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Manuskript - Hessischer Rundfunk

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<strong>Hessischer</strong> <strong>Rundfunk</strong><br />

hr2-kultur<br />

Redaktion: Dr. Arne Kapitza<br />

Wissenswert<br />

Jiddisch heute (1)<br />

Berlin<br />

Von Katharina Teutsch<br />

Mittwoch, 24. Juni 2009, 08.30 Uhr, hr2-kultur<br />

Regie: Marlene Breuer<br />

Sprecherin: Ursula Illert<br />

Zitator: Jochen Nix<br />

09-070<br />

COPYRIGHT:<br />

Dieses <strong>Manuskript</strong> ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen.<br />

Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung,<br />

Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit<br />

Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu <strong>Rundfunk</strong>zwecken bedarf der Genehmigung<br />

des Hessischen <strong>Rundfunk</strong>s.


Seite 2<br />

Musik 1_JG_Chor_1 [Anfang, ca. 10 sec., bleibt unter Text stehen]<br />

Sprecherin: Chorprobe. Ein Mal pro Woche treffen sich dreißig begeisterte<br />

Sängerinnen und Sänger in der jüdischen Volkshochschule Berlin. Ihr Repertoire:<br />

jiddische Volkslieder. Ihr Chorleiter: Jossif Gofenberg aus Czernowitz.<br />

[Musik 1 Dirigenten-Zwischenruf: „Eins, zwei, drei, Pause!“ … „Un daine Fingerle….“, on,<br />

Don, Don“, endet mit Bass-Ton und Lachen]<br />

Sprecherin: Josif Gofenberg ist 1990 nach Deutschland gekommen. Er hat sich mit<br />

seinem musikalischen Engagement inzwischen im Kulturleben der Stadt<br />

unentbehrlich gemacht. Neben dem jiddischen Chor leitet er in Berlin eine<br />

Klezmerband, ein jiddisches Puppentheater und ein Zentrum für jüdische Musik.<br />

Klezmer und Jiddisch: für Jossif Gofenberg zwei Seiten der gleichen Medaille!<br />

O-Ton 1_JG_Klezmer<br />

Die Klezmer? Woher kommt die Klezmer überhaupt? Aus Osteuropa. Das sind diese<br />

Musiker, die spielten in diesen kleinen jüdischen Städtchen, zu Privatfeiern meistens<br />

oder auch zu Chanukka und Purimfest usw. Die Klezmermusik kommt nicht aus<br />

Israel und nicht aus Amerika. Sie kommt aus dieser Gegend. Das, was man später mit<br />

dieser Musik nun hat gemacht, oder wie man hat sie bearbeitet, das ist eine andere<br />

Sache. In meiner Gruppe spielt nur so osteuropäische, jüdische Volksmusik.<br />

Sprecherin: Den Klezmer-Chor hat Jossif Gofenberg im Jahr 2000 gegründet – knapp<br />

zehn Jahre nach seiner Emigration nach Deutschland. Viele Chormitglieder sind von<br />

Anfang an dabei, doch fast niemand hier hat jüdische Wurzeln:<br />

O-Ton 3_JG_Collage [kürzbar]<br />

FRAU: Ich hab in einem anderen Chor gesungen, der war mir zu anspruchsvoll, weil<br />

ich leider nicht Oratorien vom Blatt singen kann. Das wurde da verlangt, da war ich<br />

ein bisschen frustriert. Da sagte eine Freundin, es gibt einen Volkshochschulkurs in<br />

der Fasanenstraße, die singen jiddische Lieder, komm doch mal mit. MANN: Es war<br />

einmal ein Gitarrenkurs in der jüdischen Gemeinde, da habe ich teilgenommen. Dann<br />

ging der zu Ende, dann hat man uns gesagt, lernt doch israelische Lieder singen.


Seite 3<br />

Dann sangen wir israelische Lieder zu einem Akkordeonspieler. Dann ging auch<br />

dieser Lehrer weg und dann kam Herr Gofenberg mit jiddischen Liedern. Und da sind<br />

wir alle geblieben. FRAU: Man darf nicht verwechseln: jüdische Musik und jiddische<br />

Musik. Also jüdische Musik wären hebräische Lieder, aber dieses Jiddische ist das<br />

alte Mittelhochdeutsch, das die Ostjuden gesungen haben, versetzt mit polnischen<br />

und russischen Wörtern, und das ist eine aussterbende Sprache…<br />

Sprecherin: Jiddisch. Das war Anfang des 20. Jahrhunderts die „Mameloschn“<br />

[Mamme'loschn (sch=stl.)], die Muttersprache von zwei Dritteln der jüdischen<br />

