />

Als er fast am Haltestellenschild angekommen war, blieb er<br />

endlich stehen. »So, das dürfte reichen. Von hier aus haben wir<br />

e<strong>in</strong>e strategisch günstige Position, um mitgenommen zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Das ist ja wie Karneval. Stand das nicht im Reiseführer?«<br />

»Ne<strong>in</strong>, es wur<strong>de</strong> mit ke<strong>in</strong>em Wort erwähnt«, log Gesa.<br />

»Was? Obwohl das angeblich je<strong>de</strong>s Jahr stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t? Entwe<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> saubere Herr Kellner hat uns e<strong>in</strong>en Bären aufgebun<strong>de</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Reiseführer ist Mist. Da vorne kommt die Bahn aus <strong>de</strong>m<br />

Depot gerollt. Was ist das <strong>de</strong>nn für e<strong>in</strong> Gerät?«<br />

Die holzverklei<strong>de</strong>ten, an <strong>de</strong>n Seiten offenen Wagen, die nun<br />

auf sie zurollten, dürften für Paul <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Freizeitpark gehören.<br />

Das sagte se<strong>in</strong> unwilliges Kopfschütteln. Obwohl Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

EU, seien die südlichen Län<strong><strong>de</strong>r</strong> sehr weit zurück, dozierte er und<br />

Gesa war froh, dass ihn außer ihr sche<strong>in</strong>bar niemand verstehen<br />

konnte, <strong>als</strong> er von faulen Gesellen und Schmarotzern sprach.<br />

Als die Bahn am Bordste<strong>in</strong> zum Stehen kam, schoben sich<br />

die Fahrgäste h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Die bei<strong>de</strong>n Deutschen wur<strong>de</strong>n mitgespült<br />

und fan<strong>de</strong>n sich <strong>in</strong> engem Körperkontakt mit <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>heimischen<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, die sie <strong>als</strong> Fremdkörper nicht beachteten und sich über<br />

sie h<strong>in</strong>weg o<strong><strong>de</strong>r</strong> an ihnen vorbei weiter unterhielten. Paul zog<br />

Gesa näher zu sich heran, musste sie aber sofort wie<strong><strong>de</strong>r</strong> loslassen,<br />

weil sich die Bahn heftig schwankend <strong>in</strong> Bewegung setzte. Er<br />

griff nach e<strong>in</strong>er Le<strong>in</strong>e, die sich unter <strong><strong>de</strong>r</strong> niedrigen Decke durch<br />

24


<strong>de</strong>n gesamten Wagen zog, zuckte aber augenblicklich zurück,<br />

da sie ke<strong>in</strong>en Halt bot, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n nur e<strong>in</strong> Glöckchen zum Kl<strong>in</strong>gen<br />

brachte. Die Umstehen<strong>de</strong>n lachten, weil mal wie<strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong> Tourist<br />

das Signal zum Anhalten gegeben hatte.<br />

In <strong><strong>de</strong>r</strong> nächsten Kurve bekam <strong><strong>de</strong>r</strong> Wagen e<strong>in</strong>e solche Schieflage,<br />

dass Gesa heftig zur Seite geworfen wur<strong>de</strong>. E<strong>in</strong> Seeräuber<br />

hielt sie fest, <strong>in</strong><strong>de</strong>m er mit se<strong>in</strong>er großen schwarzen Hand nach<br />

ihrem H<strong>in</strong>tern griff. Er gr<strong>in</strong>ste, se<strong>in</strong>e Zähne leuchteten im Kontrast<br />

zur geschwärzten Gesichtsfarbe gelblich. Se<strong>in</strong>e Augen waren<br />

h<strong>in</strong>ter <strong><strong>de</strong>r</strong> großen verspiegelten Sonnenbrille nicht zu sehen. Er<br />

sah aus wie e<strong>in</strong> Wüstenbewohner. Das lange weiße Bettlaken war<br />

an se<strong>in</strong>em Kopf mit e<strong>in</strong>em roten Band befestigt. Über se<strong>in</strong>em<br />

schwarzen T-Shirt trug er e<strong>in</strong>e orangefarbene Bauchb<strong>in</strong><strong>de</strong>, e<strong>in</strong>em<br />

Kummerbund ähnlich, dazu e<strong>in</strong>e dunkelblaue Plu<strong><strong>de</strong>r</strong>hose. Gesa<br />

richtete sich sofort wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf und drängte zu Paul. Der Pirat ließ<br />

se<strong>in</strong>en Plastikkrummsäbel, <strong>de</strong>n er <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Hand hielt, wie<br />

ungewollt zwischen ihre Be<strong>in</strong>e gleiten und wen<strong>de</strong>te sich dann<br />

ab. Paul, <strong><strong>de</strong>r</strong> immer noch nach Halt suchte, hatte von all <strong>de</strong>m<br />

nichts mitbekommen und fühlte sich nun von Gesa bedrängt.<br />

»Was s<strong>in</strong>d das für ekelhafte Typen«, zischte sie.<br />

»Rück etwas zur Seite. So kann ich uns nicht halten«, sagte<br />

Paul unwirsch und streckte <strong>de</strong>n l<strong>in</strong>ken Arm über e<strong>in</strong>e Sitzbank<br />

h<strong>in</strong>weg zur Wand über <strong>de</strong>m Fenster. Se<strong>in</strong>e Handfläche fand notdürftigen<br />

Halt. Doch <strong>als</strong> die Bahn scharf bremste, kippte er nach<br />

h<strong>in</strong>ten. Gleich mehrere Fahrgäste schoben ihn wie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong> die aufrechte<br />

Haltung zurück. Er fluchte.<br />

»Dreckige Hän<strong>de</strong>, verklebt von Schweiß und was weiß ich<br />

noch allem. Das ist doch wi<strong><strong>de</strong>r</strong>lich. Es ist Mittag und sie st<strong>in</strong>ken<br />

wie die Schwe<strong>in</strong>e«, fauchte er entrüstet und umklammerte Gesas<br />

Schulter, die sich an <strong><strong>de</strong>r</strong> Rückenlehne e<strong>in</strong>er Sitzbank festhielt.<br />

Sie fuhren an H<strong>in</strong>terhöfen vorbei, hielten nur noch e<strong>in</strong>mal auf<br />

sche<strong>in</strong>bar freier Strecke. Ob jemand e<strong>in</strong>- o<strong><strong>de</strong>r</strong> ausstieg, konnten<br />

Gesa und Paul von ihrem Standort nicht erkennen. Gesa fühlte<br />

sich beobachtet, und <strong>als</strong> sie sich umdrehte, sah sie, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Wüstenpirat<br />

sie mit ernster Miene anstarrte. Als sie zu ihm schaute,<br />

stülpte er die Lippen unmerklich nach vorne. Gesas Herz trom-<br />

25


melte <strong>in</strong> Panik. Obwohl ihr unter all diesen Menschen zusammen<br />

mit Paul nichts passieren konnte, fühlte sie sich ausgeliefert.<br />

Es mussten die Nerven se<strong>in</strong>. Die ungewohnte Anstrengung.<br />

Die vielen neuen E<strong>in</strong>drücke. Paul, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich seltsam nervös aufführte.<br />

Und dann diese Hitze. Sie wollte jetzt nicht überreagieren.<br />

Bald wür<strong>de</strong>n sie ankommen und dann <strong>in</strong>s Hotel gehen. Bei<br />

<strong>de</strong>m Gedanken, dass sie sich auf dieses Loch freute, musste sie<br />

lächeln. Vielleicht sollten sie abends das Essen dort probieren,<br />

wenn alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Lokale geschlossen waren. Schließlich hatten<br />

sie Halbpension gebucht. Der Unterschied zur Übernachtung<br />

mit Frühstück hatte für die ganze Woche 20 Euro betragen. Die<br />

Qualität <strong>de</strong>s Essens musste unterirdisch se<strong>in</strong>. Bis dah<strong>in</strong> waren es<br />

allerd<strong>in</strong>gs noch ganze sechse<strong>in</strong>halb Stun<strong>de</strong>n.<br />

26


3<br />

Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Terrasse, die durch die Straße vom Hotel Borrasca<br />

getrennt war, stan<strong>de</strong>n Klappstühle und -tische aus e<strong>in</strong>fachem<br />

Blech <strong>in</strong> bunten Farben. Im Moment saß hier niemand. Die Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>arbeiter,<br />

die an diesem Nachmittag frei hatten, stan<strong>de</strong>n am<br />

weißen Gelän<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Terrasse mit <strong>de</strong>m Rücken zum Hotel und<br />

beobachteten <strong>de</strong>n Angriff <strong><strong>de</strong>r</strong> Mauren auf <strong>de</strong>n Hafen von <strong>Sóller</strong>.<br />

Kanonenschüsse erschütterten die kle<strong>in</strong>e Bucht. Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> gegenüberliegen<strong>de</strong>n<br />

Seite stiegen orangefarbene Rauchwolken auf.<br />

Unterhalb ihres Standorts konnten sie auf <strong><strong>de</strong>r</strong> rechten Seite das<br />

gespielte Kampfgetümmel <strong><strong>de</strong>r</strong> Truppen von Mauren und Christen<br />

am Strand beobachten. Woran man erkennen sollte, wer zu wem<br />

gehörte und wer <strong>de</strong>n Sieg davontrug, wussten sie nicht.<br />

Unter <strong>de</strong>n Schaulustigen war auch Luis Rodriguez, Polier aus<br />

Valencia. Er war froh, heute Nachmittag nicht <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Hitze arbeiten<br />

zu müssen. Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> kurzen Frühschicht hatte er geduscht, e<strong>in</strong><br />

weißes T-Shirt und e<strong>in</strong>e khakifarbene Hose angezogen und anschließend<br />

e<strong>in</strong>e Kle<strong>in</strong>igkeit zu Mittag gegessen. Er liebte diesen<br />

Blick über die Bucht und die dah<strong>in</strong>ter liegen<strong>de</strong>n Berge. Die Ruhe.<br />

Das Spektakel am Strand <strong>in</strong>teressierte ihn nicht. Als er genug<br />

gesehen hatte, zog er e<strong>in</strong> Buch aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Seitentasche se<strong>in</strong>er Hose<br />

und setzte sich an e<strong>in</strong>en Tisch. Auf <strong>de</strong>m kle<strong>in</strong>en Stuhl wirkte<br />

se<strong>in</strong> kräftiger Körper so <strong>de</strong>platziert, wie es das Buch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Hän<strong>de</strong>n tat. Hier im Schatten konnte er die freie Zeit entspannt<br />

verbr<strong>in</strong>gen, während se<strong>in</strong>e Kollegen sich anschickten, <strong>de</strong>n üblichen<br />

Zug durch die Geme<strong>in</strong><strong>de</strong> zu machen. Nach und nach<br />

verabschie<strong>de</strong>ten sie sich. An se<strong>in</strong>e Marotten hatten sie sich <strong>in</strong>zwischen<br />

gewöhnt. Viele kannten ihn von an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Baustellen.<br />

Luis las, hörte klassische Musik und konnte sogar <strong>de</strong>m kle<strong>in</strong>en<br />

Skulpturengarten <strong>de</strong>s neuen Luxushotels etwas abgew<strong>in</strong>nen, <strong>in</strong><br />

<strong>de</strong>m die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en nur Häufchen <strong>de</strong>formierter und zerstückelter<br />

Eisenträger sahen.<br />

Luis las gera<strong>de</strong> das Werk e<strong>in</strong>es südamerikanischen Autors.<br />

Die Struktur <strong>de</strong>s Romans Stück für Stück zu erkennen, h<strong>in</strong>ter die<br />

27


Fassa<strong>de</strong> aus Worten und vor<strong><strong>de</strong>r</strong>gründiger Handlung zu blicken,<br />

bereitete ihm bei diesem Buch e<strong>in</strong>e beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Freu<strong>de</strong>. Es war<br />

genauso schön, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Vollendung e<strong>in</strong>es Bauwerks beizuwohnen.<br />

In se<strong>in</strong>en Augen war <strong><strong>de</strong>r</strong> Autor e<strong>in</strong> großer Baumeister, <strong>de</strong>nn was<br />

machten Schriftsteller an<strong><strong>de</strong>r</strong>es, <strong>als</strong> zu bauen! Die Worte waren<br />

wie Ste<strong>in</strong>e, die nach und nach e<strong>in</strong> Haus entstehen ließen, manchmal<br />

bloß e<strong>in</strong>e wacklige Hütte, zuweilen e<strong>in</strong>e imposante Brücke,<br />

die unbekannte Inseln <strong><strong>de</strong>r</strong> Erkenntnis für <strong>de</strong>n menschlichen<br />

Geist erschloss.<br />

Lesen war e<strong>in</strong>e große Lust, und er wollte e<strong>in</strong>es Tages so viel<br />

gelesen haben, dass er selbst <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Lage war, Bücher zu schreiben.<br />

Bis dah<strong>in</strong> nährte er sich mit <strong>de</strong>n Werken an<strong><strong>de</strong>r</strong>er. Um sich<br />

<strong>de</strong>n Traum vom Schreiben erfüllen zu können, sparte er e<strong>in</strong>en<br />

großen Teil se<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>kommens, dafür nahm er die Strapazen<br />

weltweiter Arbeit auf sich. Es wür<strong>de</strong> nicht mehr lange dauern,<br />

dann könnte er das Leben <strong>de</strong>s Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>arbeiters gegen das e<strong>in</strong>es<br />

Schriftstellers tauschen. Vielleicht sogar noch vor se<strong>in</strong>em fünfzigsten<br />

Geburtstag <strong>in</strong> drei Jahren. Se<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Problem dabei:<br />

Luis war Legastheniker. Als K<strong>in</strong>d hatte er sehr spät mit <strong>de</strong>m<br />

Sprechen angefangen und auch nur wenige Worte zur Verfügung<br />

gehabt. Während se<strong>in</strong>er Schulzeit hatte er dann viel gelesen.<br />

Se<strong>in</strong>e Rechtschreibung blieb jedoch verheerend und rief – je<br />

nach<strong>de</strong>m, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Leser zu ihm stand – Belustigung, Mitleid,<br />

Entsetzen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Gleichgültigkeit hervor. Und so war er <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

seltsamen Lage <strong>de</strong>ssen, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Kopf zwar Geschichten<br />

er<strong>de</strong>nken und <strong>in</strong> schönen Sätze formulieren, sie jedoch, was die<br />