Weltbevölkerung. Im Jahre 1933 gab es in Europa über 10 Millionen Sprecher, heute<br />

weltweit noch etwa 2 Millionen. Im heutigen Deutsch gibt es eine ganze Reihe<br />

jiddischer Lehnwörter: „Ganove“, „Mischpoke“, die „Maloche“ oder das „Mauscheln“.<br />

Der „gute Rutsch“, den man sich vor dem Beginn des neuen Jahres wünscht, hat<br />

nichts mit dem Schliddern auf der Zeitbahn zu tun, sondern mit dem jiddischen „Gut<br />

Rosh!“: „Guten Anfang!“ Arnold Groh von der Technischen Universität Berlin hat ein<br />

Jiddisch-Wörterbuch verfasst, und er leitet seit den 90er Jahren einen Jiddisch-<br />

Konversationskreis; für Groh schwingt im Jiddischen Vertrautes, aber auch<br />

Geheimnisvolles mit:<br />

O-Ton 4_AG_Nibelungen<br />

Die Herkunft des Jiddischen kann man nur rekonstruieren, weil man letztlich nur<br />

einige wenige Textzeugnisse aus der Zeit hat. Es wird gängigerweise so rekonstruiert,<br />

dass im Hochmittelalter das Jiddische sich aus anderen mittelhochdeutschen<br />

Dialekten herauskristallisiert habe. Als Beispiel für einen Text aus dieser Zeit kann<br />

man den Dukus Horent nennen, der mit hebräischen Buchstaben geschrieben ist,<br />

aber dem Umkreis des Nibelungenliedes zuzurechnen ist.<br />

Sprecherin: Jüdische Deutsche schrieben in hebräischen Buchstaben und nahmen<br />

viele Ausdrücke aus dem biblischen Hebräisch in ihren Wortschatz auf. Vor den<br />

großen mittelalterlichen Pestepedemien, die man den Juden zur Last legte, flohen<br />

viele Familien Richtung Osten. Dort vermischte sich ihre als „Judendeutsch“<br />

bekannte Sprache schließlich mit polnischen, russischen oder rumänischen<br />

Elementen. So entstanden unter den Aschkensasim, den Juden deutscher Herkunft,<br />

verschiedene Dialektvarianten. Durch Rückwanderungen osteuropäischer Juden


Seite 4<br />

gelangte das Jiddische auch wieder nach Deutschland zurück, zum Beispiel in die<br />

Mitte Berlins:<br />

O-Ton 5_AG_Scheunenviertel<br />

Es gab im Scheunenviertel ein – wenn man das so behaupten darf – blühendes Leben,<br />

wo Jiddisch sicherlich dominierte, das waren dann aber meistens arme Zuwanderer<br />

aus Osteuropa. Es gab im Scheunenviertel sehr viele kleine Gemeinden, die alle von<br />

ihrem Rabbiner betreut wurden, der auch aus Osteuropa dann und wann kam. Und<br />

das hat sich dann einfach so ergeben, dass das Jiddische dann die Lingua Franca war,<br />

die Gruppe auf der man sich verständigt hat.<br />

Sprecherin: Über Jahrhunderte hinweg war Jiddisch die Sprache der Diaspora-<br />

Juden; sie bot den kleinen Gemeinden in der Fremde Identität und Heimat. So wurde<br />

Jiddisch – und damit die jiddische Musik, das jiddische Theater und das jiddische<br />

Schrifttum – zu einem lebendigen Teil der europäischen Kultur.<br />

Atmo 1_CM_Unterricht<br />

Unterricht (Vorschlag: bis „unter sein Mutter“)<br />

Sprecherin: Nicht nur jüngere Autoren wie der Amerikaner Jonathan Safran Foer<br />

[`jonnethn `säfren fóhr] zeigen in letzter Zeit Interesse am Mythos des<br />

osteuropäischen Schtetls. Die jiddische Kultur ist längst in den Universitäten<br />

angekommen. In Deutschland gibt es Lehrstühle für Jiddistik in Düsseldorf und<br />

Trier, wo man an einem modernen deutsch-jiddischen Wörterbuch arbeitet. Lia<br />

Martyn unterrichtet am Institut für jüdische Studien der Universität Potsdam.<br />