Orthographie betraf, nicht <strong>in</strong> gleicher Schönheit zu Papier br<strong>in</strong>gen<br />

konnte.<br />

Der Polier seufzte und sah h<strong>in</strong>aus aufs Meer. Nur selten hatte<br />

er das Glück, se<strong>in</strong>er Heimat Valencia so nahe zu se<strong>in</strong> wie jetzt.<br />

Dort zog es ihn von Zeit zu Zeit immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> h<strong>in</strong>, weil er <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

festen Überzeugung war, dass je<strong><strong>de</strong>r</strong> sich se<strong>in</strong>er Herkunft und<br />

se<strong>in</strong>er Wurzeln bewusst se<strong>in</strong> sollte. Wenn er oben von <strong><strong>de</strong>r</strong> Baustelle<br />

nach Westen schaute, g<strong>in</strong>g se<strong>in</strong> Blick direkt nach zur Stadt<br />

se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit. Auch wenn über 250 Kilometer Mittelmeer dazwischen<br />

lagen, hatte er <strong>in</strong> solchen Augenblicken das Gefühl,<br />

28


se<strong>in</strong>em Ursprung nahe zu se<strong>in</strong>. Wenn das Hotel fertig war, wür<strong>de</strong><br />

er mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Fähre übersetzen und se<strong>in</strong>e Mutter, die vier Geschwister<br />

und ihre Familien wie<strong><strong>de</strong>r</strong>sehen. Bis dah<strong>in</strong> dauerte es noch e<strong>in</strong><br />

paar Monate. Sie wür<strong>de</strong>n bis zum Herbst hier bleiben müssen, er<br />

und se<strong>in</strong>e Leute, die aus aller Herren Län<strong><strong>de</strong>r</strong> kamen.<br />

Luis war sehr ruhig und verschlossen. Er mochte es nicht, viele<br />

Worte zu machen. Die meisten waren se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach nur<br />

daher gesagt und ohne Be<strong>de</strong>utung. Umso erstaunlicher waren<br />

se<strong>in</strong>e sprachlichen Fähigkeiten. Neben <strong>de</strong>m Spanischen <strong>als</strong> Muttersprache<br />

beherrschte er noch das Französische perfekt – zum<strong>in</strong><strong>de</strong>st<br />

was das Sprechen betraf, <strong>de</strong>nn die Rechtschreibung war<br />

hier noch verheeren<strong><strong>de</strong>r</strong>. Außer<strong>de</strong>m konnte er sich auf Deutsch,<br />

Türkisch und Griechisch unterhalten. Polnisch und Englisch verstand<br />

er ebenso wie Persisch. Er saugte an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Sprachen auf wie<br />

e<strong>in</strong> Schwamm und verstand recht schnell. Wenn <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwamm<br />

sich vollgesogen hatte, konnte er ihn auswr<strong>in</strong>gen und sprach fast<br />

mühelos mit <strong>de</strong>n E<strong>in</strong>heimischen im Gastland. Für se<strong>in</strong>en Job<br />

war diese Gabe von unschätzbarem Wert. Als Polier musste er<br />

zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong> Baustellenleitung und se<strong>in</strong>en Leuten vermitteln.<br />

Am Strand wur<strong>de</strong> es langsam ruhiger. Die Kanonensalven<br />

waren been<strong>de</strong>t. Nur die Spielzeugpistolen knallten hier und da.<br />

Als Luis e<strong>in</strong> weiteres Kapitel gelesen hatte, schaute er sich um.<br />

Vor ihm lag <strong><strong>de</strong>r</strong> E<strong>in</strong>gang <strong>de</strong>s Hotels. Die schmale Straße davor<br />

war auf <strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>en Seite mit <strong>de</strong>n Mietwagen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gäste zugeparkt.<br />

Auch <strong><strong>de</strong>r</strong> silberne Kle<strong>in</strong>wagen von Madame, <strong><strong>de</strong>r</strong> kauzigen Hotelchef<strong>in</strong>,<br />

stand dort.<br />

In diesem Augenblick kehrte das <strong>de</strong>utsche Paar zurück, das im<br />

Zimmer neben se<strong>in</strong>em untergebracht war. Er hatte sie am Abend<br />

zuvor kurz im Flur gesehen. Das Hotel war hellhörig, und die<br />

bei<strong>de</strong>n waren nicht die ersten, <strong><strong>de</strong>r</strong>en sehr private Geräusche<br />

Luis <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten Wochen zu hören bekommen hatte. Jetzt allerd<strong>in</strong>gs<br />

wirkten sie alles an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>als</strong> vergnügt. Luis w<strong>in</strong>kte ihnen<br />

zu, sie übersahen ihn. Auch gut. Sie g<strong>in</strong>gen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, doch aus<br />

irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>em Grund blieb das Bild <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau auf se<strong>in</strong>er Netzhaut<br />

haften, sodass Luis sie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Innern betrachten konnte. Er<br />

musste <strong>de</strong>n Kopf schütteln, um es wie<strong><strong>de</strong>r</strong> loszuwer<strong>de</strong>n. Es fiel<br />

29


h<strong>in</strong>ab und h<strong>in</strong>terließ e<strong>in</strong> leichtes Kitzeln <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Magengrube.<br />

Luis stand auf und wollte gera<strong>de</strong> zu se<strong>in</strong>em gewohnten Spaziergang<br />

zum Leuchtturm aufbrechen, <strong>als</strong> e<strong>in</strong> alter Mann mit<br />

zwei Flaschen Bier <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand vor das Hotel trat und auf ihn<br />

zukam. Luis setzte sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> und legte das Buch vor sich auf<br />

<strong>de</strong>n Tisch.<br />

»Auch ke<strong>in</strong> Freund von großen Feiern«, stellte <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann auf<br />

Französisch fest und reichte Luis e<strong>in</strong>e Flasche. »Voilà!«<br />

»Danke.«<br />

»Ich schaue gerne zu. Aber zum Mitmachen b<strong>in</strong> ich zu alt«,<br />

sagte <strong><strong>de</strong>r</strong> Alte, nahm e<strong>in</strong>en Schluck und Luis tat es ihm gleich.<br />

Mit e<strong>in</strong>em Nicken stellte er sich vor. »Eduard Ziguré, e<strong>in</strong>fach<br />

Eduard.«<br />

»Luis Rodriguez.«<br />

»Wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Boxer?«<br />

»Ja, und wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Fußballspieler, <strong><strong>de</strong>r</strong> US-Autor und wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

noch Tausen<strong>de</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e mit diesem Allerweltsnamen.«<br />

»E<strong>in</strong> spanischer Name, e<strong>in</strong> spanisches Buch. Aber Du kommst<br />

aus Frankreich, o<strong><strong>de</strong>r</strong>?«<br />

»Ne<strong>in</strong>, ich b<strong>in</strong> Spanier. Me<strong>in</strong> Vater war Algerier und ist <strong>in</strong><br />

Frankreich aufgewachsen. Daher die Sprache und die Farbe. Der<br />

Name kommt von me<strong>in</strong>er Mutter.«<br />

»Hm, ich spreche nur Französisch, kann aber Spanisch ganz<br />

gut verstehen«, brummte Eduard.<br />

»Mit Madame verwandt?«<br />

»Ich b<strong>in</strong> ihr Vater.«<br />

»Und jetzt zu Besuch?«<br />

»Jetzt zu Besuch.«<br />

Damit war die Unterhaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Wortkargen erschöpft. Sie<br />

saßen da und schauten <strong>in</strong>s Weite. Offensichtlich war ihnen ihre<br />