O-Ton 6_CM_Hebraikum<br />

Das ist jetzt unser erster Bibeltext, weil wir versucht haben eine Brücke zu bauen<br />

zwischen dem Hebräischunterricht und dem Jiddischunterricht. Weil die<br />

Studierenden vorher das Hebraikum gemacht haben. Und jetzt können sie beides<br />

verbinden und lesen zuerst den hebräischen Text und parallel dazu den jiddischen.<br />

Sprecherin: Lia Martyns Spezialität ist die jiddische Literatur. Ihre Blüte mit zahllosen<br />

Romanen, Erzählungen und Theaterstücken, einer Fülle von Zeitungen und


Seite 5<br />

Zeitschriften erreichte ihren Höhepunkt in den zwanziger Jahren des vergangenen<br />

Jahrhunderts. Keine Gattung, die es nicht gegeben hätte – von der Satire bis hin zur<br />

experimentellen Lyrik. Das meiste davon ist längst in Vergessenheit geraten. Nur<br />

wenige erinnern sich heute an den Nobelpreisträger von 1978, den<br />

jiddischsprachigen Autor Isaak Bashevis Singer [aisäk ba‘scheevis singe]<br />

O-Ton 7_CM_Literatursprache<br />

Ich glaube nicht, dass es in der Geschichte je eine Zeit gab, wo es so eine große<br />

Buchpublikation gab. Und viele der Überwanderer aus der Sowjetunion haben an<br />

Hochschulen gelernt und alles auf Jiddisch. Es gibt also kein Unterrichtsbuch, sei es<br />

Chemie, Physik oder Geschichte, welches nicht auf Jiddisch geschrieben wäre. Also<br />

das Jiddische war in dieser kurzen Zeit eine anerkannte jüdische Sprache.<br />

Sprecherin: Die Geschichte vom millionenfachen Mord an den europäischen Juden<br />

und damit der fast völligen Auslöschung der jiddischen Kultur ist bekannt. Doch auch<br />

lange vor der Shoah [‘scho-aa] musste das Jiddische als Sprache aus ganz anderen<br />

Gründen um Anerkennung ringen. Assimilierte Juden aus der Oberschicht<br />

orientierten sich jeweils an der Hochsprache und lehnten das aus ihrer Sicht vulgäre<br />

Idiom der Schtetl-Bewohner ab. Der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn schrieb<br />

im Jahre 1782:<br />

Zitator:<br />

"Ich fürchte, dieser Jargon hat nicht wenig zur Unsittlichkeit des<br />

gemeinen Mannes beigetragen."<br />

Musik 2 Chor oder „Masel“ oder „Brider“<br />

O-Ton 8_JG_Singsang<br />

Die jüdische Sprache ist sehr melodisch. Sehr, sehr. Man spricht nicht einfach so<br />

einen Satz, sondern es geht mit Melodie nach unten und nach oben. So wie bei<br />

Gebeten in der Synagoge – (singt vor) – es gibt Melodie für jeden Satz. Genau so ist es<br />

bei Gesprächen. Na, wu gajstu, und wos machstu und wie arbetstu und wie gejt es<br />

deiner Familie, Mischpoche? Immer solche Melodien, das ist rein jüdische Sprache.<br />

O-Ton 9_AG_fasziniert<br />

Das, was mich besonders beeindruckt am Jiddischen, ist die Fähigkeit, Emotionen zu<br />

transportieren, Dinge auszudrücken, die im Hochdeutschen oder in anderen


Seite 6<br />

Sprachen umschrieben werden müssen und dadurch zwangsläufig sehr nüchtern,<br />

sehr trocken werden.<br />

Sprecherin: Arnold Groh und Jossif Gofenberg rühmen die Freiheiten, die das<br />

Jiddische bietet. Andere sehen und sahen die fehlende Standardisierung von<br />

Grammatik, Schreibung, Umschrift und Aussprache aber eher als Mangel an. So<br />

gründete der Sprachwissenschaftler Max Weinreich im Jahre 1925 in der<br />

litauischen Hauptstadt Vilnius das „Yidisher Visnshaftlekher Institut“ – YIVO<br />

[jidischer wissenschaftlecher Institut – Jiwo]. Hier wurde die jiddische<br />

Kulturgeschichte, die Sprache und Literatur erstmals systematisch gesammelt<br />

und beschrieben. 1940 wurde der Sitz des YIVO nach New York verlegt.<br />

O-Ton 10_AG_YIVO<br />

Das, was der Duden für das Hochdeutsche ist, das versucht das YIVO eben mit<br />

seinem standardisierten Jiddisch zu machen, auch mit Standardumschriften, und<br />

damit tut man aber dem Jiddischen Gewalt an. Es ist nichts, was ich so billigen<br />

kann. Jiddisch hat etwas Anarchisches und wenn wir hier in unserem<br />

Jiddischkreis manchmal Sprecher aus verschiedenen Regionen hatten, aus dem<br />

Baltikum, aus der Ukraine, aus Polen und aus verschiedenen Regionen Polens,<br />

dann haben sich die Leute schon gestritten: nein das sagt man aber anders! Aber<br />

das gehört eben dazu. Man versteht sich, man spricht aber schon unterschiedlich.<br />