Gesellschaft nicht unangenehm. Obwohl lautes Stimmengewirr<br />

vom Strand heraufklang, war es durch das e<strong>in</strong>vernehmliche<br />

Schweigen <strong>de</strong>utlich ruhiger gewor<strong>de</strong>n, <strong>als</strong> wenn e<strong>in</strong>er <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n<br />

hier alle<strong>in</strong>e gesessen hätte.<br />

Vom Strand her zog e<strong>in</strong>e Gruppe von vier Mauren die Straße<br />

zum Hotel herauf. Alle vier trugen sie dunkle Sonnenbrillen.<br />

30


Ihre Gesichter waren geschwärzt. Vor <strong>de</strong>m E<strong>in</strong>gang blieben sie<br />

kurz stehen, zwei g<strong>in</strong>gen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en bei<strong>de</strong>n schlen<strong><strong>de</strong>r</strong>ten<br />

über die Straße, um sich am Gelän<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Terrasse stehend e<strong>in</strong>en<br />

Überblick über die Reste <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlacht zu gönnen. Wenig später<br />

kamen ihre bei<strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aus <strong>de</strong>m Hotel heraus und<br />

w<strong>in</strong>kten ihnen mit vier Bierflaschen zu. Sie hatten gera<strong>de</strong> die<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Straßenseite erreicht, da erschien Madame <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Tür.<br />

»Bil<strong>de</strong>t Euch ja nicht e<strong>in</strong>, die Flaschen mitnehmen zu können«,<br />

schimpfte sie laut h<strong>in</strong>ter ihnen her. »Und wehe, Ihr werft sie<br />

aus lauter Vergnügen über das Gelän<strong><strong>de</strong>r</strong> gegen die Felsen! Normalerweise<br />

verkaufen wir hier ausschließlich an Gäste. Damit<br />

Burschen wie Ihr uns nicht das Geschäft versaut.«<br />

Die Mauren w<strong>in</strong>kten ihr lachend zu und lieferten das Bier bei<br />

ihren Kamera<strong>de</strong>n ab.<br />

H<strong>in</strong>ter Madame stand das Zimmermädchen Gabriella, das sich<br />

nach <strong>de</strong>m Putzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zimmer e<strong>in</strong> Glas Rotwe<strong>in</strong> gönnte und bei<br />

dieser Gelegenheit gerne e<strong>in</strong> Schwätzchen mit Madame hielt.<br />

Jetzt allerd<strong>in</strong>gs wollte sich Gabriella <strong><strong>de</strong>r</strong> Laune von Madame<br />

entziehen und kam auf die Terrasse.<br />

»Bei Euch ist sicher noch Platz für mich«, sagte sie und griff<br />

nach e<strong>in</strong>em Stuhl vom Nebentisch. Metall rieb über Ste<strong>in</strong>. Sie<br />

positionierte <strong>de</strong>n Stuhl so, dass sie die Bucht im Blick und das<br />

Hotel im Rücken hatte, und ließ sich seufzend nie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Niem<strong>als</strong><br />

hätte sie sich mit echten Hotelgästen an e<strong>in</strong>en Tisch gesetzt. Das<br />

hatte sie Luis gleich bei ihrem ersten Zusammentreffen erzählt.<br />

Erstens gehörte es sich nicht und zweitens hätten sie die Gelegenheit<br />

schamlos ausgenutzt, um mit ihr über <strong>de</strong>n Zustand <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Zimmer zu re<strong>de</strong>n. Jetzt hatte sie frei. Diese bei<strong>de</strong>n Männer hier<br />

sah sie <strong>als</strong> Ihresgleichen. Die Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>arbeiter waren ke<strong>in</strong>e Gäste,<br />

eher normale Mieter, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Zimmer sie nur alle zwei o<strong><strong>de</strong>r</strong> drei<br />

Tage re<strong>in</strong>igen musste.<br />

Gabriella wun<strong><strong>de</strong>r</strong>te sich darüber, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Neue seit gestern<br />

auf <strong>de</strong>m Notbett im Geräteschuppen schlief. Die Nächte waren<br />

noch recht kalt und überhaupt: In se<strong>in</strong>em Alter konnte er doch<br />

31


eigentlich nicht mehr auf <strong>de</strong>m Bau arbeiten. Als sie Madame<br />

vorh<strong>in</strong> darauf angesprochen hatte, erhielt sie nur heftiges Kopfschütteln<br />

<strong>als</strong> Antwort, was Gabriella wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um <strong>als</strong> Zustimmung<br />

<strong>in</strong>terpretierte: E<strong>in</strong>e Schan<strong>de</strong>, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Alte noch arbeiten musste,<br />

dazu noch körperlich schwer.<br />

Sie wusste, wovon sie sprach. In e<strong>in</strong>em Alter, <strong>in</strong> <strong>de</strong>m an<strong><strong>de</strong>r</strong>e von<br />

<strong>de</strong>n Früchten ihrer jahrzehntelangen Arbeit lebten, schuftete Gabriella<br />

immer noch tage<strong>in</strong> tagaus im Hotel. Nur von <strong>de</strong>m bisschen<br />

Rente konnte sie schließlich nicht leben. Die e<strong>in</strong>zigen kle<strong>in</strong>en<br />

Laster, die sie sich gönnte, waren das Rauchen und das Tr<strong>in</strong>ken.<br />

Sie machten <strong>de</strong>n Tag erträglicher und die Nacht ruhiger. Natürlich<br />

hatten E<strong>in</strong>- bis Vier-Sterne-Gäste schon so manches Mal<br />

versucht, ihr Zimmer rauchfrei zu halten, und Gabriella zur Re<strong>de</strong><br />

stellen wollen. Doch <strong>in</strong> diesen Fällen sprach sie ausschließlich<br />

Mallorquí, <strong>de</strong>n <strong>in</strong>selweiten Dialekt <strong>de</strong>s Katalanischen, und lächelte<br />

<strong>de</strong>n Beschwer<strong>de</strong>führer mit e<strong>in</strong>er Herzlichkeit an, die<br />

ke<strong>in</strong>en Zweifel darüber ließ, auf wessen Seite die moralische<br />

Verfehlung lag. Der Gast blickte beschämt zu Bo<strong>de</strong>n und beließ<br />

es bei e<strong>in</strong>em kräftigen Durchlüften se<strong>in</strong>es Zimmers. Dass Gabriella<br />

süchtig nach Rotwe<strong>in</strong> war, bemerkten die meisten Gäste<br />

dagegen nicht, da <strong><strong>de</strong>r</strong> Geruch von Rauch und Putzmitteln alles<br />

über<strong>de</strong>ckte. Was sie allerd<strong>in</strong>gs mit <strong>de</strong>n Putzmitteln machte, war<br />

selbst bei genauem H<strong>in</strong>sehen nicht zu erkennen. So sehr man<br />

sich auch bemühte – selten war e<strong>in</strong> sauberes Bad o<strong><strong>de</strong>r</strong> gar e<strong>in</strong><br />

unter <strong>de</strong>m Bett geputzter Bo<strong>de</strong>n vorzuf<strong>in</strong><strong>de</strong>n. Wenn Gäste ihren<br />

leeren Koffer zu Beg<strong>in</strong>n <strong>de</strong>s Urlaubs an e<strong>in</strong>en bestimmten Platz<br />

stellten und diesen fortan nicht mehr nutzten, so fan<strong>de</strong>n sie <strong>in</strong><br />

jenem Bereich am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Urlaubs Unmengen an Staub und<br />

Haaren. Gabriella hatte fe<strong>in</strong>säuberlich um <strong>de</strong>n Koffer herum gewischt.<br />

Schließlich hatte sie mehr <strong>als</strong> e<strong>in</strong> Zimmer zu re<strong>in</strong>igen<br />

und konnte sich nicht mit solchen Kle<strong>in</strong>igkeiten aufhalten.<br />

Ihre Nichte Magda half ihr ab und zu, wenn das Hotel so gut<br />

belegt war, dass Gabriella es wirklich nicht mehr alle<strong>in</strong>e schaffen<br />

konnte. Aber ob Nichte o<strong><strong>de</strong>r</strong> Tante, das Ergebnis war nahezu<br />

i<strong>de</strong>ntisch. Darauf legte Gabriella großen Wert, und Magda bereitete<br />

es ke<strong>in</strong>e Mühe. Lediglich e<strong>in</strong>mal glaubte die Tante, ihre<br />

32


Nichte bei e<strong>in</strong>em Faux-pas überrascht zu haben. Magda mühte<br />

sich unter e<strong>in</strong>em Bett ab, sie war zur Hälfte darunter verschwun<strong>de</strong>n,<br />

so dass ihr H<strong>in</strong>terteil zwischen Bettkante und Bo<strong>de</strong>n e<strong>in</strong>geklemmt<br />

war. Gabriella entwich e<strong>in</strong> ungläubiges, fast nur<br />

gehauchtes „Magda?“ und die Nichte robbte wie<strong><strong>de</strong>r</strong> unter <strong>de</strong>m<br />

Bett hervor. Obwohl sie nun ganz und gar verstaubt war, hielt<br />

sie voller Freu<strong>de</strong> gr<strong>in</strong>send e<strong>in</strong>en Ohrr<strong>in</strong>g empor. Es war selbstverständlich<br />

ihr eigener, für Gäste-Geschmei<strong>de</strong> bückte man sich<br />

nicht e<strong>in</strong>mal. Fand man e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en R<strong>in</strong>g o<strong><strong>de</strong>r</strong> e<strong>in</strong>e Kette auf<br />

<strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, so schob man das Fundstück mit <strong>de</strong>m Besen <strong>in</strong> die<br />

Mitte <strong>de</strong>s Zimmers, <strong>de</strong>nn dort wür<strong>de</strong> es die Besitzer<strong>in</strong> schon f<strong>in</strong><strong>de</strong>n.<br />

Ihren eigenen Ohrclip hatte Magda mit Schwung unter das<br />

Bett beför<strong><strong>de</strong>r</strong>t, <strong>als</strong> sie sich das Staubtuch lässig über die Schulter<br />

geworfen hatte. So hatte sie sich ausnahmsweise <strong>in</strong> unbekanntes<br />

Terra<strong>in</strong> vorwagen müssen. Erleichtert hatte Tante Gabriella anschließend<br />

<strong>de</strong>n Staub von Magdas Kittel geklopft und scherzend<br />

verließen bei<strong>de</strong> das Zimmer – ohne <strong>de</strong>n Staub wie<strong><strong>de</strong>r</strong> unter das<br />

Bett zu pusten.<br />

»Wir freuen uns, wenn Du bei uns sitzt«, sagte Luis zu Gabriella.<br />

Mit ihr sprach er selbstverständlich Spanisch. Er war es<br />

gewohnt, zwischen verschie<strong>de</strong>nen Sprachen zu wechseln und<br />

es bereitete ihm ke<strong>in</strong>e große Mühe. Er war darauf bedacht, alle<br />

Beteiligten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Unterhaltung mit e<strong>in</strong> zu beziehen. In diesem<br />

Fall erübrigte sich jedoch e<strong>in</strong>e Übersetzung für se<strong>in</strong>en Tischnachbarn,<br />

da dieser bekun<strong>de</strong>t hatte, Spanisch wenigstens zu verstehen.<br />

Für ihn sprach er es jedoch etwas langsamer.<br />

»Warum ist Madame so ungehalten? Bloß wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Piraten</strong>?«<br />

Luis zeigte mit <strong>de</strong>m Kopf auf die vier jungen Männer, die<br />

am Gelän<strong><strong>de</strong>r</strong> stan<strong>de</strong>n.<br />

»Es ist me<strong>in</strong>e Schuld, natürlich, wie immer. Sie war h<strong>in</strong>ten <strong>in</strong><br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Küche, <strong>als</strong> die da re<strong>in</strong>gekommen s<strong>in</strong>d. Normalerweise heißt<br />

es: Verkaufen, verkaufen, verkaufen. Egal ob Hotelgast o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Frem<strong><strong>de</strong>r</strong>. Also habe ich ihnen Bier verkauft. Mit Preisaufschlag.<br />

Wie immer. Lei<strong><strong>de</strong>r</strong> waren sie noch nicht zur Tür h<strong>in</strong>aus, <strong>als</strong> Ma-<br />

33


dame aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Küche kam. Sie keifte: ‚Wie kannst Du <strong>de</strong>nen was<br />

verkaufen?’ und stürmte h<strong>in</strong>ter ihnen her. Man kann es ihr nicht<br />

recht machen. Nie, nie, nie!« Gabriella verdrehte die Augen und<br />

nahm e<strong>in</strong>en kräftigen Schluck aus ihrem Glas.<br />

»So ist sie nun mal«, murmelte Eduard auf Französisch.<br />

»Wenn sie wütend ist, hält man sich am besten fern von ihr. Ke<strong>in</strong><br />

vernünftiger Mensch schüttelt e<strong>in</strong>e Champagnerflasche, bis <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Korken fliegt.«<br />

Gabriella lächelte freundlich. Sie stimmte <strong>in</strong> das rege Schweigen<br />

ihrer Tischherren e<strong>in</strong> und genoss es offensichtlich, unbehelligt<br />

zu rauchen und zu tr<strong>in</strong>ken.<br />

Nach e<strong>in</strong>er Weile erschien das <strong>de</strong>utsche Paar <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Tür <strong>de</strong>s<br />

Hotels. Luis sah aufmerksam h<strong>in</strong>über, sie hatten sich offensichtlich<br />

kurz frisch gemacht. Die Frau trug e<strong>in</strong> sommerliches,<br />

weißes Kleid mit zart rosafarbenen Blüten. Über ihre Schultern<br />

hatte sie e<strong>in</strong>e weiße, leichte Strickjacke gelegt. Ihr Mann hatte<br />

se<strong>in</strong> rosafarbenes Hemd mit dunkelroten Bermudas komb<strong>in</strong>iert,<br />

die <strong>de</strong>n Blick auf se<strong>in</strong>e dicht behaarten Be<strong>in</strong>e freigaben. Se<strong>in</strong>e<br />

Füße steckten <strong>in</strong> weißen Bootsschuhen. Reflexartig hob Luis erneut<br />

die Hand zu e<strong>in</strong>em Gruß, ließ sie aber dann wie<strong><strong>de</strong>r</strong> s<strong>in</strong>ken.<br />