Sprecherin: Der Streit darum, ob es ein Hoch- oder Standardjiddisch geben kann<br />

und, wenn ja, wie es aussehen und klingen soll, wird lebhaft und nicht ohne<br />

Idealisierungen und Projektionen geführt. Die Potsdamer Literaturwissenschaftlerin<br />

Lia Martyn widerspricht jedenfalls der These, dass es im Jiddischen keine festen<br />

Regeln gebe:<br />

O-Ton 11_CM_JIWO<br />

Es gibt sehr viele Ideologien um das Jiddische herum. Eine davon ist, dass es<br />

keine Regelhaftigkeit besitzt. Das ist vollkommen falsch und hat auch nicht nur<br />

primär mit dem YIVO zu tun. Im Deutschen wäre es auch so, wenn man sagen<br />

wollte: Ja es gibt im Deutschen keine Grammatik. Es wäre unvorstellbar. Und<br />

genauso gibt es Regeln, wie die Hochsprache des Jiddischen auszusehen hat.


Seite 7<br />

Sprecherin: Tatsächlich ist die Universität heute der Ort, an dem sich auch die<br />

jüngere Generation mit Jiddisch beschäftigen kann. Trotz aller Kritik an der<br />

wissenschaftlichen Standardisierung der jiddischen Sprache: Grammatiken und<br />

Wörterbücher, die auch historische und regionale Unterschiede berücksichtigen,<br />

sind der einzige Weg, um das Jiddische - über die orthodoxen Milieus in Israel und<br />

den USA hinaus - am Leben zu erhalten und die Schätze dieser Kultur zu<br />

erschließen.<br />

O-Ton 12_CM_Klassiker<br />

Viele können die Klassiker nicht mehr auf Jiddisch lesen, auch die<br />

Muttersprachler, weil es sehr schwieriges und kompliziertes Jiddisch ist, d.h. es<br />

ist lesen eingeschränkt, was jiddische Literatur anbetrifft. Außerdem sind die<br />

Texte auch oft zu säkular, so dass sie auch deswegen nicht gelesen werden. Und<br />

deshalb braucht es auch den Unterricht an der Universität, dass man diese Texte<br />

also quasi weiterhin liest und das kulturelle Erbe der Ashkenazim, der<br />

osteuropäischen Juden, auf diese Weise würdigt und wahrt.<br />

Sprecherin: In seiner Nobelpreisrede meinte Bashevis Singer:<br />

Zitator:<br />

"Jiddisch ist eine Sprache des Exils, ohne Land, ohne Grenzen, ohne<br />

Unterstützung irgendeiner Regierung, eine Sprache, die keine Wörter<br />

für Waffen, Munition, Manöver oder militärische Taktik besitzt."<br />

Sprecherin: Lia Martyn hält diese Behauptung für einen Mythos:<br />

O-Ton 13_CM_Waffen<br />

Also, das kann ich leider nicht bestätigen. Es gibt für jede Waffe ein Wort, eben<br />

weil es auch immer wieder Widerstand und Kampf gab.<br />

Sprecherin: Sprache ist ein lebendiges Medium. Und an der Diskussion um Klischees<br />

und Charakter des Jiddischen beteiligen sich nicht nur Muttersprachler , sondern<br />

auch eine wachsende Zahl von Studenten. Dreißig junge Menschen sitzen inzwischen<br />

in Lia Martyns Sprachkurs. Und Jossif Gofenberg hat mit seinem Chor bereits über


Seite 8<br />

160 jiddische Lieder einstudiert. – Von einer neuen Blüte des Jiddischen zu sprechen,<br />

wäre übertrieben; aber spürbar ist doch das wachsende wissenschaftliche und<br />

mediale Interesse – in Berlin und anderswo. Denn Jiddisch ist eine transnationale<br />

Sprache; sie wird in vielen Weltgegenden und auf allen Kontinenten gesprochen,<br />

verstanden - und gesungen.<br />

Musik 3 Gofenberg Chor [mit Schluss]

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