Er wun<strong><strong>de</strong>r</strong>te sich darüber, dass die Frau die vier jungen Männer<br />

auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Terrasse mit großen Augen anstarrte. E<strong>in</strong>er von ihnen,<br />

<strong>de</strong>ssen Umhang von e<strong>in</strong>er orangefarbenen Bauchb<strong>in</strong><strong>de</strong> zusammengehalten<br />

wur<strong>de</strong>, nickte ihr fast unmerklich zu. Sie kannten<br />

sich. Ihr Begleiter bekam davon nichts mit. Er blickte nach rechts<br />

und sprach mit ihr, ohne sich ihr zuzuwen<strong>de</strong>n. Sie antwortete<br />

etwas, ebenfalls, ohne <strong>de</strong>n Kopf <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Richtung zu bewegen.<br />

Zwischen ihr und <strong>de</strong>m jungen <strong>Piraten</strong> lagen m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens 20 Jahre<br />

und e<strong>in</strong>e völlig an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Kultur. Vielleicht war es das, was sie zue<strong>in</strong>an<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

zog. Luis’ Theorie scheiterte am be<strong>in</strong>ahe angstvollen<br />

Blick <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau zu <strong>de</strong>n Mauren. Was g<strong>in</strong>g hier vor? Er wür<strong>de</strong> es<br />

jetzt nicht herausf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn das Paar machte sich auf <strong>de</strong>n Weg<br />

zum Strand.<br />

Die vier Männer taten es ihm gleich. Der Pirat, <strong><strong>de</strong>r</strong> sie sche<strong>in</strong>bar<br />

gegrüßt hatte, blieb kurz stehen und zog e<strong>in</strong> Handy unter<br />

se<strong>in</strong>em Umhang hervor. Nach e<strong>in</strong>em kurzen Telefonat folgte er<br />

34


se<strong>in</strong>en Freun<strong>de</strong>n zum Strand. Dort befand sich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Strandbar<br />

e<strong>in</strong>es <strong><strong>de</strong>r</strong> wenigen Lokale, die geöffnet hatten. Die meisten an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

Restaurants und Cafés legten ke<strong>in</strong>en Wert auf <strong>de</strong>n Besuch<br />

marodieren<strong><strong>de</strong>r</strong> Mauren- und Christenban<strong>de</strong>n.<br />

Luis lies se<strong>in</strong>en Blick über das Treiben <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Bucht streifen<br />

und schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. »Wie lange sich Geschichte doch hält,<br />

wenn man die Ereignisse feiert«, sagte er nach<strong>de</strong>nklich auf Spanisch.<br />

»Und wie sich unser Bild von <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte unterschei<strong>de</strong>t<br />

von <strong>de</strong>m, was an<strong><strong>de</strong>r</strong>e dar<strong>in</strong> sehen. Das ist alles schon so ewig<br />

her und eigentlich völlig be<strong>de</strong>utungslos. Im achten Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

hat irgen<strong>de</strong><strong>in</strong> arabischer Feldherr begonnen, die iberische Halb<strong>in</strong>sel<br />

zu erobern. Die Prov<strong>in</strong>z nannten die neuen Herrscher Al-<br />

Andalus, das Land <strong><strong>de</strong>r</strong> Vandalen. Erst knapp 800 Jahre später<br />

gelang <strong>de</strong>n katholischen Königen die vollständige Reconquista.<br />

Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>eroberung. Nach so langer Zeit. Manche Moslems sehen<br />

Spanien bis jetzt <strong>als</strong> ihr Land, das man ihnen wi<strong><strong>de</strong>r</strong>rechtlich genommen<br />

hat.«<br />

»Aber sie hatten es uns doch vorher abgenommen«, sagte Gabriella,<br />

<strong>als</strong> habe sie es selbst miterlebt.<br />

»Alles e<strong>in</strong>e Frage <strong><strong>de</strong>r</strong> Perspektive. B<strong>in</strong> La<strong>de</strong>n hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Vi<strong>de</strong>o-Botschaft zu <strong>de</strong>n Anschlägen vom 11. September davon<br />

gesprochen. Der Stachel sitzt tief. Die betreffen<strong>de</strong> Passage wur<strong>de</strong><br />

<strong>in</strong> vielen Übersetzungen allerd<strong>in</strong>gs gar nicht erwähnt.«<br />

»New York, Spanien – Zusammenhang?«, fragte Eduard <strong>in</strong><br />

holpern<strong>de</strong>m Spanisch.<br />

»Der Zusammenhang? Den kennen wir seit <strong>de</strong>n Anschlägen<br />

von Madrid.«<br />

»Und? Was hat dieser Schwachkopf <strong>de</strong>nn nun gesagt?«, fragte<br />

Gabriella.<br />

»Er sagte, die ganze Welt solle wissen, dass er und se<strong>in</strong>e Leute<br />

es nicht akzeptierten wür<strong>de</strong>n, dass sich die Tragödie von Andalusien<br />

<strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a wie<strong><strong>de</strong>r</strong>hole.«<br />

Eduard fror. Der W<strong>in</strong>d war recht kühl gewor<strong>de</strong>n. »Du willst<br />

Spanien mit Paläst<strong>in</strong>a vergleichen?« Er kniff die Augen zusammen,<br />

sodass nur noch schmale Schlitze unter <strong>de</strong>n Schlupfli<strong><strong>de</strong>r</strong>n<br />

zu sehen waren.<br />

35


»Nicht ich! Für Leute wie b<strong>in</strong> La<strong>de</strong>n und die Attentäter liegt<br />

nichts <strong>als</strong> Zeit zwischen Spanien und Paläst<strong>in</strong>a. Die im 11. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t<br />

begonnene, massive Verdrängung <strong><strong>de</strong>r</strong> Muslime aus Al-<br />

Andalus. Sie dauerte Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te und ist für sie die Blaupause<br />

für das Geschehen <strong>in</strong> Paläst<strong>in</strong>a.«<br />

»Was Du wie<strong><strong>de</strong>r</strong> für e<strong>in</strong>en Uns<strong>in</strong>n weißt! Am En<strong>de</strong> wollen die<br />

Italiener Mallorca zurück haben, weil es mal römische Prov<strong>in</strong>z<br />

war. Und davor war es e<strong>in</strong>e <strong>Piraten</strong><strong>in</strong>sel. Wie jetzt«, sagte Gabriella<br />

und lachte kurz auf. »Die Italiener haben die älteren Rechte.<br />

Sie haben <strong>de</strong>n Hafen hier angelegt und die ersten We<strong>in</strong>berge, für<br />

mich persönlich das Wichtigste. Aber ich kann Berlusconi nicht<br />

ausstehen. Er versteht nichts von <strong><strong>de</strong>r</strong> Wirtschaft. Und er ist auch<br />

nur e<strong>in</strong> Macho wie all die Moros«, fügte sie h<strong>in</strong>zu, wobei sie<br />

ganz selbstverständlich <strong>de</strong>n abfälligen Ausdruck für Mauren benutzte.<br />

»Die Welt ist verrückt. Und überhaupt, das Spektakel da<br />

unten hat damit nichts zu tun. Es spielt im Mai 1561 und zeigt,<br />

wie die mutigen Sollerics e<strong>in</strong> ganzes <strong>Piraten</strong>heer verjagt haben.«<br />

»Wenn sie dam<strong>als</strong> schon alle so waren wie Du, musste man<br />

sich um die Insel ke<strong>in</strong>e Sorgen machen«, sagte Luis lachend.<br />

Se<strong>in</strong> Blick g<strong>in</strong>g zum Himmel, an <strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Rand e<strong>in</strong>er hellgrauen<br />

Wolken<strong>de</strong>cke über <strong>de</strong>n Bergen ent<strong>de</strong>ckte. Sie kroch <strong>in</strong><br />

Richtung Hafen. Bis jetzt war <strong><strong>de</strong>r</strong> Himmel strahlend blau gewesen.<br />

Wäre W<strong>in</strong>ter, hielte er die Wolken für schneebela<strong>de</strong>n.<br />

»Für e<strong>in</strong>en Bauarbeiter weißt Du viel«, sagte Eduard.<br />

»Das ist ke<strong>in</strong>e Frage <strong>de</strong>s Berufs«, entgegnete Luis, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich<br />

daran gewöhnt hatte, dass man über se<strong>in</strong> Wissen staunte. Es ärgerte<br />

ihn immer e<strong>in</strong> wenig.<br />

»De<strong>in</strong> neuer Kollege kennt Dich noch nicht, wie?«, fragte Gabriella,<br />

die zwar die französische Frage nicht verstan<strong>de</strong>n hatte,<br />

aber ahnte, worum es g<strong>in</strong>g.<br />

»Kollege? Monsieur Ziguré ist ke<strong>in</strong> Kollege. Hat Madame ihn<br />

Dir nicht vorgestellt?«<br />

»Me<strong>in</strong>e Tochter re<strong>de</strong>t nicht gerne über Familie«, sagte Eduard.<br />

»Sie hat ihren eigenen Kopf. Hatte sie immer.« Er zuckte mit<br />

<strong>de</strong>n Achseln. »Gestatten, Eduard Zigure, Vater von Madame.«,<br />

sagte er auf Spanisch und verbeugte sich leicht.<br />

36


»Erfeut, Sie kennenzulernen, sehr erfreut. Ich b<strong>in</strong> immer davon<br />

ausgegangen, dass Madame überhaupt ke<strong>in</strong>e Familie hat. Natürlich<br />

ist das unmöglich. O<strong><strong>de</strong>r</strong> dass irgen<strong>de</strong><strong>in</strong> schreckliches<br />

Unglück alle ihre Verwandten dah<strong>in</strong>gerafft hatte. So etwas<br />

gibt es. E<strong>in</strong>e Feuersbrunst. E<strong>in</strong>e schlimme Krankheit. Etwas<br />

unaussprechlich Fürchterliches. Ke<strong>in</strong> Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>, dass sie Dich<br />

im Schuppen unterbr<strong>in</strong>gt. Immerh<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>st Du für sie nicht<br />

wirklich zu existieren.« Gabriella sah Eduard staunend an und<br />

fuhr dann fort: »Mach Dir nichts draus! Madame ist verrückt.<br />

Trotz<strong>de</strong>m mag ich sie. Woan<strong><strong>de</strong>r</strong>s hätte ich ke<strong>in</strong>e solche Arbeit<br />

bekommen. Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e überzeugte Zwei-Sterne-Putzfrau. Zu<br />

mehr tauge ich nicht.«<br />

Die kle<strong>in</strong>e Gruppe hüllte sich erneut <strong>in</strong> Schweigen.<br />

Eduard lächelte zufrie<strong>de</strong>n. Er fühlte endlich e<strong>in</strong>en warmen<br />

Empfang o<strong><strong>de</strong>r</strong> wenigstens e<strong>in</strong>e Verbrü<strong><strong>de</strong>r</strong>ung Gleichges<strong>in</strong>nter,<br />

die sich dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ig waren, dass sie die Er<strong>de</strong> irgendwann so verlassen<br />

wür<strong>de</strong>n, wie sie gekommen waren, moi tout seul, o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

um es mit <strong><strong>de</strong>r</strong> unbeholfenen E<strong>in</strong><strong>de</strong>utschung zu sagen mutterseelenalle<strong>in</strong>,<br />

die letztmögliche Steigerung aller E<strong>in</strong>samkeit, wie sie<br />

nur <strong><strong>de</strong>r</strong> Tod mit sich br<strong>in</strong>gt. Dieses und viele an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Worte hatte<br />

er <strong>in</strong> <strong>de</strong>utscher Kriegsgefangenschaft von e<strong>in</strong>em Wachsoldaten<br />

gelernt. Er hatte seither nicht mehr so viele Deutsche auf e<strong>in</strong>em<br />

Fleck gesehen wie <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten zwei Tagen auf dieser Insel.<br />

Vielleicht er<strong>in</strong>nerte er sich <strong>de</strong>shalb gera<strong>de</strong> jetzt an früher.<br />

Doch was ihn viel mehr beschäftigte, war die Gegenwart. Er<br />

wollte das Unmögliche: e<strong>in</strong> gutes Verhältnis zu Eleonore o<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

wenigstens e<strong>in</strong>es, das ihm irgendwann erlauben wür<strong>de</strong>, se<strong>in</strong>e<br />

Enkel<strong>in</strong> kennenzulernen. Es gehörte zu <strong>de</strong>n Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heiten <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Beziehung zu se<strong>in</strong>er Tochter, dass Eduard se<strong>in</strong>e Enkel<strong>in</strong> noch<br />

niem<strong>als</strong> gesehen hatte. Er wusste, dass es sie gab. Das kalte Herz<br />

von Madame erglühte, was ihn betraf, nur vor Wut und immer<br />

dann, wenn es darum g<strong>in</strong>g, ihn fernzuhalten. Unzählige Male<br />

hatte er sich gefragt, woran es lag, ob er Schuld an ihrem Ver-<br />

37


halten haben könnte und was er vielleicht f<strong>als</strong>ch gemacht hatte.<br />

Diese Frage hatte er nie beantworten können.<br />

Er leerte se<strong>in</strong>e Flasche und hielt sie fragend hoch. Luis schüttelte<br />

<strong>de</strong>n Kopf.<br />

38


IX Intermezzo<br />

Sonntag, 29. Januar 2012<br />

Sie legte die letzte Seite zu <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en. Ihre Mundw<strong>in</strong>kel wiesen<br />

nach unten, ihre Augenbrauen nach oben, e<strong>in</strong>e Grimasse, die<br />

Anerkennung zeigte. Natürlich hatte sie an ihn geglaubt, sie hatte<br />

ihn unterstützt, ihn ermutigt, weiter zu machen, wenn er zweifelte,<br />

sich gefreut, wenn er e<strong>in</strong>en guten Tag hatte und mit ihm<br />

gelitten, <strong>als</strong> es nicht mehr weiter gehen wollte. Doch sicher war<br />

sie niem<strong>als</strong> gewesen, schließlich liebte sie ihn und dieses Gefühl<br />

schloss e<strong>in</strong>e objektive Betrachtung <strong>de</strong>ssen, was er tat, aus.<br />

Was sie nun gelesen hatte, rief <strong>in</strong> ihr wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um e<strong>in</strong> starkes Gefühl<br />

hervor. Auch das mochte sie nicht. Sie wollte nicht fühlen, dass<br />

es gut war. Sie wollte es viel lieber objektiv beurteilen, wertfrei.<br />

Während <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamten Lektüre hatte sich Reg<strong>in</strong>a immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

an ihre Rolle <strong>als</strong> neutrale Leser<strong>in</strong> er<strong>in</strong>nert, war jedoch schon<br />

beim nächsten Absatz wie<strong><strong>de</strong>r</strong> von <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte mitgerissen<br />

wor<strong>de</strong>n. Doch lag es daran, dass es gut war o<strong><strong>de</strong>r</strong> daran, dass sie<br />

<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> es geschrieben hatte, fast krankhaft liebte?<br />

Reg<strong>in</strong>a nahm e<strong>in</strong>en weiteren Schluck Wasser. Auch darauf hatte<br />

sie Wert gelegt, ihren Verstand nicht mit We<strong>in</strong> zu vernebeln,<br />

um am En<strong>de</strong> nicht selig säuselnd und schwankend vor ihm zu<br />

stehen und ihr Urteil zu lallen auf e<strong>in</strong>er Welle guten Merlots,<br />

aber schlechten Geschmacks. Nüchtern betrachtet, dachte sie,<br />

nüchtern betrachtet ist es e<strong>in</strong> hervorragen<strong>de</strong>s Werk. Trotz <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

erschreckend großen Zahl an Rechtschreibfehlern. Die Übungen,<br />

die er mit se<strong>in</strong>em Lehrer gemacht hatte, waren nicht sehr<br />

erfolgreich gewesen.<br />

Die Narbe über ihrem rechten Auge begann zu jucken. Seit<br />

e<strong>in</strong>igen Monaten war sie wetterfühlig gewor<strong>de</strong>n. Den ganzen<br />

Vormittag hatte es immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> geregnet, doch jetzt war die<br />

Bucht <strong>in</strong> e<strong>in</strong> sanftes Licht getaucht. Es war schon kurz nach fünf<br />

und die Sonne wür<strong>de</strong> bald untergehen. Wahrsche<strong>in</strong>lich wartete<br />

er schon ungeduldig auf ihr Urteil. Sie war die erste Leser<strong>in</strong>.<br />

39


Sie war überhaupt die e<strong>in</strong>zige, die davon wusste, die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en<br />

ahnten es nur, da er sich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n letzten Monaten immer weniger<br />

hatte blicken lassen. Auf <strong>de</strong>n Umbau <strong>de</strong>s Hauses konnte er es<br />

<strong>in</strong>zwischen nicht mehr schieben. Damit waren sie nun schon seit<br />

langem fertig.<br />

Reg<strong>in</strong>a räumte die 300 eng bedruckten Seiten zu e<strong>in</strong>em or<strong>de</strong>ntlichen<br />

Stapel zusammen und betrat die kle<strong>in</strong>e Küche, <strong>in</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

ihr Mann zusammengesunken am Tisch saß.<br />

»Und?« fragte er, <strong>de</strong>n Kopf leicht zwischen die breiten Schultern<br />

gezogen.<br />

»Ich <strong>de</strong>nke, es ist gut.«<br />

»Gut?«<br />

»Sehr gut. Also, soweit ich so etwas beurteilen kann.«<br />

»Du kannst ehrlich zu mir se<strong>in</strong>. Du musst ehrlich se<strong>in</strong>.«<br />

»Aber das b<strong>in</strong> ich doch. Es ist gut. Sehr gut, wirklich.« Reg<strong>in</strong>as<br />

Ton wur<strong>de</strong> von e<strong>in</strong>em leisen Flehen untermalt.<br />

»Das sagst Du nur so.«<br />

»Ne<strong>in</strong>. Das me<strong>in</strong>e ich so. Also, abgesehen von <strong>de</strong>n Fehlern.<br />

Also von <strong>de</strong>nen, die offensichtlich waren. Spanisch ist ja nicht<br />

me<strong>in</strong>e Muttersprache. Es ist gut.«<br />

Ihr Mann seufzte nur, ließ aber durch e<strong>in</strong> Lächeln se<strong>in</strong>e Bereitschaft<br />

erkennen, ihr zu glauben. Überzeugt war er aber offensichtlich<br />

noch nicht.<br />

»Warum gibst Du es mir zu lesen, wenn Du me<strong>in</strong>em Urteil<br />

h<strong>in</strong>terher nicht traust?«, fragte Reg<strong>in</strong>a.<br />

»Aber selbstverständlich traue ich De<strong>in</strong>em Urteil. Ich wollte<br />

doch nur wissen, ob es wirklich De<strong>in</strong> Urteil ist. Also ob Du es<br />

wirklich wirklich gut f<strong>in</strong><strong>de</strong>st«, sagte er.<br />

»Wirklich wirklich sehr sehr gut. Du treibst mich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Wahns<strong>in</strong>n.«<br />

»Also hat es Dich verwirrt?«<br />

»Nicht das Buch. Du! Du treibst mich <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Wahns<strong>in</strong>n. Du<br />

musst die Fehler korrigieren lassen und dann schickst Du es an<br />

irgen<strong>de</strong><strong>in</strong>en Verlag – und dann ist es gut.«<br />

»Und wenn es ke<strong>in</strong>er will?«<br />

»Das ist nicht anzunehmen.«<br />

40


»Woher willst Du das wissen?«<br />

»Ich habe es gelesen«, sagte Reg<strong>in</strong>a und betonte dabei je<strong>de</strong><br />

e<strong>in</strong>zelne Silbe.<br />

»Aber Du bist ke<strong>in</strong> Profi«, gab ihr Mann zu be<strong>de</strong>nken und sie<br />

me<strong>in</strong>te wie<strong><strong>de</strong>r</strong> diesen jammern<strong>de</strong>n Unterton <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Stimme zu<br />

hören, <strong>de</strong>n er bei diesem Thema immer anschlug – und für <strong>de</strong>n<br />

sie ihn gerne schlagen wür<strong>de</strong>. Dann wenigstens hätte er Grund<br />

zu jammern.<br />

Sie atmete tief durch, sprach dann ganz ruhig und wechselte<br />

vom Spanischen <strong>in</strong>s Deutsche, wie sie es immer tat, wenn sie<br />

ihrer Stimme Strenge geben wollte.<br />

»Me<strong>in</strong> Lieber, Du hast mich gebeten, es zu lesen. Ich habe<br />

dieser Bitte mit großer Freu<strong>de</strong> entsprochen und kann Dir nun<br />

mitteilen, dass mir De<strong>in</strong> Werk vollumfänglich gefällt.«<br />

»Was ist vollumfänglich? Juristensprache?«, fragte er nun<br />

ebenfalls auf Deutsch und lachte.<br />

»Ja, verdammt noch mal!« Ihre kühle Haltung war dah<strong>in</strong>.<br />

Sie nahm ihn <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Schwitzkasten – was nur möglich war, weil<br />

er saß – und klopfte mit <strong>de</strong>n F<strong>in</strong>gerknöcheln auf se<strong>in</strong>en kahlen<br />

Schä<strong>de</strong>l. »Ich könnte es Dir auch e<strong>in</strong>prügeln. Es ist gut, gut,<br />

gut.«<br />

»Warum regst Du Dich dann so auf?«<br />

41

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!